Christine Heuer: Ist Venezuela gescheitert? Gibt es einen Ausweg? – Fragen jetzt an Klaus Bodemer vom GIGA-Institut für Lateinamerika-Studien in Hamburg. Guten Morgen, Herr Bodemer.
Klaus Bodemer: Guten Morgen.
Heuer: Sie haben hin und wieder Kontakt nach Venezuela. Das ist ja schwierig genug, Menschen dort zu sprechen. Wenn Sie das tun, was hören Sie? Wie ist die Stimmung in dem Land?
Bodemer: Na ja, es gibt ja diesen Spruch, Totgesagte leben länger, und die Venezolaner sind seit Jahren gewohnt, mit einer massiven Wirtschaftskrise umzugehen, und haben dabei eine bewundernswerte Überlebensfähigkeit an den Tag gelegt. Man arrangiert sich von Tag zu Tag. Keiner traut mehr dem anderen, die Opposition ist zerstritten und man muss schauen, dass man den nächsten Tag erlebt.
Heuer: Und viele versuchen, den nächsten Tag dann anderswo zu erleben. Millionen Venezolaner fliehen, wir haben das gerade gehört. Erlebt Südamerika tatsächlich seinen größten Exodus in der Geschichte?
Bodemer: Das ist sicher der größte Exodus der letzten Jahrzehnte. Über zwei Millionen haben das Land verlassen, darunter mit auch die Best ausgebildeten. Das lief in der ersten Phase relativ ruhig, aber inzwischen ist eine Situation erreicht, dass zum Beispiel der ecuadorianische Präsident eine Konferenz von 13 Staaten einberufen muss, weil die Nachbarländer – das sind vor allem Brasilien und Kolumbien – mit der Situation nicht mehr fertig werden. Es kommt auch zu Gewaltexzessen inzwischen und zu Protesten der einheimischen Bevölkerung.
"Am meisten betroffen ist das Nachbarland Kolumbien"
Heuer: In Brasilien gab es ja schon Angriffe auf Flüchtlinge. Und in der Tat: Die Frage wollte ich Ihnen stellen. Sind die Nachbarstaaten überfordert? Und wenn das so ist, woran liegt denn das?
Bodemer: Am meisten betroffen ist sicher natürlich das Nachbarland Kolumbien. Man muss bedenken, wir haben eine Grenze von über 2.000 Kilometern zwischen Venezuela und Kolumbien. Die Kolumbianer haben zunächst sehr großzügig reagiert und haben geholfen. Aber inzwischen ist eine Situation erreicht, wo das Land das einfach nicht mehr verkraftet.
Heuer: Weil die Nachbarstaaten selber arm sind, oder weil die auf so was gar nicht vorbereitet sind, weil das bisher nicht so vorgekommen ist?
Bodemer: Man war sicherlich vorbereitet. Es gab ja in den letzten Jahren einen regen Austausch zwischen Kolumbien und Venezuela, auch Handelsaustausch. Aber inzwischen ist eine Situation erreicht, dass das nicht mehr einfach so gemanagt wird. Man muss dazu sagen, dass die venezolanische Regierung keine Gelegenheit ausgelassen hat, um das Nachbarland zu beschimpfen, den dortigen Präsidenten.
In Brasilien haben wir eine ähnliche Situation. Das geht aber inzwischen weiter. Inzwischen gibt es sogar schon Probleme, dass die Hauptmigranten in Spanien zum Beispiel nicht mehr aus Nordafrika kommen, sondern auch aus Venezuela.
"Der Erbfeind sind internationale Organisationen"
Heuer: Wer kann denn helfen, Herr Bodemer? Kann Südamerika dieses Problem alleine meistern, oder muss da jemand von außen dazukommen?
Bodemer: Es gibt seit Jahren Versuche von lateinamerikanischer Seite über die Organisation Amerikanischer Staaten. Es gab Versuche sogar bis zum Papst hin. Es gab Versuche von Ex-Präsidenten, dem Land zu helfen. Aber man arbeitet ja in der venezolanischen Regierung mit Projektion. Der Erbfeind, die Inkarnation des Bösen sind internationale Organisationen, auch die OAS, eigentlich die Organisation, die dafür zuständig war.
Heuer: Die Organisation der Südamerikanischen Staaten; das müssen wir noch mal sagen.
Bodemer: Genau. - Die sind bisher alle gescheitert. Das lag sicher auch an Fehlern, wie diese Versuche aufgezäumt wurden, aber im Grunde war es einfach so: Die Regierung ist resistent und verspricht immer wieder, jetzt wird es besser, das aber schon seit Jahren.
Heuer: Haben eigentlich Nichtregierungsorganisationen irgendeine Chance, den Menschen in Venezuela oder auch in den Flüchtlingsländern zu helfen?
Bodemer: Das ist schwierig geworden. Inzwischen ist die Gesellschaft so polarisiert, dass keiner mehr dem anderen traut. Und wir haben natürlich auch einen sehr massiven Repressionsapparat. Spannend wird sein, wenn man nach vorne guckt, wie das Militär reagiert. Die haben sich bisher zurückgehalten, weil sie ja auch an den Privilegien partizipieren. Es hat rumort, es gab angeblich ein Komplott, einen Mordversuch in den letzten Tagen durch bewaffnete Drohnen. Das könnte aber auch inszeniert sein. Da ist die Nachrichtenlage sehr offen. Aber das Verhalten des Militärs wird wahrscheinlich entscheiden, wie es weitergeht.
Heuer: Das ist interessant, Herr Bodemer. Glauben Sie, dass das Militär sich abwendet von Nicolas Maduro?
Bodemer: Es gab schon mehrfach Versuche, die aber gescheitert sind in den letzten Jahren, Rebellion und andere Versuche. Aber das ist ja eine alte Erfahrung in Lateinamerika in solchen Situationen des inzwischen ja wohl wirklich totalen Chaos, wo nichts mehr funktioniert. Die einzigen, die noch einigermaßen stabil sind, ist das Militär, und insofern ist es schon spannend, wie das Militär reagiert.
Heuer: Sie halten einen Putsch für möglich?
Bodemer: Es könnte sein, dass eine Fraktion einen Putsch ergreift, aber das ist wirklich völlig offen. Was sinnvoll wäre – da gibt es ja auch Beispiele aus der Geschichte -, dass das Land einen Unterstützungskredit vom Währungsfonds bekommt. Das ist auch schon angeboten worden. Aber da gilt dasselbe: Der Währungsfonds kommt gleich nach den USA als Hauptfeind.
"Die Menschen haben auch schlicht Angst"
Heuer: So wie die Situation ist: Es ist ja eine politische Tyrannei, es ist bitterste Armut, es gibt keine Medikamente, keine medizinische Versorgung, oder jedenfalls viel zu wenig. Sie selber haben jetzt mehrfach gesagt, da traut ja keiner keinem mehr in dieser Situation in Venezuela. Da fragen sich ja manche oder wundern sich, dass da kein Bürgerkrieg ausgebrochen ist. Droht so etwas in dem Land?
Bodemer: Die Menschen haben auch schlicht Angst. Man darf nicht vergessen, um Beispiel die Stadt Caracas liegt an der Spitze der Gewaltkriminalität. Die Leute haben einfach Angst. Es gab ja Versuche und die wurden blutig niedergeschlagen, vor einem Jahr zum Beispiel.
Heuer: Darüber haben wir ja ausführlich berichtet.
Bodemer: Man bleibt zuhause und wartet, was passiert. Zurzeit ist es so: Nicht mal der Generalstreik von gestern hat funktioniert, weil es schlicht keine Transportmittel gibt oder die Transportistas das Benzin nicht mehr bezahlen können. Man muss überlegen, Venezuela führt für Hunderttausende Benzin aus den USA ein, weil sie nicht mehr in der Lage sind, ihr Öl selbst zu raffinieren.
Heuer: … und das erdölreichste Land. – Ist Venezuela ein gescheiterter Staat?
Bodemer: Ja, da muss man vorsichtig sein. Ein gescheiterter Staat? – Es ist zumindest eine gescheiterte Regierung, und das hat nicht erst jetzt angefangen. Die Grundlagen wurden schon unter Chavez gelegt. Er hat nicht mehr investiert in die Devisenquelle, nämlich die Erdölproduktion. Die ist völlig verrottet. Die Produktion ist auf einen Bruchteil zurückgegangen. Es gab viele politische Fehler, massive Korruption, Günstlingswirtschaft. Da kommt eine ganze Reihe an Fehlern zusammen. Ob man da von einem gescheiterten Staat spricht? – Auf jeden Fall ist es eine gescheiterte Regierung.
"Es ist eigentlich nichts mehr da zum Verteilen"
Heuer: Die Opposition gegen Maduro, über die haben wir gesprochen. Hat er eigentlich noch Anhänger?
Bodemer: Die hat er sicher noch, aber natürlich zunehmend weniger, weil natürlich inzwischen auch diejenigen, die an den Privilegien teilgenommen haben, heute feststellen: Es ist eigentlich nichts mehr da zum Verteilen. Es gibt noch eine Kerntruppe, sicher. Es gibt die sogenannten Collectivos. Das sind eine Art Selbsthilfetruppen. Aber im Grunde ist die Anhängerschaft doch rapide zurückgegangen. Aber die, die Anhänger sind, die fragen sich natürlich, was kommt hinterher, wird man vielleicht sogar mit uns abrechnen. Die Opposition ist total zerstritten. Das ist vielleicht das Hauptübel, warum es überhaupt keine Chance gibt auf eine Verbesserung.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.