Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan versuche, den Konflikt zu eskalieren, um innenpolitisch etwas zu gewinnen, betonte Stegner im Interview mit dem Deutschlandfunk. Auf europäischer Ebene müsse man demgegenüber zu einer einheitlichen Haltung finden.
Die Niederlande hatten dem türkischen Außenminister Mevlüt Cavusoglu am Wochenende die Einreise verweigert und eine weitere Ministerin ausgewiesen. Dänemark lud Ministerpräsident Binali Yildirim aus, der einen offiziellen Besuch in Kopenhagen geplant hatte. In Schweden und in Frankreich konnten dagegen Auftritte türkischer Politiker stattfinden. Die französische Opposition warf Präsident Francois Hollande vor, damit die europäische Solidarität zu brechen. Außenminister Jean Marc Ayrault betonte dagegen, Frankreich habe sich rechtsstaatlich verhalten.
Das Interview in voller Länge:
Doris Simon: Hysterische Angriffe türkischer Regierungsmitglieder gegen eigentlich befreundete Regierungen und Partner in Europa. Da wird die Nazi-Keule ausgiebig geschwungen und auch sonst wüst geschimpft. Es geht um die Wahlkampfauftritte türkischer Regierungsmitglieder in türkischstämmigen Gemeinschaften in Westeuropa. Die Niederlande haben am Wochenende zuletzt zwei solcher Auftritte verhindert.
"Wir haben eine rote Linie gezogen." So hat der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte reagiert auf die hysterischen Verbalattacken und Angriffe aus Ankara. – Ralf Stegner ist stellvertretender Parteivorsitzender der SPD. Guten Morgen!
Ralf Stegner: Guten Morgen, Frau Simon.
Simon: Herr Stegner, ist es nicht höchste Zeit, dass wir auch in Deutschland sagen, es reicht, Schluss mit Wahlkampfauftritten türkischer Minister?
Auf das Spiel mit der Eskalation nicht einlassen
Stegner: Na ja, kein vernünftiger Mensch braucht oder will Wahlkampfauftritte von türkischen Ministern in Deutschland. Die sind übrigens nach türkischem Recht auch verboten, wenn ich das richtig weiß. Und sich auf die Meinungsfreiheit hier zu berufen, wenn man selbst Oppositionelle ins Gefängnis steckt, das passt nicht zusammen. Insofern, finde ich, ist das etwas, was niemand braucht.
Auf der anderen Seite muss man bei der Reaktion natürlich auch darauf achten, dass man nicht das Spiel von Erdogan spielt, sprich Provokation und entsprechende Gegenreaktionen. Das ist wahrscheinlich das, was sich Herr Erdogan wünscht. Denn man kann ja doch erkennen, dass offenbar die Verfassungsabstimmung, die es da in der Türkei gibt, nicht so läuft, wie er sich das vorstellt, und dass er fürchtet, dort zu verlieren, und deswegen versucht er, es zu eskalieren, um innenpolitisch was zu gewinnen, und auf das Spiel darf man sich nicht einlassen. In den Niederlanden ist auch Wahlkampf, das kann man ja auch merken. Die Geschichte mit den Hunden und so weiter, das waren sicher Bilder, die Herr Erdogan sich gewünscht hat. Aber es muss natürlich trotzdem Klarheit geben, möglichst auch eine europäische Einheit, dass man sich das nicht bieten lässt und dass man auch diese NS-Vergleiche, die ja wirklich aberwitzig sind, dass man die zurückweist und da eine klare Haltung hat.
Simon: Herr Stegner, Sie nennen selber die NS-Vergleiche. Es gab auch ganz konkrete Drohungen wie jetzt gegen die Niederländer mit Wirtschaftssanktionen. Die haben jetzt was getan. Die Bundesregierung und auch Sie gerade sind entrüstet, aber sagen, wir tun besser nichts. Kann man das einfach so durchgehen lassen, hinnehmen?
"Das wäre wie ein Wahlaufruf zugunsten von Herrn Erdogan"
Stegner: Nein. Ich bin nicht dafür, nichts zu tun, sondern man muss sich schon klar ausdrücken. Wer hier gegen Gesetze verstößt zum Beispiel, der kann hier auch nicht auftreten. Aber ich glaube, die bilateralen Beziehungen mit der Türkei, die haben mehrere Seiten. Die Türkei profitiert übrigens auch davon. Zum Beispiel will sie Wirtschaftshilfen haben und es kann so was ja nicht geben, wenn man sich umgekehrt anders verhält. Aber die Türkei ist auch ein NATO-Partner und ich sage nur, man darf das Spiel nicht spielen, das sich Herr Erdogan wünscht: Die eskalieren und wir gehen auf die Provokation ein und springen über jedes Stöckchen. Aber Klarheit und auch Härte im Umgang, die muss schon sein. Nichts tun ist falsch. Ich darf daran erinnern: Deniz Yücel sitzt dort im Gefängnis. Das ist ein deutscher Staatsbürger. Die Türkei bewegt sich in atemberaubender Geschwindigkeit Richtung autoritärer Staat. Man muss mit denen schon sehr klar und deutlich reden. Ich halte nur nichts davon, dieses Provokationsspiel mitzuspielen öffentlich, denn bei uns herrscht Meinungsfreiheit, anders als in der Türkei. Bei uns wird man nicht eingesperrt, wenn man seine Meinung sagt, und das muss schon auch im Unterschied deutlich sein. Und schon gleich gar nicht darf man hier etwas tun, was die CSU vorschlägt und auch die CDU, dass wir das selbst innenpolitisch missbrauchen, zum Beispiel die doppelte Staatsbürgerschaft hier wieder abzuschaffen und die, die hier geboren sind, ausländische Eltern haben, zu schikanieren. Das wäre ja geradezu wie ein Wahlaufruf zugunsten von Herrn Erdogan. Solche Fehler darf man, glaube ich, wirklich nicht machen, sondern man muss klar und deutlich mit denen reden, so wie das übrigens Martin Schulz mit Herrn Erdogan schon mehrmals getan hat.
Simon: Aber gerade bei der doppelten Staatsbürgerschaft sagt Ihr eigener Parteifreund Serdar Yüksel aus Nordrhein-Westfalen, das kann er derzeit überhaupt niemandem empfehlen aus der türkischstämmigen Community, weil der ist ja, sieht man am Fall Yücel, nicht zu schützen in der Türkei.
Stegner: Das ist nicht der Kern. Die doppelte Staatsbürgerschaft haben wir ja hier auch für Kinder, die hier geboren sind, ausländische Eltern haben. Ich glaube, in der Vergangenheit hat es durchaus auch Fehler gegeben. Die Türken wurden als Kümmeltürken beschimpft, wir haben sie nicht wirklich integriert. Das sind jetzt integrierte Kinder und denen die Staatsbürgerschaft wegzunehmen, hilft doch überhaupt niemandem. Im Gegenteil: Es befördert die Radikalisierung, die sich Herr Erdogan wünscht. Nebenbei bemerkt müssen wir trotzdem darauf drängen, dass im Fall von Herrn Yücel es da eine konsularische Vertretung gibt, und darüber muss man mit der Türkei sehr, sehr deutlich und klar reden. Aber miteinander reden ist schon erforderlich. Es nützt nichts, wenn die Beziehungen hier immer weiter eskalieren. Egon Bahr hat mal gesagt, man muss mit denen reden, die die eigenen Werte nicht teilen. Sonst sind wir irgendwann mit Norwegen und Island alleine. Das geht nicht. Aber man muss klar bleiben und darf nicht nachgeben und darf sich auch die Standards nicht abhandeln lassen von Herrn Erdogan oder sonst jemandem.
Simon: Herr Stegner, Sie haben ja gerade selber die bilateralen Hilfen erwähnt, das was Deutschland an die Türkei gibt. Wo wären Sie denn dafür, oder unter welchen Umständen sollten die denn jetzt gekürzt oder eingestellt werden?
Stegner: Na ja, es kann nicht Leistung ohne Gegenleistung geben. Wenn hier Leute, die nur ihre journalistische Arbeit machen, ins Gefängnis gesteckt werden, wenn Deutschland als Nazi-Staat beschimpft wird, dann kann es nicht in der Gegenleistung sozusagen Wirtschaftshilfen geben. Das ist doch klar. Darüber muss man deutlich reden, nicht nur über Mikrofone, sondern vordringlich in den Gesprächen, die miteinander geführt werden, um klar zu machen, wir schauen hier nicht tatenlos zu, dass sich ein Land in die Autokratie entfernt und Deutschland einfach zahlen soll. Das wird nicht passieren. Ich plädiere allerdings auch dafür, dass wir versuchen, in Europa eine gemeinsame Haltung zu finden. Die wäre sowieso notwendig, wenn ich mir Europa so anschaue, nicht nur gegenüber der Türkei, sondern generell brauchen wir mehr Gemeinsamkeit in Europa.
Simon: Aber bei den bilateralen Hilfen könnten wir in Deutschland zum Beispiel auch selber was machen.
Ein Sieg Erdogans beim Verfassungsreferendum ist noch nicht entschieden
Stegner: Das können wir und in der Tat, wir sollten das auch tun, wenn das in der Türkei so weitergeht. Noch mal: Mein Eindruck ist, dass das Verfassungsreferendum keineswegs zugunsten von Herrn Erdogan entschieden ist.
Simon: Das heißt, Sie wollen bis später warten?
Stegner: Na das ist ja nicht später; das ist schon in wenigen Wochen. Aber man sollte die Gespräche führen und sagen, es kann keine Wirtschaftshilfen geben, wenn wir hier als Nazi-Land beschimpft werden und wenn deutsche Staatsbürger in türkischen Gefängnissen sitzen, nur weil sie ihren Job machen.
Simon: Sie sprachen gerade die europäische Ebene an. Die Kommission hat ja angefangen, Programme für die Türkei im Rahmen der Vorbeitrittshilfen jetzt einzustellen. Halten Sie ein Ende der Beitrittsverhandlungen auch für überfällig?
Stegner: Ich glaube, diese Beitrittsverhandlungen gehen ja genau über die Frage der demokratischen Grundrechte.
Simon: Und man kommt nicht weiter.
Stegner: Das ist richtig und natürlich kann die Türkei niemals aufgenommen werden, wenn sie sich so entwickelt, wie sie das gerade tut. Aber miteinander zu reden, miteinander zu verhandeln, ist meiner Meinung nach immer wichtiger als zu glauben, man bricht jetzt die Beziehungen ab, oder es wird diskutiert, den Standort in Incirlik zu verlassen. Die Türkei ist NATO-Mitglied, wir müssen ein Interesse haben, dass sich die Verhältnisse in der Türkei wieder verbessern. Darauf müssen wir hinwirken, ohne irgendwie nachzugeben. Wir können uns die Standards nicht abhandeln lassen. Es bleibt ein Skandal, dass ein deutscher Journalist dort im Gefängnis sitzt, der nur seinen Job gemacht hat.
Simon: Was halten Sie eigentlich von der Idee – die kommt aus der CSU, aber auch von der Linken, die Bundeswehr aus Incirlik abzuziehen?
Stegner: Ich glaube, dass das keine kluge Entscheidung ist, das jetzt ganz schnell zu machen. Aber es gibt natürlich auch Standortalternativen. Man könnte auch nach Jordanien oder nach Griechenland gehen. Man kann das schon auch anders machen. Aber die Türkei ist NATO-Partner und noch mal: Deeskalation nützt niemandem am Ende, sondern wir müssen für eine Verbesserung kämpfen, das aber mit Festigkeit und Konsequenz. Ich bin überhaupt nicht dafür, nichts zu tun und dem Erdogan die Dinge durchgehen zu lassen. Aber noch mal: Nur auf Provokation jeweils mit Gegenreaktion zu antworten, das ändert noch nichts.
"Die amerikanische Demokratie überlebt auch jemand wie Trump"
Simon: Herr Stegner, Sie haben vor 25 Jahren Ihren Doktor gemacht über theatralische Politik Made in USA, das Präsidentenamt im Spannungsfeld von moderner Fernsehdemokratie und kommerzialisierter PR-Show. Das hilft Ihnen vielleicht beim Blick auf die Türkei, aber ganz sicher beim Blick in die USA. Die Kanzlerin reist ja heute Abend nach Washington. Was erwarten Sie von ihr? Wie muss sie gegenüber Donald Trump auftreten?
Stegner: Damals ging es um Ronald Reagan und dass das noch mal übertroffen werden könnte, und zwar ziemlich krass von Donald Trump, das hätte ich nicht erwartet. Ich glaube, dass es ganz wichtig ist, deutlich zu machen, dass wir selbstbewusst bei unseren eigenen Werten bleiben, und dass es sehr wichtig ist, das transatlantische Verhältnis, dass wir uns nicht zu Antiamerikanismus verleiten lassen, denn die amerikanische Demokratie ist stark und sie überlebt auch jemand wie Donald Trump, aber dass wir zum Beispiel nicht hinnehmen, dass jetzt hier Handelsbeschränkungen und Zölle eingeführt werden sollen, dass wir Protektionismus nicht akzeptieren, dass wir es für falsch halten, Mauern zu bauen oder pauschal Einreiseverbote zu verhängen, all diese Sachen, die der Trump da macht. Da muss deutlich sein, wir stehen zu unseren Werten und wir wenden uns gegen Nationalismus und Rechtspopulismus, den wir ja auch in Europa sehen, nicht nur bei Donald Trump.
Simon: Und Sie gehen davon aus, dass Angela Merkel das auch so klar sagen wird?
Stegner: Ich hoffe das. So ganz sicher bin ich mir da nicht. Sie neigt ja nicht dazu, sich besonders klar auszudrücken, und auch da, finde ich, macht das Martin Schulz deutlich klarer. Man muss den Amerikanern zum Beispiel auch sagen, wenn ihr Handelsbeschränkungen einführt, schadet ihr euch selbst. Die Deutschen zum Beispiel haben mehr…
Simon: Das wird ja schon gesagt und schon mehrfach.
Dem Rechtspopulismus in aller Welt etwas entgegensetzen
Stegner: Die Deutschen haben mehr Arbeitsplätze in den USA, zirka 110.000 in der Automobilindustrie, Zuliefererindustrie, als hier in den Bereichen, die mit dem Export nach Amerika beschäftigt sind. – Nein, ich glaube, man muss wirklich deutlich machen, dass auch dieses Europa handlungsfähig und nicht von gestern ist. Zurzeit gibt es eine Tagung der Progressive Alliance hier in Berlin, sozialdemokratischer Parteien aus aller Welt, wo wir uns bemühen, deutlich zu machen, dass dem Rechtspopulismus und dem Nationalismus in aller Welt was entgegengesetzt wird. Das müssen wir tun und das ist übrigens auch der Punkt: Die Amerikaner wollen, dass wir unser Militärbudget deutlich erhöhen um 25 Milliarden Euro. Das wollen wir nicht, schon gleich gar nicht zulasten sozialer Leistungen. Also wir haben schon noch ein paar Unterschiede zu Frau Merkel.
Simon: Zum Wahlkampf kommen wir an einer anderen Stelle. Danke für heute Morgen. Ralf Stegner war das, der stellvertretende Parteivorsitzende der SPD.
Stegner: Sehr gerne.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen..