Ob die Pest, Syphilis oder Corona, stets haben Seuchen den Glauben beeinflusst. Mal stärkten sie die Volksfrömmigkeit, mal nährten sie religiöse Zweifel. Heute nahezu vergessen ist eine Krankheit namens Antoniusfeuer – eine Lebensmittelvergiftung, verursacht durch verunreinigtes Getreide. Im Mittelalter führte das Antoniusfeuer immer wieder zu Epidemien mit vielen Toten. Und zum Aufblühen des Antoniter-Ordens. Ursprünglich war das ein Pilger-Orden, benannt nach dem ägyptischen Mönch Antonius der Große, der auch als "Vater der Mönche" bezeichnet wird.
"Diese Gemeinschaft hat sich dann zunehmend spezialisiert, als das Antoniusfeuer ausbrach. Und so kam aus der Pilgerbewegung das Antoniusfeuer ins Zentrum", sagt der Grazer Theologe Hans-Ferdinand Angel, der sich seit langem mit den Antonitern beschäftigt. Die Laienbruderschaft entstand Ende des 11. Jahrhunderts in Frankreich unweit von Grenoble. Rasch konzentrierten sie sich auf die am Antoniusfeuer Erkrankten. In Europa gründeten die Antoniter mehrere hundert Ordenshäuser mit zugehörigen Spitälern.
"Mein Gott, du schaust ja genauso aus wie ich"
"Wer hereinkam, der kam zunächst vor den Altar in der Kirche", sagt Angel. "Wer so etwas erleben möchte, der wird in Colmar im Museum Unterlinden den Isenheimer Altar einmal anschauen oder gesehen haben. Und dann sieht man: Dieser Christus, der dort am Kreuz hängt, ist genau von dieser Krankheit gezeichnet. Also ein Kranker kam herein und sieht: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, aber du schaust ja genauso aus wie ich."
Als die Menschen die Mutterkornvergiftung als Ursache des Antoniusfeuers erkannt hatten, verschwand die Krankheit nach und nach. Ebenso verschwand der Antoniter-Orden, unter anderem weil seine Hauptaufgabe weggefallen war. Aber auch wegen eigener Misswirtschaft und wegen der Umwälzungen der Reformation.
"Krankheit als Strafe Gottes"
Die Geschichte der Antoniter zeigt: Krankheit und Glaubensprozesse stehen in einer interessanten Wechselwirkung, sagt Hans-Ferdinand Angel, Professor für Katechetik und Religionspädagogik an der Fakultät für Katholische Theologie der Universität Graz: "Es gibt im Laufe der Christentums-Geschichte, beziehungsweise überhaupt der jüdisch-christlichen Tradition, immer auch die Vorstellung, dass Krankheit ein Zeichen dafür ist, dass etwas mit einem nicht stimmt. Wenn man das psychisch anschaut, sagt man, da sind Sachen schiefgelaufen, deswegen ist es vielleicht eine Strafe Gottes. Die Idee, dass Krankheit eine Strafe Gottes ist, hängt mit einer Vorstellung zusammen: Ist der Apfel innen faul, macht sich das äußerlich auch bemerkbar."
Auch in der gegenwärtigen Pandemie gibt es religiöse Gruppierungen, die Corona als Vergeltung für grassierenden Unglauben betrachten. Angel: "Der Gedanke ‚Strafe Gottes‘ klingt für uns heute sehr schrecklich, er war aber im Grunde genommen ein Fortschritt. Denn an sich hatten die Menschen geglaubt, wenn ich krank werde, verlässt mich Gott. Und Gott verlässt einen nicht, sondern er straft nur, also insofern tröstlich. Im Laufe der Jahrhunderte ist der Gedanke, Gott straft, natürlich sehr negativ geworden."
Glaube an gesichertes Wissen
Der katholische Theologe erforscht Glauben einerseits als religiöses und zugleich als säkulares Phänomen. Mit Blick auf die schiere Menge an verfügbaren Informationen müssten die Menschen bei vielen Themen einfach glauben, dass es sich dabei tatsächlich um gesichertes Wissen handle. Die Gegenwart bezeichnet Hans-Ferdinand Angel gar als "Epoche des Glaubens":
"Angesichts der Informationsflut, vor der ja auch Politiker, Mediziner usw. stehen, bleibt Glaube immer ein gewisser Bestandteil. Wie gehe ich mit Informationen um, die ich im Moment nicht selber überprüfen kann? Ich kann nicht überprüfen, ob der Erdmittelpunkt heiß ist, weil ich dort nie hinkommen werde. Ich glaube es, weil ich glaube, dass es diejenigen, die das behaupten, wissen. Das meine ich mit einem Zeitalter des Glaubens, und das hat zunächst einmal nichts mit Religion zu tun, sondern mit der Frage: Wie verhält sich Glauben und Wissen zueinander?"
"Der Mensch kann nicht anders: Er muss glauben"
In einem interdisziplinären Projekt untersucht der Grazer Theologe Glaubensvorgänge, gemeinsam mit internationalen Fachleuten etwa aus Neurowissenschaften, Psychologie und Wirtschaftswissenschaften. Ihre Kernthese lautet: Der Mensch kann nicht anders: Er muss glauben. Dabei gehe es um funktionale Abläufe im Gehirn. Zwar stehe die Forschung noch relativ weit am Anfang. Zugleich ist Angel überzeugt: So mancher hitzige Streit um den – in Anführungszeichen – "richtigen" Umgang mit der Corona-Pandemie ließe sich sachlicher führen, wenn die Beteiligten besser über Glaubensprozesse Bescheid wüssten. Denn die Frage, ‚Was kann ich glauben‘ stelle sich in Zeiten der Unsicherheit intensiver.
Angel: "Deswegen hat die Pandemie, würde ich vermuten, einen Einfluss darauf, dass wir das Tool im Gehirn, das mit Glauben beschäftigt ist, hochgradig beanspruchen. Wir haben die Idee, der Virus kommt vom Himmel, der Virus wurde von den Chinesen losgeschossen, weiß Gott, welche Ideen dahinterstecken. Und deswegen kann man ganz Unterschiedliches glauben. Und unsere Gesellschaft kann sich anhand dieser Fixierung auf bestimmte Positionen regelrecht spalten."
Erkennen, wie Dissens entsteht
Hier die Verschwörungs-Anhänger, dort die restlos überzeugten Jünger einer bestimmten Wissenschaftsrichtung: Wer einen absoluten Wahrheitsanspruch vertritt, ist selten kompromissbereit. Der Ton wird härter, Gräben werden tiefer. Das alles habe mit den Glaubensprozessen im Gehirn zu tun, sagt der Wissenschaftler. Und sieht hierin einen Ansatz, gesellschaftliche Konflikte zu entschärfen.
"Deswegen wäre es in meinen Augen wirklich ein Fortschritt, wenn wir verstehen würden, wie wir ticken, während solche Glaubensprozesse ablaufen. Aber von meiner Forschung kommend, fehlt die Brücke über diesen Graben, was sind die Glaubensprozesse als dynamische Vorgänge. Wenn wir da besser verstehen, was läuft, werden wir vermutlich in vieler Hinsicht bessere Zugänge zu Problemen haben und vielleicht auch zu anderen Lösungsmöglichkeiten kommen, als wir sie im Moment haben."
Im Prinzip geht es darum, besser zu erkennen, wie Dissens entsteht. Eine inhaltliche Annäherung ist damit allerdings noch nicht verbunden: "Wenn man nicht von vornherein mit einer Verhärtung rangeht, könnte man zeigen, wie diese Vorgänge mit der eigenen Biografie, mit der eigenen Wahrnehmung, aber auch mit dem eigenen Unbewussten zu tun haben. Das wäre ein Fortschritt, denn es würde erkennbar machen, dass es im Moment keinen Sinn ergibt, über die Inhalte zu streiten. Sondern dass ein Zwischenschritt erforderlich ist: Wie bist du dorthin gekommen, wo du jetzt stehst?"
"Der Zweifel ist eingewoben"
In unübersichtlichen Krisenzeiten ist der Wunsch nach Klarheit nachvollziehbar. Deshalb tragen manche ihre Glaubensüberzeugung überaus selbstsicher vor. Hans-Ferdinand Angel hingegen sagt: "Wenn wir Glaubensvorgänge als Prozesse anschauen, ist der Zweifel eingewoben. Die Vorgänge, die uns zu einem bestimmten Glauben führen, sind mit dadurch beeinflusst, dass wir in dieser Zeit unsicher sind. Also Zweifeln und Glauben haben beide Einfluss auf das Endprodukt, das dann ein Glaube ist – der vielleicht nach drei Minuten wieder anders sein kann, weil ein neuer Zweifel auftaucht."
Gewissheiten bleiben also eine vorläufige Angelegenheit. Zumindest was Glauben und den Umgang mit Krankheiten angeht – siehe Antoniusfeuer, siehe Corona.