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Kritik am Teilhabepaket
"Kinder sind keine kleinen Arbeitslosen"

Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband übt grundlegende Kritik am reformierten Bildungs- und Teilhabepaket der Bundesregierung. Es sei absurd, dass bei Kindern von Arbeitslosen das Jobcenter und nicht wie sonst das Jugendamt für die Teilhabe zuständig sei, sagte Schneider im Dlf.

Ulrich Schneider im Gespräch mit Stephanie Gebert |
Kinder beim Klavierunterricht
Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband fordert die Abschaffung des Gutscheinsystems im Bildungs- und Teilhabepaket (picture alliance/ Britta Pedersen/dpa-Zentralbild/dpa)
Stephanie Gebert: Deutschland gilt als reiches Land. Der Wirtschaft geht es gut und die Arbeitslosigkeit ist niedrig. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist: dass in Deutschland etwa jedes vierte Kind in relativer Armut lebt. Hungern müssen diese Kinder meist nicht, aber sie bleiben bei vielem außen vor: beim Sport etwa, weil kein Geld da ist für Fußballschuhe oder beim Besuch im Theater. Abhilfe soll das Bildungs- und Teilhabepaket schaffen. Heute am 1. August wird dieses Gesetz reformiert, denn es gab viel Kritik daran.
Ein Dauerkritiker ist Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband. Ich habe ihn gebeten, wie bei einem guten Feedback-Gespräch, erst mal mit etwas Positivem anzufangen und zu sagen, wo die Reform tatsächlich Verbesserungen bringt.
Ulrich Schneider: Wir haben in Details Verbesserungen. Wenn zum Beispiel der Weg zur Schule, wenn man einen Bus benutzen will oder muss, kostenfrei ist für die armen Kinder, ist das eine Verbesserung. Sicherlich ist auch eine Verbesserung, was den Nachhilfeunterricht anbelangt, dass der nicht von der akuten Versetzungsgefährdung abhängig gemacht wird. Das war ein Riesenmanko, man bekam immer erst vor Versetzung Nachhilfe, und wenn man es wirklich geschafft haben sollte, fiel die Nachhilfe auch gleich wieder weg. Dass man hier in eine pädagogisch vernünftige Reform reinkommt, das ist sicherlich gut. Was diese berühmten 10-Euro-Gutscheine oder jetzt auch 15-Euro-Gutscheine für Sport und Kultur und Teilhabe anbelangt, müssen wir leider sagen: Das wird nicht dazu führen, dass mehr Teilhabe stattfindet.
"Mit 15-Euro-Gutschein kann ich keinen Musikunterricht bezahlen"
Gebert: Warum nicht?
Schneider: Wir haben jetzt nur eine Quote von 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen, die überhaupt diese Gutscheine in Anspruch nehmen, um an Vereinswesen, Musikschulen und so weiter mitmachen zu können. Das hat den Hauptgrund, dass dieses Paket ja ein Zuschusspaket ist, die Eltern müssen die weiteren Kosten selber stemmen. Also wenn ich den Fußballverein zwar über den Gutschein im Beitrag abgedeckt bekomme, dann kommen Fußballschuhe, dann kommt ein Trikot hinzu, dann kommen Fahrten hinzu, die stattfinden, Turnierfahrten und so weiter und so weiter, und dazu fehlt den Eltern schlicht das Geld. Wenn ich mir anschaue eine Musikschule heute, mit einem 15-Euro-Gutschein im Monat kann ich keinen Musikunterricht bezahlen, also weder Klavier, Gitarre noch sonst was. Das heißt, die Eltern müssten wirklich relativ viel draufzahlen, und dafür haben sie einfach nicht das Geld.
Eine "verteufelt schwierige Situation"
Gebert: Aber sie bekommen ja die Unterstützungsleistungen, nehmen wir an Arbeitslosengeld II.
Schneider: Ja, genau, und das reicht leider nicht. Wir haben heute eine neue Studie vorgelegt, in der wir leider feststellen mussten, dass diese Familien, von denen wir reden, also am untersten Einkommenszehntel, es so aussieht, dass diese – salopp formuliert – im Durchschnitt auf Pump leben. Die laufenden Einnahmen – sei es Hartz IV, sei es anderes – decken nicht mal die notwendigsten laufenden Ausgaben. Entweder ist dann ein bisschen Erspartes, muss man drauf zurückgreifen. Wo das nicht ist, werden dann Kredite aufgenommen – Konsumentenkredite, Dispokredite. Es ist also wirklich eine verteufelt schwierige Situation. In der Situation fehlt Eltern meist wenigstens fünf Euro, die man noch draufzahlen könnte – das ist nicht der Fall. Und das ist das Dilemma, und deswegen kann dieses Paket nicht greifen, auch nicht bei den kleinen Verbesserungen, die jetzt angelaufen sind.
"Kinder sind keine kleinen Arbeitslosen"
Gebert: Ein weiterer Vorwurf Ihrerseits war immer die große bürokratische Hürde, also dass Familien sehr viel tun müssen, um an dieses Geld zu gelangen. Jetzt verspricht der Arbeitsminister heute Morgen und auch die Familienministerin, dass die Antragsformulare vereinfacht werden, und wer Arbeitslosengeld II bekommt, der soll auch ganz automatisch diese Hilfe aus dem Bildungs- und Teilhabepaket bekommen. Damit wäre das Problem doch vom Tisch, oder nicht? Sie lachen.
Schneider: Ganz so ist es nicht. Es ist jetzt im Gesetz die Möglichkeit eingeräumt worden, dass man nicht mehr auf alles einzeln einen Antrag stellen muss, also den Schulausflug und den Teilhabegutschein oder Zuschuss aufs Essen, sondern dass man, wenn man Hartz IV beantragt, einen Gesamtantrag stellen kann. Das heißt aber natürlich, dass man trotzdem im Einzelfall, wenn der Gesamtantrag gestellt ist, jetzt noch losrennen muss. Und dann muss man beim Sportverein sich irgendwie ausweisen, dass man dieses Geld dann auch zur Verfügung hat, nachweisen, dass man tatsächlich dort hingegangen ist, also so viel weniger Bürokratie wird es nicht, wie das jetzt im Moment so versprochen wird. Wir sagen auch, das ganze Ding ist von vornherein falsch aufgesetzt, Kinder sind keine kleinen Arbeitslosen, die haben im Jobcenter gar nichts verloren. Im Jobcenter ist auch gar nicht die pädagogische Kompetenz da, um zu sagen, was braucht hier ein Kind, das gehört ins Jugendamt, wie bei allen anderen Kindern auch.
Es ist absurd, dass das Jugendamt für Teilhabe aller Kinder zuständig ist, nur bei Arbeitslosen, da ist dann das Jobcenter zuständig. Das macht für uns keinen Sinn. Wir sagen, schafft diese Gutscheine ab, macht Zielvereinbarungen und vernünftige Jugendhilfeplanungen, vor Ort, und dann wirklich bezuschusst einfach die Verbände, und die sollen dann irgendwann abrechnen, aber lasst das mit den Einzelanträgen und mit der Kopfförderung, sondern geht in Strukturen rein. Das wäre für uns sinnvoll, denn so funktioniert Jugendhilfe.
"Es werden immer Trippelschritte getan"
Gebert: Herr Schneider, es sieht ja aber momentan nicht danach aus, als wäre Ihre Forderung politisch durchsetzbar, deshalb die Frage: Ist dann nicht die Reform, die wir jetzt haben, wenigstens ein sinnvoller Kompromiss?
Schneider: Ach, wir haben jetzt seit zehn, 15 Jahren immer die Situation, dass wir feststellen, wir haben eine viel zu hohe Kinderarmut, wir haben die Situation, dass wir sagen, bei den Alleinerziehenden liegt mittlerweile die Armutsquote bei 40 Prozent, und jedes Jahr wird dann gesagt, jetzt wird aber das Problem energisch angepackt. Das ist doch nicht hinzunehmen, und wenn man dann ein Jahr weiter schaut, hat sich wieder nichts geändert. Ich sag mal so, ernsthaft, also dass man denen jetzt Gutscheine in Höhe von 15 statt zehn Euro gibt, da wird doch kein Mensch glauben, dass wir damit jetzt die Kinderarmut in Deutschland besiegen. Dass man die umsonst zur Schule fahren lässt, ist doch eine Selbstverständlichkeit. Und dass die den Euro erlassen bekommen beim Schulmittagessen, wird jetzt überall gefeiert – kein Mensch fragt danach, wo gibt es denn überhaupt schulisches Essen. Es ist nämlich bei Weitem nicht so, dass es das überall gibt, das ist eher eine Minderheit der Schulen, die so was ausreichen, und so weiter und so weiter. Das heißt, es werden immer Trippelschritte getan, die werden mit unheimlich tollen Plakaten verkauft, und am Ende merken die Menschen, irgendwie hat sich nicht viel geändert. Und ich glaube, das erzeugt dann wirklich politischen Frust.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.