Archiv

Kritik am Teilhabestärkungsgesetz
Zu wenig drin für Menschen mit Behinderung

Von Chancengleichheit im Arbeitsleben sind Menschen mit Behinderung weit entfernt. Folglich ist die Arbeitslosenquote hoch. Nur jeder Dritte findet überhaupt einen Job. Zugleich entziehen sich 60 Prozent der Betriebe ganz oder teilweise der Beschäftigungsverpflichtung.

Von Katrin Sanders |
"Lasst mich selbstbestimmt leben" steht am 07.11.2016 in Berlin auf dem Plakat eines Demonstranten vor dem Brandenburger Tor. Die Bundesvereinigung "Lebenshilfe" hatte zu einer Demonstration aufgerufen, um ein besseres Bundesteilhabegesetz (BTHG) für Menschen mit Behinderung zu fordern. Derzeit befassen sich bundespolitische Gremien mit der künftigen Gestaltung des neuen BTHG. Foto: Paul Zinken/dpa ++
Menschen mit Behinderung protestieren (picture alliance / dpa | Paul Zinken)
Immer Ende März ist für Betriebe in Deutschland Meldeschluss. Bis dahin muss der Agentur für Arbeit mitgeteilt werden, ob das Unternehmen die Pflichtquote erfüllt. Also: die vorgeschriebene Anzahl von Menschen mit Behinderung beschäftigt. Fünf Prozent macht diese Quote aus. Bei 20 Beschäftigten muss somit ein Arbeitsplatz mit einem Menschen mit Schwerbehinderung besetzt werden. Betriebe, die das nicht schaffen, müssen zahlen: Die sogenannte Ausgleichsabgabe wird fällig. Gestaffelt geht es um Beträge zwischen 125 bis 360 Euro monatlich.
Andreas Bondza sieht das gelassen. Der Inhaber der Manometer Preiss GmbH in St. Augustin bei Bonn ist im Plus bei den Pflichtarbeitsplätzen: "Unsere Quote erfüllen wir zum Glück viel mehr als wir müssen eigentlich. Wir haben ja einen Betrieb mit 27 Mitarbeitern, das heißt wir müssten zwei Schwerbehinderte insgesamt haben, aber vier oder fünf Mitarbeiter sind wir jetzt mittlerweile und haben aber auch so noch schwerbehinderte Menschen, die wir beschäftigen, die leider durch Krankheit schwerbehindert geworden sind. Und wir sind auch immer auf der Suche nach neuen Mitarbeitern und explizit auch nach Inklusionsmitarbeitern", erklärt der Unternehmer auf dem Weg durch die Fertigungshallen.

Keine Spitzenlöhne

Erklärt der Unternehmer auf dem Weg durch die Fertigungshallen. Manometer, Druckmessgeräte, werden hier in großer Stückzahl handwerklich produziert. Es sind meist einfache Tätigkeiten und man verdient damit keine Spitzenlöhne. Aber auf Präzision und Teamarbeit kommt es an. Seine vier Inklusions-Mitarbeiter hätten sich darin bewährt. Sie haben die Belegschaft stärker gemacht, sagt Bondza.
Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht zu Beginn der Sitzung des Bundeskabinetts im Kanzleramt welches Aufgrund der Corona Abstandsregeln im Internationalen Konferenzraum stattfindet.
Bundeskabinett hat Teilhabestärkungsgesetz auf den Weg gebracht Mit einem neuene Gesetz sollen Menschen mit Behinderung besser vor Gewalt geschützt werden. Außerdem sollen die Jobcenter Behinderte mehr fördern.
Er steht mit Herz hinter der Sache - und dass es finanzielle Unterstützung aus den Mitteln der Ausgleichsabgabe gibt, findet er sehr hilfreich: "Wenn diese Person vom Arbeitsamt kommt, dann kriegt man eine wunderbare Unterstützung. Entweder bekommt man halt vom Lohn etwas wieder zurück bis zu 30 Prozent, oder man kann sie auch auf Probe beschäftigen. Also das hilft auf jeden Fall schon. Die Entscheidung ist dann schon leichter, wenn man diese Unterstützung bekommt. Finde ich auch gut. Genau dafür sind die Abgaben ja auch gedacht. Dass man halt die Wirtschaft ein bisschen unterstützt und die Arbeitgeber."

Fast 700 Millionen Euro im Topf

Es ist ein Geben und Nehmen mit der Ausgleichsabgabe. Die einen müssen sie zahlen, weil sie keine oder zu wenig Menschen mit Behinderung beschäftigen. Den anderen Betrieben kommt das Geld zugute. 696 Millionen Euro kamen im Jahr 2020 zusammen. Sie flossen in einen Topf, aus dem Anpassungen an Arbeitsplätzen finanziert oder Lohnzuschüsse gewährt werden, zum Beispiel, wenn längere Einarbeitungszeiten nötig waren.
Was das bewirkt, beschreibt Andrea Kurtenacker vom Institut der deutschen Wirtschaft so: "Zum einen finden sicher Beschäftigungssicherungsprozesse statt, dass also Menschen, die nicht 100 Prozent leisten können, bezuschusst werden, also der Arbeitgeber dann Gelder bekommt. Es führt dazu, dass viele Unternehmen auch anfangen mehr barrierefrei zu denken, indem sie Arbeitsplätze umorganisieren, sodass sie besser bedienbar sind. Und davon partizipieren ja nicht nur immer die Betroffenen selber, sondern überhaupt die Belegschaft. Weil niemand schadet es, wenn beim Heben Hilfen zur Verfügung stehen, die eine bessere Ergonomie bedeuten."
"Wir als SoVD halten die Ausgleichsabgabe für ganz wichtig. Die hat eine wichtige ordnende Funktion, weil sie natürlich den Anreiz setzen soll, Menschen mit Behinderungen zu beschäftigen und weil sie eben diesen Ausgleich zwischen den Unternehmen herstellt", hält Claudia Tietz vom Sozialverband Deutschland fest. Die Referentin für Behindertenpolitik beim Sozialverband Deutschland (*) findet allerdings, dass die Abgabe nicht hoch genug ist. Nicht einmal die Hälfte der Unternehmen erfülle die Fünf-Prozent-Quote und zahle lieber die Ausgleichsabgabe. Öffentliche Arbeitgeber, Verwaltungen und Institutionen schaffen mehr Pflichtarbeitsplätze als gefordert, die Privatwirtschaft aber kommt ihrer Beschäftigungspflicht nicht nach.
Mitarbeiter einer Behindertenwerkstatt der Diakonie Mitteldeutschland fertigen in Halle in Sachsen-Anhalt Aufsteller für Plakate.
Menschen mit Behinderung in Ausbildung - "Im Berufsbildungsbereich muss sich etwas ändern"
Menschen mit Handicap in Ausbildung haben derzeit keinen Anspruch auf Grundsicherung. Die Bundesgeschäftsführerin der Lebenshilfe, Jeanne Nicklas-Faust, vertritt die Ansicht, dass diese "fälschlich vorenthalten" wird. Sie glaube aber, dass es auf Seiten des Gesetzgebers zu einer "Klarstellung" kommen werde.
Claudia Tietz: "60 Prozent der Unternehmen erfüllen ihre Pflicht nicht so wie das von Gesetzes wegen gefordert wird. 60 Prozent, das ist mehr als die Hälfte. Und ganz dramatisch sind die Unternehmen, die trotz dieser fünf Prozent Beschäftigungspflicht nicht einen einzigen schwerbehinderten Menschen beschäftigen - also null Prozent haben statt der geforderten fünf Prozent. Und das betrifft 25 Prozent aller Unternehmen in Deutschland. Also ein Viertel. Und ich glaube, mit den Unternehmen muss man deutlicher sprechen: Die unterschreiten die Pflichtquote nicht nur, sondern sie reißen sie komplett."
Eine deutliche Sprache gegenüber diesen sogenannten Null-Beschäftigern hatte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) im Dezember bei der Jahrestagung des Deutschen Behindertenrates angekündigt. Die Ausgleichsabgabe solle verdoppelt werden in Betrieben, die keinen einzigen Menschen mit Behinderung beschäftigen.
Hubertus Heil (SPD), Bundesminister für Arbeit und Soziales, wartet auf den Beginn der wöchentlichen Kabinettssitzung im Kanzleramt.
Hubertus Heil (SPD), Bundesminister für Arbeit und Soziales (dpa/Michael Kappeler)
Doch im Teilhabestärkungsgesetz, das aktuell im Parlament verhandelt wird, fehlt nun genau dieser Passus. Die Kritik bei den Sozialverbänden ist groß. Der Deutsche Behindertenrat spricht von einem "unguten Signal" und einer Sonntagsrede des Ministers. Der Sozialverband Deutschland fordert Nachbesserung.
Der Anteil der sogenannten "Null-Beschäftiger" steige, konstatiert Claudia Tietz: "Diese Zahl wächst. Die Zahl mit den null Prozent schwerbehinderten Menschen, die nimmt zu und das seit Jahren. Wir glauben, dass es tatsächlich Vorbehalte gibt, Menschen mit Behinderungen einzustellen. Und da würde die Ausgleichsabgabe vielleicht auch einen Denkanstoß setzen, wenn sie schmerzhafter ausgestaltet wäre, als sie es derzeit ist."

Heikles Thema Arbeit und chronische Krankheit

"Es möchte sich ja auch vielleicht nicht jeder outen mit seinem vollen Namen. Es möchte vielleicht auch nicht jeder zu sehen sein. Das erklär ich dann mal. Dann kommen wir jetzt mal langsam so in den heutigen Abend."
Es möchte sich nicht jeder outen bei der Zoomkonferenz der Deutschen Epilepsievereinigung Mitte April. Das Thema Arbeit und chronische Erkrankung ist heikel. Mehr als 60 Konferenzteilnehmer werden in der folgenden Stunde von ihren Erfahrungen am Arbeitsplatz berichten. Sybille Burmeister, Vorsitzende des Selbsthilfe Bundesverbandes, wundert sich nicht über die hohe Resonanz: "Das Thema Epilepsie und Arbeit ist eben wirklich riesig. Arbeit ist ja ein Thema, darüber identifizieren sich viele Menschen, daraus ziehen sie ihren Selbstwert und das beschäftigt Menschen mit Epilepsie schon sehr. Ich habe das auch selber gemerkt. Ich hatte selber gekündigt bei einer Arbeitsstelle, war dann arbeitslos. Es ist schon ein wichtiger Punkt, wie gehe ich mit meiner Epilepsie um, wenn ich einen neuen Job suche."
Muss man nach der Diagnose sagen, dass man eine Epilepsie hat? Und bringt das Nachteile am Arbeitsplatz? Es ist ein Dauerthema in Selbsthilfe-Kreisen. Viele behalten die Erkrankung für sich, wird im Chat berichtet, und gehen auf Tauchstation. Ihre Erfahrungen sind ernüchternd: Bei Neu-Bewerbungen komme man gar nicht erst zum Zug. Und wer offen mit seiner Epilepsie umgeht, erlebt nicht selten vor allem die große Unsicherheit auf Arbeitgeberseite, wird berichtet. Unternehmen gingen auf Nummer sicher. Lieber nicht einstellen, als sich Schwierigkeiten ins Haus holen.
Behinderte Mitarbeiter in einer Werkstatt der Bethel-Stiftung in Bielefeld
Christliche Werkstätten - Woran Inklusion scheitern kann
Die UN-Behindertenrechtskonvention ist eindeutig: Behinderte wie Nicht-Behinderte sollen gemeinsam auf dem Ersten Arbeitsmarkt arbeiten. Mit der Wirklichkeit in Deutschland hat das wenig zu tun. Für viele Behinderte bleiben nur Behindertenwerkstätten, die häufig von den Kirchen betrieben werden. Kaum jemand schafft von dort den Sprung ins "normale" Arbeitsleben.
"Ich kenne eben auch Menschen, die sagen: Nein, ich habe überhaupt gar niemandem davon erzählt. Ich möchte gar nicht, dass irgendeiner meiner Kollegen oder gar ein Vorgesetzter das weiß, weil sie Angst haben, dass sie dann anders beurteilt werden, anders beäugt werden."
Ergänzt Sybille Burmeister und kommentiert so: "Ich hatte auch während des Chats mit jemandem gesprochen, im Nachgang auch noch mal mit dieser Frau telefoniert: Sich nicht zu schämen für seine Epilepsie. Ich habe nichts gemacht, um diese Krankheit zu bekommen. Ich kann nichts für meine Krankheit und sollte wirklich doch offen mit der Epilepsie umgehen. Auch um den anderen zu zeigen, schau mal, mit Hilfe meiner Medikamente bin ich anfallfrei, kann ganz normal Leistung erbringen."
"Aber noch mal: Nicht jeder Mensch mit einer Behinderung hat ein Defizit in seiner Leistung", betont Andrea Kurtenacker, die beim Institut der deutschen Wirtschaft das Kompetenzfeld Teilhabe am Arbeitsleben leitet.
"Also, da muss man auch aufpassen, dass man nicht immer in dieses Bild hineinrutscht, dass Menschen mit Behinderung grundsätzlich ein defizitäres Leistungsbild haben. Das ist ja nicht so. Und in einer alternden Gesellschaft, wo immer mehr Menschen auch über einen längeren Zeitraum erwerbstätig bleiben, kann es uns alle treffen, dass wir mit einer Erkrankung plötzlich den Status einer Schwerbehinderung bekommen."
Nur 3,6 Prozent der Behinderungen sind angeboren. Die meisten sind erworben durch Unfälle oder chronische Erkrankungen, die sich oft erst im Laufe des Arbeitslebens ausprägen. 3,3 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter hatten 2015 einen Schwerbehindertenausweis. Nur jeder Dritte hat einen Arbeitsplatz mit Sozialversicherung. Es sind Menschen mit Rheuma, einer psychischen Erkrankung, HIV, einer Seh- oder Körperbehinderung. Gemeinsam ist ihnen, wenn es ums Arbeitsleben geht: vier von fünf chronisch Kranken versuchen so lange wie möglich im Beruf unerkannt zu bleiben. Das zeigen Online-Befragungen der NRW Landesverbände von Rheumaliga, Aidshilfe und der Multiple Sklerose Gesellschaft im Jahr 2019. Ob es möglich ist, den Beruf weiter auszuüben oder nicht, hängt nicht nur von der Epilepsie ab, sondern auch vom Arbeitgeber, sagt die Expertin im Online-Vortrag der Deutschen Epilepsievereinigung.

Nicht genug Bewerber auf freie Stellen

Sybille Burmeister, die Vorsitzende, stimmt zu: "Es gibt da wirklich noch viele Vorurteile anzusprechen und zu bekämpfen aus unserer Sicht. In Bayern gibt es in jedem Regierungsbezirk Epilepsieberatungsstellen, davon sind wir bundesweit leider immer noch sehr weit entfernt und dafür kämpfen wir als deutsche Epilepsievereinigung, dass es eben diese psychosozialen Beratungsmöglichkeiten in jedem Bundesland an verschiedenen Stellen geben sollte, weil die sehr viel Gutes in Bayern beispielsweise schon leisten können, um Menschen in Arbeit zu halten."
43.000 Unternehmen, die sich bislang der gesetzlichen Beschäftigungspflicht komplett entziehen, wären da eine wichtige Reserve, die helfen könnte dieses Ziel zu erreichen. Wer genau diese Reserve ist, scheint unerforscht. Es sind nicht nur kleine und mittlere Betriebe, aber auch nicht vor allem die hochspezialisierten IT-Unternehmen. Nicht-Beschäftiger gibt es in allen Branchen und Größen. Pauschale Kritik an der Privatwirtschaft weist der Bundesverband der Arbeitgeberverbände BDA zurück. Und er verweist auf erfolgreiche Teilhabe-Bemühungen. Viele Betriebe seien bereit, Menschen mit Schwerbehinderung einzustellen - doch es gäbe nicht genügend Bewerber auf freie Stellen, schreibt der BDA.

Zahl schwerbehinderter Menschen wächst

"Das denken wir nicht, wir haben das auch mal durchgerechnet", sagt dazu Claudia Tietz vom Sozialverband Deutschland. Das Arbeitgeber-Argument wurde bereits vom Bundesverfassungsgericht im Jahr 2004 von der Hand gewiesen. Unternehmen hatten damals geklagt, die fünf Prozent Quote sei zu hoch, die Zahl der Bewerber, läge weit unterhalb der Quote, könne also gar nicht erfüllt werden. Das höchste Gericht ließ das damals nicht gelten: Bei den deutlich geringeren Chancen der Bewerber auf dem Arbeitsmarkt, brauche es im Gegenteil einen gehörigen Überhang an Jobangeboten, damit es überhaupt gelinge. Der Sozialverband Deutschland fordert eine Erhöhung der Pflichtquote auf sechs Prozent:
"Die Zahl schwerbehinderter Menschen in Deutschland wächst, weil Menschen im höheren Lebensalter oft körperliche Beeinträchtigungen haben. Und wenn Menschen länger arbeiten, wächst auch die Zahl derer, die mit körperlichen Beeinträchtigungen im Alter sind, wo sie noch arbeiten können. Und deshalb ist das ein demografisches Argument, dass Menschen mit Behinderungen am Arbeitsmarkt mehr werden. Und für die brauchen wir natürlich auch die entsprechenden Stellen. Insofern kann ich das Argument, dass die fünf Prozent bereits zu hoch seien, überhaupt nicht nachempfinden. Wir gehen als SoVD davon aus, dass eine Pflichtquote von sechs Prozent inzwischen dem tatsächlichen Bedarf gerechter würde."
"Es ist eben leider Gottes eine Erfahrung, die ich im Laufe meines Lebens eigentlich immer wieder gemacht habe, dass es eben unglaublich schwer ist, überhaupt Fuß zu fassen auf dem ersten Arbeitsmarkt." Sagt Christian Draheim. Er ist sehbeeinträchtigt, seine Erkrankung angeboren. Mit Hilfe von Arbeitsassistenz und technischen Hilfsmitteln steht er heute voll im Berufsleben. Bis es soweit war, hat er erlebt, was typisch ist: Wer arbeitslos ist und schwerbehindert sucht mehr als 100 Tage länger als andere Arbeitnehmer nach der neuen Stelle: "Ich habe mich schon mehrmals in meinem Leben unglaublich viel bewerben müssen, bis ich dann tatsächlich auch eine Stelle bekommen habe, und habe da auch immer wieder erlebt, dass ich eingeladen wurde, weil ich eingeladen werden musste und man sehr deutlich zu spüren bekommen hat, dass es eigentlich gar kein Interesse gibt."

Größerer Aufwand bei der Einstellung

"Es ist so, dass zwei Drittel von blinden und sehbehinderten Menschen zurzeit nicht berufstätig sind. Sie zwar eine Ausbildung haben, aber danach immer noch Hemmnisse bei Arbeitgebern existieren, blinde oder sehbehinderte Menschen einzustellen", hält Swetlana Böhm fest. Die Vorsitzende des Blinden und Sehbehindertenvereins Westfalen ist selbst von Geburt an blind und bei der Arbeitsagentur Hagen angestellt. Es geht bei diesen Arbeitskräften - wohlgemerkt nicht um Einfach-Arbeitsplätze, sondern um Bewerber wie Christian Draheim, die mit Facharbeiterausbildung, Schulabschlüssen oder Hochschulabschluss und Berufserfahrung längst bewiesen haben, was sie können.
"Gerade in der Privatwirtschaft ist hier doch der Hemmschuh größer, jemanden einzustellen, der blind- oder sehbehindert ist, weil der Aufwand, ihn einzustellen, ist schon größer: Ich muss mich darum kümmern, dass er einen geeigneten Arbeitsplatz hat - und dann ist es auch immer noch so, dass die Ausgleichsabgabe in Deutschland, die Betriebe zahlen müssen, die nicht genug behinderte Menschen beschäftigen, nicht hoch genug ist, als dass sie nicht von Betrieben bezahlt wird."

Der Bundesverband der Blinden- und Sehbehinderten fordert deshalb nachdrücklich die lange versprochene Erhöhung der Ausgleichsabgabe. Auch Christian Draheim hält höhere Abgaben für eine wichtige Stellschraube. Seine Erfahrungen zeigen aber auch, dass Benachteiligung und Unterschätzen von Menschen mit Behinderung nicht erst im Arbeitsleben beginnt. Er erlebte das in der Berufsberatung. Damals durchkreuzte die fortschreitende Augenerkrankung seinen ursprüngliche Berufsplan:
Peter Weiß (CDU) spricht bei der Plenarsitzung im Deutschen Bundestag. Die Hauptthemen der 204. Sitzung der 19. Legislaturperiode sind unter anderem der Rentenversicherungsbericht 2020, eine Novelle des digitalen Wettbewerbs­rechts, die Verlängerung der Abgabefrist für Steuererklärungen und eine Aktuelle Stunde mit dem Titel "Nach dem Sturm auf das US-Kapitol – Strategien zur Stärkung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Deutschland und der Welt".
CDU-Politiker Peter Weiss (picture alliance / dpa / Bernd von Jutrczenka)
"Also meine Erfahrung war tatsächlich, dass ich nachdem ich mein Studium abbrechen musste, das Lehramtsstudium, dass ich dann in die Berufsberatung gekommen bin, zwangsläufig. Und die Frage war, wie geht’s weiter. Und das erste, was mir angeboten wurde - und ohne die Option darüber zu diskutieren - war "Sie haben drei Möglichkeiten: Sie können eine Ausbildung zum Kaufmann für Büromanagement machen. Sie können eine Ausbildung zum Kaufmann für Dialogmanagement also Callcenter machen oder tatsächlich - das ist kein Scherz - eine Ausbildung zum Korbflechter. Ja, man mag das kaum glauben, aber es ist tatsächlich so gewesen. Das sind ja auch über Jahrzehnte hinweg die Berufe gewesen, die blinde und sehbehinderte Menschen erlernt haben."

Unternehmen sensibilisieren

Fazit: Eine Erhöhung der Ausgleichsabgabe allein macht die Arbeitswelt noch nicht inklusiv oder offener für Menschen mit Qualifikationen. Es wäre aber ein sicher schmerzhaftes Signal gewesen, wenn künftig ein nicht-besetzter Arbeitsplatz mit 720 Euro im Monat zu Buche schlüge. Die Koalition aber stimmte diesem Vorschlag von Hubertus Heil nicht zu. Für den CDU-Sprecher Peter Weiss ist "die Erhöhung vom Tisch". Der Gesetzentwurf sieht vielmehr eine neue zentrale Anlaufstelle für Unternehmen vor. Sylvia Helbig für die Abteilung Arbeitsmarktpolitik beim Deutschen Gewerkschaftsbund DGB merkt dazu in der Anhörung im Ausschuss für Arbeit und Soziales am Montag selbstkritisch an:
"Wir haben ein Viertel der Unternehmen, die gar keinen einzigen schwerbehinderten Menschen beschäftigen und das schon seit Jahren. Und gerade diese Unternehmen wurden in den letzten Jahren in verschiedenen Kampagnen, an denen auch der DGB beteiligt war, angesprochen, angeschrieben und sensibilisiert. Leider ohne Erfolg. Vor diesem Hintergrund halten wir es für dringend notwendig, die Unternehmen nicht nur zu sensibilisieren, sondern auch stärker in die Pflicht zu nehmen."

Streit über Durchsetzung der Pflichtquote

"Neue Ansprechstellen für Arbeitgeber sind flächendeckend einzurichten", so steht es im neuen Teilhabestärkungsgesetz, das nun in die zweite und dritte Lesung geht. Schon jetzt gibt es solche Angebote - finanziert werden einige davon über die Ausgleichsabgabe: Kammerberater, Integrationsfachdienste, den Arbeitgeberservice bei den Arbeitsagenturen sowie Rehadat, als zentrale Zugangsstelle für alle Informationen zu den Instrumenten, die aus der Ausgleichsabgabe finanziert werden.
Andreas Bondza, der Unternehmer aus St. Augustin, hält jegliche Orientierungsangebote an Unternehmer für richtig. Auch er hat so die nötige Hilfe im Antragsdschungel bekommen und am Ende auch die Arbeitnehmer mit Schwerbehinderung gefunden, die heute sein Werkstatt-Team bereichern. Kammerberater Ali Atak stand ihm dabei hilfreich zur Seite.
"Ja, der Herr Atak, der ist ja von der IHK Bonn und ist da für die Inklusion zuständig. Und mit ihm hatte ich Kontakt, weil ich explizit nach einem Mitarbeiter mit Inklusion gesucht habe. Wir hatten einen Mitarbeiter, haben den immer noch, das ist ein Autist und es läuft wunderbar mit ihm. Und ja, habe ich mir gedacht, noch ein zwei von denen, das wäre schön. Und da hat der Herr Atak uns immer begleitet. Was mit Bewerbungsgesprächen mit den Mitarbeitern zu tun hat, oder er kennt vielleicht Schwerbehinderte, die einen Arbeitsplatz suchen. Das hat er dann mit uns zusammen gemacht. Ich muss sagen, ich bin froh, dass ich es ausprobiert hatte. Der springende Punkte ist halt, man muss es einfach erstmal versuchen."
Jeder vierte beschäftigungspflichtige Betrieb in Deutschland hält sich zurück beim Thema Inklusion und beschäftigt keine Menschen mit Schwerbehinderung. Wie man die Pflichtquote besser durchsetzen kann, darüber wird weiter gestritten. Mit einer höheren Ausgleichsabgabe jedenfalls soll es nicht versucht werden. Die von Hubertus Heil angekündigte Erhöhung für die Null-Beschäftiger ist vorerst vom Tisch.
(*) Die Funktion von Frau Tietz beim Sozialverband wurde korrigiert