Die sogenannte Bundesnotbremse wurde beschlossen und in Kraft gesetzt. Ob die schärferen einheitlichen Beschränkungen aber im Kampf gegen die dritte Corona-Welle sinnvoll und wirksam sind, dazu gehen die Meinungen durchaus auseinander. Umstritten ist ja auch, ob etwa die nächtlichen Ausgangssperren noch vom Grundgesetz gedeckt sind.
Nahezu einhellig aber ist gerade die Verärgerung über die Folgen der Notbremse für den Sport. Sportvereine und Sportverbände beklagen unklare Regeln, fehlende Sorgfalt und alles in allem einen großen Mangel an Anerkennung für die gesundheitliche Wirkung und auch die gesellschaftliche Bedeutung von Sport - mit Folgen für Millionen von Kindern und Jugendlichen, Mannschaften und Einzelsportlerinnen und Einzelsportler.
Christoph Niessen ist Chef des Landessportbundes Nordrhein-Westfalen, dem größten in Deutschland mit fünf Millionen Sportlerinnen und Sportlern in 18.000 Vereinen. Im Dlf beklagte er, dass der Sport bei der Diskussion über die richtigen Mittel in der Pandemie-Bekämpfung auf der Bundesebene völlig unter die Räder komme und gar nicht wahrgenommen werde. Durch die Änderungen im Infektionsschutzgesetz hätten Kinder und Jugendliche kaum noch Möglichkeiten, Sport zu treiben, solange die Inzidenz über 100 bleibe, sagte Niessen.
Das Bundesinfektionsschutzgesetz gehe offenbar zudem davon aus, dass das, was noch möglich ist, auch drinnen möglich sei. In den meisten Ländern seien die Sporthallen aber ohnehin geschlossen und es würde dann aller Wahrscheinlichkeit nach die schärferen Länderregeln gelten. "Warum ist so was nicht aufeinander abgestimmt worden? Das scheint mir einfach auch handwerklich schlecht gemacht."
Niessen wies auf wissenschaftliche Studien hin, die zeigten, dass man draußen problemlos Sport machen könne. Die Ansteckungsgefahr sei minimal. Deshalb könne er nicht verstehen, warum Kinder "weggesperrt" würden. Er erlebe diese Bundesregierung als nicht sportaffin.
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Jasper Barenberg: Herr Niessen, Enttäuschung, Verärgerung, Verbitterung in den Sportverbänden, davon ist zu lesen. Wie müssen wir uns Ihre Gefühlslage mit Blick auf die Bundesnotbremse gerade vorstellen?
Christoph Niessen: Ja, Sie haben das Wort schon genannt. Da ist eine riesen Enttäuschung, weil wir einmal mehr erleben, dass der Sport auf der Bundesebene bei der Diskussion auf der Bundesebene über die richtigen Mittel in der Pandemie-Bekämpfung völlig unter die Räder kommt und gar nicht wahrgenommen wird, dass es auch gar keinen Versuch gibt, überhaupt mal mit dem Sport darüber zu reden, wie Regeln denn so aussehen könnten, dass einerseits ausreichend Schutz gewährleistet wird und andererseits aber auch noch Sport möglich ist, und der wäre möglich aus unserer Sicht.
"Das geht doch völlig am Bewegungsverhalten von Kindern vorbei"
Barenberg: Was bringt Sie besonders auf die Palme?
Niessen: Das Bundesinfektionsschutzgesetz ist in dem Passus, wo es um den Sport geht, ganz erkennbar irgendwie zusammengeschustert. Da passt eins nicht zum anderen. Da sind Begriffe nachträglich noch reingekommen, mit denen kein Mensch was anfangen kann. Ich will das beispielhaft festmachen an diesen Kindergruppen. Bisher war es in den Ländern üblich, dass Kinder bis 14 Jahre – und das hieß bis einschließlich zum 15. Lebensjahr – noch in Gruppen Sport treiben können. In Nordrhein-Westfalen waren das beispielsweise 20, wenn die Inzidenz unter 100 ist, und zehn, wenn die Inzidenz über 100 ist, und damit konnte man was anfangen. Dazu gab es eine Anleitung mit dem Übungsleiter. Das ist jetzt auf fünf zurückgeschraubt worden, und diese fünf dürfen noch nicht mal mehr Kontakt miteinander haben.
Das geht doch völlig am Bewegungsverhalten und an der Lebensrealität von Kindern vorbei. Welcher Verein kann für fünf Kinder Übungsleiter bereitstellen und dann noch das Ganze auf Abstand halten? Welchen Sinn macht das? Kinder können nicht mehr zusammenkommen, können nicht mehr zusammen spielen, und das wird am Ende dazu führen, dass gar kein Sport mehr für Kinder stattfindet, und das verstehen wir schlicht nicht, weil alle wissenschaftlichen Ergebnisse sagen – gerade sind ja noch diese Studien von Aerosol-Forschern veröffentlicht worden -, dass man draußen mit Kindergruppen Sport machen kann. Und da fragen wir uns, warum passiert das nicht, warum werden Kinder hier regelrecht weggesperrt.
Barenberg: Haben Sie noch andere Beispiele für uns? Die Rede ist ja auch davon, dass vieles noch völlig unklar ist, dass Sie im Grunde genommen erst mal versuchen müssen herauszufinden, was denn jetzt eigentlich gilt für verschiedene Sportarten, für Einzelsportler*innen, für Sport in Gruppen.
Niessen: Ja! Wenn Sie mal schauen: Es wird gar nicht zwischen drinnen und draußen unterschieden. Also: Offensichtlich geht das Bundesinfektionsschutzgesetz davon aus, dass das, was noch möglich ist, das wenige, dass das auch drinnen möglich ist. Ich nehme mal Badminton spielen oder Tennis spielen oder Tischtennis spielen. Das dürfte man auch in Hallen machen nach dem Bundesinfektionsschutzgesetz. In den meisten Ländern waren die Sporthallen aber ohnehin geschlossen und es gelten dann wohl aller Wahrscheinlichkeit nach die schärferen Länderregeln.
Warum ist so was nicht aufeinander abgestimmt worden? Das scheint mir einfach auch handwerklich schlecht gemacht. Es muss möglich sein, so etwas mit Ländern so abzustimmen, dass diejenigen in Vereinen, die sich engagieren, dann nicht erst noch mühsam versuchen müssen, eine eigene Rechtsauslegung zu machen. Wir haben zu einigen Punkten in Nordrhein-Westfalen heute noch keine Rechtssicherheit. Das Bundesinfektionsschutzgesetz ist jetzt mehrere Tage in Kraft. Da fragen wir uns, warum wird nicht mal vorher mit dem Sport gesprochen. Warum findet man nicht Formulierungen, die dann verständlich sind, lässt den Sport auch mal Vorschläge machen. Das findet aber leider auf Bundesebene überhaupt nicht statt.
In den Ländern haben wir da weit überwiegend eigentlich einen guten Stand erreicht. Federführend sind immer die Gesundheitsministerien und es ist ja nicht so, dass die nicht mit sich reden lassen. Man kann ja auch mal vor der Verabschiedung eines solchen Gesetzes das Gespräch mit dem Sport suchen und sagen, wie kann man das denn so formulieren, dass es verständlich ist und dass es vor allen Dingen dann auch handhabbar und umsetzbar ist.
"99 Prozent der Wertschöpfung des Sports werden in Sportvereinen erbracht"
Barenberg: Jetzt haben Sie mehrfach gesagt, dass der Sport auch deswegen nach Ihrer Einschätzung quasi unter die Räder gekommen ist, weil er keine Stimme hatte bei den Beratungen. Wie erklären Sie sich das denn? Immerhin gibt es ja Sie, die Verbände, und es gibt auch den Deutschen Olympischen Sportbund. Warum fehlte diese Stimme bei diesen Beratungen? War die nicht gefragt, oder hat sich der DOSB da nicht kräftig genug eingeschaltet?
Niessen: Wir erleben zunächst mal diese Bundesregierung, ich persönlich erlebe sie überhaupt nicht als sportaffin, und da kommt es natürlich auch immer auf den Ton von "the top" an. Das beginnt bei der Bundeskanzlerin. Mein Gefühl ist, zu Beginn der Pandemie hat man das mit der Fußball-Bundesliga geregelt, und wenn abends die Sportschau läuft, dann herrscht im Bundeskabinett der Eindruck, mit dem Sport läuft es doch irgendwie. Aber das ist ein Prozent des Sports. 99 Prozent der Wertschöpfung des Sports werden in den Sportvereinen erbracht. Da findet der eigentliche Wert statt. Da wird der Wert produziert für die Gesellschaft.
Mein Gefühl ist, dass das in der Bundesregierung überhaupt nicht verortet ist. Weder im Bundeswirtschaftsministerium, wo die Wirtschaftshilfen des Bundes zu Beginn auf Vereine gar nicht ausgerichtet waren. Die Rechtsform Verein kam gar nicht vor. Noch jetzt im Bundesgesundheitsministerium, was federführend für ein Infektionsschutzgesetz ist. Und wenn das so ist, dann muss natürlich ein DOSB hingehen und zusehen, dass er sich auf der Arbeitsebene Beziehungen schafft, in denen er dann Vorschläge für Gesetzentwürfe vom Referentenentwurf bis hin zur Verabschiedung eines Gesetzes auch einbringt und dafür sorgt, dass der Sport dort angemessen berücksichtigt wird.
Barenberg: Und das hat der DOSB beispielsweise nicht gemacht?
Niessen: Aus meiner Sicht hat das jetzt beim Bundesinfektionsschutzgesetz nicht stattgefunden. Das wurde spätestens seit Anfang April diskutiert. Und wenn ich dann am 16. April erst an die Fraktionsvorsitzenden herantrete und am 14. April war das Gesetz aber schon in erster Lesung im Bundestag, dann muss ich feststellen, ich bin einfach zu spät.
Barenberg: Jetzt haben die Verbände, haben die Vereine ja schon in den vergangenen Monaten immer im Gespräch mit den Ländern Regeln und Verfahren erarbeitet. Was für Folgen sehen Sie jetzt für den Amateur-, für den Breitensport nach diesen neuen Regeln?
Niessen: Nach diesen neuen Regeln, bin ich überzeugt, wird Sport für Kinder und Jugendliche im Verein zunächst mal gar nicht mehr stattfinden, solange die Inzidenz über 100 liegt und das Gesetz greift. Wir erleben, dass selbst geimpfte Menschen, ältere Menschen keinen Sport machen können. Es findet kein Rehabilitationssport statt – völlig unverständlich aus meiner Sicht. Der Vereinssport, der gerade wieder etwas in Bewegung gekommen war mit diesen Möglichkeiten, mit Kindergruppen zu arbeiten, wird erneut vollständig zum Erliegen kommen.
Ich bin ja nun nicht der einzige. Ich muss nicht als Lobbyist alleine darauf hinweisen, was das bedeutet. Die Wissenschaft schlägt Alarm, was dieser Bewegungsmangel mit unserer Gesellschaft macht und insbesondere mit Kindern und Jugendlichen. Erwachsene können noch selbst für sich die Verantwortung übernehmen, Joggen gehen, sich in Bewegung bringen, aber Kinder und Jugendliche brauchen diese Räume, den Sportverein, in dem sie angeleitet Sport machen können, und dieser Raum wird ihnen aus meiner Sicht jetzt komplett genommen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.