Ann-Kathrin Büüsker: Die Hotspots auf den griechischen Inseln sind fester Bestandteil der sogenannten europäischen Lösung der Flüchtlingskrise. Dort sollten Flüchtlinge eigentlich registriert werden. Das war bisher die Funktion dieser Hotspots. Jetzt mit dem geltenden Flüchtlingspakt mit der Türkei scheint sich diese Funktion zu wandeln. Das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen und die Organisation Ärzte ohne Grenzen haben deshalb ihre Unterstützung am Hotspot Moria auf der griechischen Insel Lesbos eingestellt. Darüber möchte ich mit Ulrike von Pilar sprechen. Sie war [*] Geschäftsführerin der deutschen Sektion bei Ärzte ohne Grenzen. Guten Tag, Frau von Pilar.
Ulrike von Pilar: Guten Tag, Frau Büüsker.
Büüsker: Frau von Pilar, warum hat Ihre Organisation die Arbeit am Hotspot Moria eingestellt?
von Pilar: Die Situation in dem Zentrum ist für die Flüchtenden inakzeptabel. Sie haben gerade das beschrieben. Eigentlich soll das ein Zentrum sein, in dem Ankommende erstens Schutz finden und zweitens Unterstützung und drittens einen vernünftigen Prozess, wo sie Asyl beantragen können. Die Situation verschlechtert sich seit Längerem und seit dem Abschluss des Vertrags zwischen der EU und der Türkei wird es immer schlimmer, und wir haben die Angst, dass es erstens wirklich wie eine Haftanstalt geführt wird, wo wir nicht mitmachen, und dass zweitens sich dort Massenabschiebungen vorbereiten, und da machen wir erst recht nicht mit.
Büüsker: Wenn Sie sagen, die Situation verschlechtert sich, was genau passiert vor Ort?
von Pilar: Die Menschen haben keine Freiheit mehr, sich zu bewegen. Es sind ja keine Kriminellen, die man einsperren könnte. Bisher war das so, dass das ein Durchgangszentrum war und dass die Menschen sich bewegen konnten, wie sie das für richtig hielten, und das ist eben nicht so. Abgesehen davon sind die Unterstützungen, die humanitäre Hilfe, wenn Sie so wollen, in dem Lager völlig unzureichend, und das kann ja so eine Organisation wie wir und sollte das auch nicht alleine machen.
Zudem gibt es einfach zu wenig Informationen darüber, wie das denn nun weitergehen soll, was die Prozesse sind, wie man Asyl beantragt. Und vor allen Dingen wird den Ankommenden nicht gesagt, wie sich dieser Europa-Türkei-Deal nun auf sie auswirkt, wie das mit den Abschiebungen aussehen soll.
Büüsker: Welche Unterstützung hat Ihre Organisation konkret vor Ort geleistet?
von Pilar: Wir leisten wie fast immer medizinische Hilfe, Grundversorgung. Die meisten Menschen haben traumatische Erfahrungen hinter sich, die meisten sind Bürgerkriegsflüchtlinge. Wir haben alles Mögliche zu tun, sowohl Infektionskrankheiten wie Durchfall, wie aber auch traumatische Bedingungen. Ich muss aber dazusetzen, dass wir weiterhin auf Lesbos arbeiten. Wir sind aktiv sowohl in der Seenotrettung im Norden, wir haben außerdem aber auch ein eigenes Zentrum, in dem wir medizinische Hilfe für Ankommende anbieten, und wir haben, wenn nötig, auch mobile Teams auf der Insel. Also es ist jetzt nicht so, als wenn wir unsere gesamte medizinische Hilfe einstellen würden.
"Komplizen eines unmenschlichen Systems"
Büüsker: Wenn ich das richtig verstehe, kommen Sie an die Menschen, die in Moria sind, nicht mehr dran, weil die de facto inhaftiert sind dort?
von Pilar: Im Moment könnten wir, wenn wir das wollten, auch unter diesen Bedingungen dort arbeiten. Wir haben entschieden, dass wir das nicht mitmachen, und sind unter Protest aus dem Zentrum gegangen. Es gibt andere Organisationen und es gibt auch lebensrettende medizinische Möglichkeiten für die Menschen, die in dem Lager leben. Aber wir im Moment nicht und wir würden erst wieder arbeiten, wenn wir annähernd humanitäre Standards realisiert sehen und damit leben können, wie die Menschen dort behandelt werden. Für eine humanitäre Organisation ist es sehr schwierig, für eine medizinische eben auch kompliziert, eine Entscheidung zu treffen, aber es gibt immer wieder Situationen, wo wir den Eindruck haben, dass wir zu Komplizen eines unmenschlichen Systems werden, und das, finde ich, dürfen wir nicht mitmachen.
Büüsker: Das heißt, Ihre Kritik richtet sich auch ganz grundsätzlich gegen den Deal, den die EU mit der Türkei geschlossen hat?
von Pilar: Ganz sicher. Der Vertrag zwischen der EU und der Türkei spricht fast überhaupt nicht von Schutz und humanitären Standards und humanitärer Behandlung der Menschen, spricht kaum davon, was die durchgemacht haben. Uns scheint es so zu sein, dass dieser Vertrag ausschließlich zum Ziel hat, die Menschen abzuschrecken, und wir finden nicht, dass man mit Flüchtlingen und Menschen, die unter Bürgerkriegsfolgen leiden, so umgehen kann. Als humanitäre medizinische Organisation können wir das nicht mitmachen.
"Es ist einfach inakzeptabel, was dort passiert"
Büüsker: Ist dieser Pakt überhaupt rechtmäßig?
von Pilar: Das kann ich nicht beurteilen. Ich bin keine Völkerrechtlerin. Andere Kollegen und Kollegen anderer Organisationen sagen, dass es da große Fragezeichen gibt. Manches wird man auch erst beurteilen können, wenn überhaupt die Prozesse etabliert sind dafür, wie Menschen um Asyl bitten können in Griechenland. Das ist im Moment nicht der Fall. Insofern sollen Sie da die Experten fragen und ich denke, man muss auch noch einen Moment warten. Aber wir sind ja eine humanitäre Organisation und wir müssen mit dafür einstehen, dass Menschen einigermaßen anständig behandelt werden, und wie Sie wissen haben wir das seit Jahren beklagt. Es ist einfach inakzeptabel, was dort passiert, und das ist die Verantwortung der gesamten Europäischen Union.
Büüsker: Der Deal mit der Türkei wird in Deutschland ja als alternativlos dargestellt, es sei denn, man will nationale Lösungen. Wie sehen Sie das? Welche Wahl hat Europa?
von Pilar: Es ist in den letzten Jahren sehr viel als alternativlos dargestellt worden, aber das ist natürlich nicht wahr und das wissen auch alle Verantwortlichen. Natürlich gibt es die Möglichkeit, zum Beispiel Menschen aus humanitären Gründen, also Verwundete, Traumatisierte, Alte, Schwache, Behinderte, direkt und legal aus den Anrainerländern zum Beispiel Syriens nach Europa zu holen. Es gibt die Möglichkeit, die Familienzusammenführung zu beschleunigen und zu erleichtern. Es gibt eine ganze Menge andere Möglichkeiten, die für sichere und legale Wege nach Europa sorgen würden. Aber im Moment sieht man ja, dass das nicht gewollt ist und dass alles auf Abschreckung hinausläuft.
Büüsker: Ulrike von Pilar, [langjährige] Geschäftsführerin der deutschen Sektion von Ärzte ohne Grenzen. Vielen Dank für das Gespräch hier im Deutschlandfunk.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
[*] Anm. d. Red.: Ulrike von Pilar war lange Jahre Geschäftsführerin der deutschen Sektion von Ärzte ohne Grenzen, anders als in der Sendefassung gesagt, hat sie dieses Amt heute aber nicht mehr inne.