Main: Vor einem Jahr: Da steuerte das Reformationsjubiläum seinem Höhepunkt entgegen. Manche konnten den Namen Luther nicht mehr hören. Andere fieberten hin auf das große Fest. Dann wurde gefeiert und es wurde bilanziert. Seitdem ist Ruhe, obwohl doch viele - gerade auch die kritischen Köpfe in der evangelischen Kirche - immer wieder appellierten: "Leute, die Reformation geht weiter! Sie ist europäisch, sie ist global und sie lässt sich nicht auf das kleine Deutschland reduzieren." Um den europäischen Zusammenhang ging es auch jüngst bei einer international besetzten Konferenz in Berlin. Es ging um die Schwesterreformationen, ein wissenschaftliches Symposium, das Dorothea Wendebourg veranstaltet hat, Professorin in Berlin. Mit der evangelischen Kirchenhistorikerin sprechen wir nun über die vergessenen Reformationen, wie sie die Welt verändert haben. Wir sitzen uns in unserem Berliner Hauptstadtstudio gegenüber, ein Gespräch, aufgezeichnet vor der Ausstrahlung. Frau Wendebourg, schön, dass Sie sich die Zeit genommen haben, guten Tag.
Wendebourg: Guten Morgen.
Main: Frau Wendebourg, neben dem großen Theologen mit den Initialen M und L, welcher Flügel der Reformation ist aus Ihrer Sicht der am stärksten in Vergessenheit geratene?
Wendebourg: Ich bin gar nicht sicher, ob einer dieser Flügel an sich in Vergessenheit geraten ist. Es ist eher so, dass jedes Land sich auf die Reformation konzentriert, die auf seinem Boden stattgefunden hat. Und in England denkt man überhaupt nicht über die Reformation auf dem Kontinent nach. In Deutschland denkt man nicht über die Reformation in der Schweiz und in England nach. Das ist eher eine nationale Fixierung, die wir überall haben.
"Defizite bei der Feier des Reformationsjubiläums"
Main: Aber darüber gerät natürlich die globale Wirkung in Vergessenheit.
Wendebourg: Genau. Und das war meines Erachtens auch eines der Defizite der Feier des Reformationsjubiläums in Deutschland, dass wir uns zu stark auf Luther und die Reformation in Deutschland konzentriert haben, denn eins ist klar, nirgendwo hätte es die Reformation gegeben ohne Martin Luther. Aber der Impuls, der von dort ausgegangen ist, wurde doch sehr unterschiedlich aufgenommen, weitergeführt, mit anderen Einflüssen vermischt. Und das muss man alles wahrnehmen, wenn man die Reformation als ein weltweites Ereignis, was sie in ihren Wirkungen ja gewesen ist, wahrnehmen will.
Reformation oder Reformationen?
Main: Sie haben bisher mehrfach "Reformation", also Singular, gesagt. Ich habe mehrfach von "Schwesterreformationen" im Plural gesprochen. Was gefällt Ihnen besser?
Wendebourg: Wir haben früher nur den Singular benutzt. Dann ist der Plural ganz groß in Mode gekommen, vor allen Dingen in der angelsächsischen Welt. Und dort spricht man mittlerweile von jeder Länderreformation auch schon wieder im Plural. Also, dann gibt es mehrere Reformationen in Schottland, in England, in Deutschland und so weiter und so fort.
Mittlerweile, finde ich, ist dieser Gebrauch des Plurals so inflationär geworden, dass er nichts mehr sagt. Und man muss dann schon auch begründen können, warum man dasselbe Substantiv "Reformation" benutzt in all diesen Fällen.
Und deswegen scheint mir besser, um der Gründe willen, um derentwillen wir dieses eine Wort benutzen in allen Fällen, doch beim Singular zu bleiben und dann durch Adjektive Differenzierungen hinzuzufügen. Die englische Reformation, die schweizerische, die genferische und so weiter und so fort.
"Eine reformierte Reformation in England"
Main: Lassen Sie uns mal eine dieser Schwesterreformationen - Plural - durchspielen. Die englische Reformation, wie Sie vorschlagen, die anglikanische Kirche. Liege ich daneben, wenn ich sage, dass das womöglich die katholischste protestantische Kirche ist?
Wendebourg: Das ist mittlerweile vielleicht so, obwohl ich nicht sicher bin, wenn man die schwedische lutherische Kirche anguckt, wie sie mittlerweile aussieht, dann sieht es da vielleicht noch anders aus. Also, wir haben ein zu monolithisches Bild der anglikanischen Kirche, in zwei Hinsichten.
Wir sehen von der heutigen anglikanischen Kirche eigentlich nur die High Church, also die bischöfliche, stark liturgische zeremonielle Kirche. Na ja, das ist optisch ein Phänomen, das was hermacht. Wir übersehen, dass die anglikanische Kirche aus mehreren Flügeln besteht und dass die nicht High-Church-Flügel der Mitgliederzahl nach ungleich größer sind. Sie können in England in anglikanische Kirchen gehen, da ist das eher - wie soll man sagen - ja, fast, fast evangelikal.
Das Zweite ist: Die anglikanische Reformation ist eigentlich eine reformierte Reformation. Als sie durchgeführt wurde unter König Eduard, hat man durchweg reformiertes Zeremoniell, reformierte theologische Vorstellungen und dergleichen durchgeführt. Und erst im 19. Jahrhundert hat es diesen Anglokatholizismus gegeben, der die ganze Kirche überformt hat.
"Keinen Papst mehr zu haben - das ist ein bisschen wenig"
Main: Jetzt sagt aber der Laie, der viele TV-Serien und viele Romane gelesen hat, dass die Reformation der anglikanischen Kirche mit Heinrich VIII., dem König und mit Anna Boleyn begonnen hat. "Sex & Crime", das ist das, was den Boulevard fasziniert, die Reformation in England triebgesteuert. Also, Sie haben jetzt von was ganz anderem gesprochen. Aber da begann doch aus meiner Sicht die Reformation in England.
Wendebourg: Ja, das ist natürlich eine Definitionsfrage. Die Reformation in England, wenn man sie darauf reduziert, dass sich die englische Kirche vom Papst gelöst hat, das - in der Tat - ist unter Heinrich VIII. gelaufen, weil er nur auf diese Weise eben die Frau heiraten konnte, die er heiraten wollte. Aber es hat sich in der Lehre, im Ritus praktisch nichts geändert, ganz wenig. Der Ritus blieb lateinisch. Die Benutzung englischer Übersetzungen im Gottesdienst blieb verboten. Das Messopfer blieb. Es gibt ganz wenige Punkte, wo es auch inhaltliche und strukturelle Veränderungen gegeben hat.
Eine Reformation in dem Sinne, dass es auch eine inhaltliche und rituelle Neuprägung gegeben hat, die darüber hinausgeht, dass man nun nicht mehr den Papst hat - das ist ja auch ein bisschen wenig - die ist unter seinem Sohn Eduard VI. gelaufen. Dann gab es einen kurzen Rückmarsch unter seiner Halbschwester "Maria der Blutigen", die dann versucht hat, die Sache wieder katholisch zu reformulieren. Und dann unter Elisabeth kam das endgültige Establishment der anglikanischen Kirche.
"Genf, das Mekka des Reformiertentums in jener Zeit"
Main: Was wirklich weltgeschichtliche Folgen hatte, das ist auch der Konflikt, in den die anglikanische Kirche gerät mit den sogenannten Puritanern, mit evangelischen Strömungen, die radikaler sind. Wie sind diese Puritaner einzuordnen in diesem Konflikt?
Wendebourg: Schon die Formulierung "Konflikt der anglikanischen Kirche mit den Puritanern" ist schwierig. Denn die Puritaner sind eigentlich ein Flügel innerhalb der englischen Reformationskirche. Und unter Eduard war zunächst einmal der Kurs ziemlich klar. Man will eine reformierte Kirche werden. Wie stark sich das dann an Genf, dem Mekka des Reformiertentums in jener Zeit, orientieren würde, das war noch nicht ganz ausgemacht. Eduard hat ja dann am Ende auch nur sechs Jahre regiert.
Die Puritaner sind nun derjenige Teil innerhalb dieser anglikanischen Gesamtkirche - anglikanisch heißt ja eigentlich nur englische Kirche -, der darauf drang, zu sagen, unsere bisherige reformierte Reformation ist unvollständig. Die ist abgebrochen worden durch den Tod des Königs. Und dann gab es das Zwischenspiel. Und jetzt unter Elisabeth müssen wir das vollenden, was nicht geschafft worden ist. Wir müssen den Ritus eindeutig reformiert machen. Wir müssen die Bischöfe zugunsten von Synoden abschaffen. Das müssen wir hier schaffen.
Main: Aber es sind doch dann Puritaner nach Nordamerika ausgewandert.
Wendebourg: Ja.
Main: Dem muss doch also ein Konflikt zugrunde gelegen haben.
Wendebourg: Ja.
Main: Wie verlief der - wenn es denn einer war?
Wendebourg: Also, diese radikal Anglikanischen sozusagen, radikal Reformierten konnten sich nicht durchsetzen. Und eine Zeit lang war das ein Kampf auf den Kanzeln, aber dann wurde dieser Kampf auch ausgefochten durchs Kirchenregiment. Puritanische Prediger wurden abgesetzt und zum Teil auch verfolgt. Nicht blutig, aber doch eben sehr stark benachteiligt. Sodass dann ein Teil zu dem Schluss kam zu sagen: "Also, wir können hier die wahre, reine evangelische Kirche in England nicht verwirklichen. Deswegen gehen wir raus." Und sind dann über die Niederlande ja eben auch nach Nordamerika gegangen. Und man dachte sich: "Hier haben wir einen leeren Raum. Und in diesem leeren Raum können wir die wirkliche evangelische Kirche verwirklichen. Da gibt es keinen König, da gibt es keine Bischöfe. Da sagen wir, wie die Disziplin aussieht. Da haben wir ein reformiertes Ritual."
Main: Und aufgrund ihrer Erfahrung mit einer Staatskirche - so nenne ich das mal …
Wendebourg: Ja, ist es.
Main: … entscheiden sich die Puritaner in Nordamerika dafür, ganz auf die Trennung von Staat und Kirche zu setzen. Ist das so richtig?
Wendebourg: Also, die Erfahrungen, in der Tat, mit der Staatskirche waren negativ. Staatskirche hieß königliche Kirche, hieß Bischöfe. Und das wollte man nicht. Aber man muss auch sagen: In den ersten Kolonien, in denen man in Neuengland Fuß fassen konnte, hat man dann seine eigene Art der Identität von Kirche, Gesamtgesellschaft und Staatswesen durchgesetzt. Da musste dann jeder reformiert sein. Man musste diesem puritanischen Kurs folgen, wenn man dort Bürger sein wollte. Da gab es also sozusagen die Wiederholung des Konflikts zwischen Kirche und Staat - jetzt nicht mehr unter monarchischem, sondern unter demokratisch, aristokratischem Vorzeichen.
"Der Export des Christentums ging weiter"
Main: Wir können also diesen Bogen ziehen von den Schwesterreformationen in Zürich und Genf, den reformierten Kirchen, über den Puritanismus in England, zur US-Verfassung und zur Vielfalt evangelischen Lebens in den Vereinigten Staaten heute?
Wendebourg: Ja, das kann man so tun. Und von dort aus ging der Export natürlich weiter. Dass gerade diese Spielart des evangelischen Christentums so stark expandierte, liegt natürlich daran, dass England die evangelische Kolonialmacht war. Verbreitung des Christentums über Europa hinaus ist wesentlich durch Kolonialismus erfolgt. Das wissen wir aus Süd- und Mittelamerika, Lateinamerika. Und dasselbe erfolgt jetzt auf Evangelisch durch England.
Main: Und in den Vereinigten Staaten welche konkreten Kirchen verstehen sich in dieser Tradition des Puritanismus - sage ich jetzt mal?
Wendebourg: Die verschiedenen reformierten Sorten. Also, die Presbyterianer und die Kongregationalisten. Der Unterschied ist der, dass Calvin an und für sich keine Unabhängigkeit der Einzelgemeinde vorsah. Calvin wollte zwar keine Bischöfe als Idealform - notfalls kann man sie lassen -, aber er wollte einen übergemeindlichen Zusammenhang durch Synoden. Selbstständigkeit der Gemeinde sah er nicht vor, sondern was die Bischöfe sind in den episkopalen Kirchen, sind die Synoden in reformierten Kirchen. Dann gab es aber eben in den neuen Kolonien Gemeinden, die sagten, wir lassen uns doch nichts von Synoden sagen, sondern wir wollen die komplette Unabhängigkeit der Einzelgemeinde. Das sind die sogenannten Kongregationalisten. Und die sind lehrmäßig und rituell ganz in der Spur der klassischen calvinistisch-puritanischen Tradition, aber haben eben diese Eigentümlichkeit.
Main: Parallel dazu gibt es in den Vereinigten Staaten jene Kirchen, die oft als evangelikal bezeichnet werden. Wie sind die verwurzelt in der Reformation, die vor 500 Jahren begann? Wie sind da die Linien?
Wendebourg: Die Evangelikalen sind durchweg eine Spielart der klassischen Reformationskirchen gewesen. Also, in der …
Main: Nicht der Täuferbewegung?
Wendebourg: Es gibt - ja - auch täuferische Zweige, aber zunächst einmal, im Gefolge des Pietismus hat es eine Aufweichung der Institutionalität der Kirche gegeben zugunsten persönlicher Frömmigkeit und dergleichen mehr. Und da haben sich dann Gemeinden verselbständigt, die stärker auf das Verhältnis frommes Individuum, heilige Schrift, Evangelium abhoben und sagten: Wir wollen diesen ganzen institutionellen Überbau, auch die starke Akademisierung - die in allen klassischen Reformationskirchen der Fall war, auch bei den Puritanern, die haben sehr auf gute Bildung gesehen - das wollen wir nicht, sondern wir wollen stärker eben basisorientiert mit dem Evangelium leben und wirken - und haben sich dann verselbständigt. Dazu kommen dann in der Tat ähnliche Impulse auch aus den Täuferkirchen.
Main: Täufer und Puritaner …
Wendebourg: … sind zwei Paar Stiefel.
Main: … sind zwei Paar Stiefel, wurden aber jeweils verfolgt.
Wendebourg: Täufer wurden verfolgt, zuerst in Zürich. Da ist das Täufertum …
Main: In Münster.
Wendebourg: … erst erschienen. Dann im Reich, darunter in Münster, weil das nun auch eine stark politisierte Spielart war. Das war in Zürich nicht der Fall. Und dann in anderen Gegenden Europas auch, etwa in England. Sie haben sich als kleine Gruppen gehalten und einige davon sind auch ausgewandert und haben in Nordamerika eine sehr viel größere Anhängerschaft gewonnen.
Also, Baptisten als wichtigste täuferische Gemeinschaft sind ja in Europa eher kleinere Kirchen, schon gar bei uns. In Nordamerika gehören sie zu den Mehrheitskirchen, sind viele Male größer als die sogenannten magistralen Reformationskirchen, also Reformierte, Lutheraner und dergleichen.
"Der Kosmos der evangelikalen Kirchen ist riesig"
Main: Die Baptisten als Teil dessen, was man als evangelikal bezeichnet, auch die finden Zulauf. Der weltweite Siegeszug von evangelikalen Kirchen ist nicht am Ende. Ich sage nur Südamerika, China, andere asiatische Länder - zum Teil auch in Deutschland. Ist dieser Siegeszug der Evangelikalen für Sie eher ein Zeichen der Strahlkraft der Reformation oder eine Gefahr? Weil es gibt ja auch massive Kritik an evangelikalen Kirchen.
Wendebourg: Ja, der Kosmos der evangelikalen Kirchen ist riesig. Und es gibt da die verschiedensten Phänomene. Politisch vor allen Dingen sehr fragwürdige Phänomene, etwa in Südamerika, also Evangelikalismus, der sich paart mit sehr autoritären, demokratiefeindlichen Bestrebungen, auch mit stark kapitalistischen Bestrebungen. Das ist aber nur ein Zweig.
Es gibt da die unterschiedlichsten Sorten, etwa auch in Korea. Da haben wir eine solche Bandbreite. Man kann zum Teil auch gar nicht mehr ganz genau sagen, ist das jetzt eine klassische Reformationskirche oder ist das eher eine evangelikale oder charismatische. Davon haben wir noch gar nicht gesprochen, von den charismatischen, die am allerschnellsten wachsen. Das ist ein großer Eintopf, im Grunde genommen. Wie das ausgeht, ist schwer zu sagen.
Man kann ja auch feststellen: Charismatische Bewegungen bestehen die Probe in der zweiten, dritten Generation. Auch das Christentum hat begonnen als eine charismatische Bewegung, in gewisser Weise auch die Reformation selbst. Und früher oder später stellte sich die Notwendigkeit institutionalisierter Festlegungen. Ich würde mich nicht wundern, wenn all diese eher charismatischen Großgruppen - das sind zum Teil ja riesige Gruppen - früher oder später auch ihre Form der Institutionalisierung finden. Und dann muss man sehen, wie sich das miteinander verhält. Möglicherweise geht das ganz gut zusammen.
Main: Da ist ganz schön was losgetreten worden vor 501 Jahr, ganz schön unübersichtlich.
Wendebourg: Ist unübersichtlich, ja. Aber christlicher Glaube lässt sich meines Erachtens am Ende nicht bändigen.
"Hätten wir in Deutschland etwas mehr Lebendigkeit …"
Main: Die Kirchenhistorikerin Dorothea Wendebourg, Theologin in Berlin, im Deutschlandfunk, in der Sendung "Tag für Tag - Aus Religion und Gesellschaft" im Gespräch über die Schwesterreformationen. Kommen wir noch mal zurück zum ältesten Geschwisterkind. 501 Jahr danach. Wo sehen Sie die großen Herausforderungen für die protestantischen Kirchen hierzulande, also für die Kirchen, von denen das Ganze ausgegangen ist?
Wendebourg: Wenn wir etwas mehr hätten von der Lebendigkeit, die wir in jenen Formen, welche wir mit Misstrauen betrachten, finden, also wirklich existenzielle Ausstrahlung, das würde uns guttun. Auf der anderen Seite scheinbar gegenläufig etwas mehr Disziplin würde uns auch guttun. Und, wenn wir - ich kann jetzt nur für die evangelische Kirche sprechen - einerseits mehr Disziplin hätten, zu sehen, wir gehören zu einer Kirche, auf der anderen Seite aber die Lebendigkeit, die ja die Basis dafür ist, dass wir dazugehören, auch weitergeben könnten, dann wäre mir überhaupt nicht bange.
"Liturgischer Wildwuchs"
Main: An welchen Punkten läuft Ihre Kirche aus dem Ruder?
Wendebourg: Zum Teil in den Gottesdiensten. Man hat doch viel Wildwuchs in Gottesdiensten, liturgischen Wildwuchs, Gebetsformulierungen, schlecht vorbereitete Predigten und dergleichen mehr. Da, denke ich, könnten individuelle Pastoren und Pastorinnen schon sich etwas mehr an der Kandare reißen. Das erfordert erstens Arbeit und zweitens auch eine gewisse Selbstkritik. Nicht alles, was einem gerade mal so einfällt, ist deswegen schon wunderbar für alle anderen.
"Mir fehlt die Gottesdienstzentrierung bei der Motivation"
Main: Was ist der Grund für diese Missstände?
Wendebourg: Vielleicht ein Mangel auch an der Ausbildung. Da fasse ich mich mit an die eigene Brust als Theologieprofessorin, die lange ja dafür verantwortlich gewesen ist, dass wir vielleicht die Relevanz dessen, was wir da lehren für das kirchliche Leben nicht hinreichend klarmachen und das auch nicht hinreichend reflektieren. Wir schieben das dann ab auf das Fach Praktische Theologie oder aufs Predigerseminar, aber das reicht eigentlich nicht.
Wir schaffen die Verzahnung nicht wirklich. Manchmal vielleicht ist es auch eine Frage der Motivation. Warum wird jemand Pastor/Pastorin? Oft fehlt mir die Gottesdienstzentrierung bei der Motivation. Viel guter Wille, alles Mögliche, aber dass das eben alles am Sonntagvormittag seine Erdung hat, das erlebt man eben bei uns oft nicht.
Main: Sie haben selbstkritisch sich und die akademische Theologie - nicht infrage gestellt, aber die Herausforderungen benannt. Es hat ja auch diese Debatte gegeben, wonach die akademische Theologie Dienerin der verfassten Kirchen sein sollte, wie es hochrangige EKD-Vertreter letztlich gefordert haben. Also, da stellen Sie sich schon dahinter?
Wendebourg: Nein. Also, ich will damit überhaupt nicht sagen, dass wir Dienerin der verfassten Kirchenobrigkeit sind. Das wäre ja gerade das Allerletzte. Dann kommen wir überhaupt nicht weiter. Sondern, dass wir in aller Freiheit, die uns zum Glück das deutsche System bietet, darüber reflektieren, was Kirche ist und wie wir die jungen Leute, die wir vor uns haben, dazu bringen, selbst zu reflektieren: Was geschieht in der Kirche? Wie verantworte ich meinen Glauben? Und wie kann ich dann schließlich auch anderen Leuten zu verantwortetem Glauben verhelfen? Das hat sein Zentrum im Gottesdienst. Das hat sein Zentrum nicht in der Kirchenleitung, obwohl die das gerne so hätte.
"Wo ist die Wurzel und wo die Frucht?"
Main: Es rumort auch an einem anderen Punkt an der Kirchenbasis. Es erscheinen aus meiner Sicht immer öfter Texte, in denen die Fixierung ihrer Kirche auf Innerweltliches und auf Politik kritisiert wird. Wenn man das dann EKD-Vertretern vorhält, argumentieren die das ganz elegant beiseite. Wo stehen Sie da?
Wendebourg: Ich würde sagen, man kann über Politik, soziales Engagement usw., usf. jederzeit reden und es gehört zu den Früchten christlichen Lebens, dass man sich in diesem Zusammenhang auch engagiert. Aber es muss immer klar werden: Wo ist die Wurzel und wo ist die Frucht? Also, unser politisches Engagement oder diakonisches Engagement - das muss deutlich zeigen, aus welcher Motivation heraus wir das machen. Oft habe ich den Eindruck, dass viel über das Zweite gesprochen wird, aber wenig über das Erste und über die Verbindung von beidem überhaupt nicht.
Main: Das Zweite können aber andere auch gut.
Wendebourg: Deswegen arbeiten wir mit denen auch zusammen. Das ist schon wahr.
"Vorbehalte gegenüber Machbarkeitswahn"
Main: Ja, aber Sie haben halt die Angst, dass das Erste quasi, was Sie besser können sollten, nicht angesprochen wird?
Wendebourg: So ist es. Und ich denke schon auch, dass die spezifisch-christliche Motivation, das Menschenbild, das wir mit dem verbinden, was wir dann da tun, das Weltbild im weitesten Sinn, das Bild von der Schöpfung, dass wir da Impulse haben, auch Vorbehalte gegenüber Machbarkeitswahn und all so einem Zeug - da haben wir Alleinstellungsmerkmale auf der Ebene der inneren Orientierung, die wir schon behalten sollten, erstens, um der Integrität unseres eigenen Glaubens willen - daraus leben wir -, aber auch, weil es am Ende den Früchten guttut.
Main: Sie haben vorhin von der Gottesdienstzentrierung gesprochen, die Sie fordern. Kirchenbänke, gerade in Ihrer Kirche, sind - oder in Ihren Kirchen -, sind nicht allzu gut gefüllt. Das ist nichts Neues.
Wendebourg: Ja.
"Mit leeren Kirchen gibt es kein Christentum mehr"
Main: Viele sagen dann, da kommt es gar nicht drauf an, volle Kirchen müssen nicht gleichbedeutend sein mit lebendigem Christentum. Was halten Sie von diesem Argument?
Wendebourg: Es ist sicher wahr. Eine volle Kirche garantiert kein lebendiges Christentum, aber mit leeren Kirchen gibt es gar kein Christentum mehr. Und, wenn wir nicht den Ofen warmhalten, von dem das alles dann abstrahlt - und dieser Ofen wird gefeuert im Gottesdienst -, und wenn da nicht sozusagen laufend nachgefeuert wird, dann ist der Ofen irgendwann kalt und dann strahlt der auch nichts mehr ab.
Main: Mit was befeuert man diesen Ofen am besten?
Wendebourg: Mit guten Predigten, mit schöner Kirchenmusik, die sowohl gute Texte als auch eine herzergreifende Musik hat, durch Gebete, die wirklich Gebete sind und nicht Verlautbarungen und einfach auch durch eine saubere Form. Das haben die Katholiken uns voraus. Das steht da, während bei uns immer rumgebastelt wird. Es gibt Ausnahmen. Im Berliner Dom zum Bespiel wird nicht gebastelt, ja, und so verschiedene. Aber sonst so in der Breite … ja.
Main: Mir scheint, es gibt ja auch in einem Teil der Bevölkerung ein großes Bedürfnis nach Orientierung. Das führt dann nicht zu vollen Kirchenbänken, aber da ist ja ein Bedarf, ein Bedürfnis da, eine Nachfrage. Was also, was muss unbedingt als Erstes aus Ihrer Sicht die evangelische Kirche besser machen?
Wendebourg: Vielleicht eine Klammer voraus - am Ende "machen" können wir diesen Prozess nicht. Also, Überzeugungsprozesse, die größere Gruppen erfassen, die haben wir nicht in der Hand. Die hat man in der Reformation nicht in der Hand gehabt. Die hat man niemals in der Hand. Und das sind so was - altmodisch gesprochen - wie Erweckungen.
Was wir tun können, ist nur, dass wir unser Geschäft so gut wie möglich betreiben, so selbstkritisch wie möglich betreiben und dann hoffen, dass das Samenkörner sind, die aufgehen. Aber "machen", dass wir sagen, also wir machen jetzt eine große Kampagne und christianisieren Deutschland in den nächsten 20 Jahren, das ist ein Irrtum.
Main: Wir sprachen über die vergessenen Reformationen, wie sie die Welt verändert haben, mit Professor Dorothea Wendebourg, Theologin und Kirchenhistorikerin in Berlin. Frau Wendebourg, ganz herzlichen Dank für Ihre Einschätzungen und für Ihre Zeit.
Wendebourg: Bitte sehr.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.