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Kritik an Feinstaubgrenzwerten
"Gesundheitsschutz muss Priorität haben"

Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) will die geltenden Grenzwerte für Stickoxide und Feinstaub überprüfen. Bei anderen Richtwerten könnten Fahrverbote vermieden werden. Scheuer ignoriere dabei die Zahl der Toten durch Feinstaub und Stickoxide, sagte der Grünen-Politiker Michael Cramer im Dlf.

Michael Cramer im Gespräch mit Jörg Münchenberg |
    Autos am frühen Morgen an einer Kreuzung, aufgenommen in Berlin 09.01.2019
    Die Debatte über Fahrverbote wegen zu hoher Schadstoffbelastung wird in Deutschland hitzig geführt (imago / Florian Gärtner)
    Die Richtwerte für die geltenden Feinstaub- und Stickoxidgrenzwerten orientierten sich an der Weltgesundheitsorganisation WHO, bei der seit 30 Jahren mehr als 70.000 wissenschaftliche Arbeiten erschienen seien, betonte Cramer. Für die Gegenposition gebe es noch keine Studie. Eine Gruppe von 112 Lungenfachärzten hatte die aktuell geltenden Schadstoffgrenzwerte infrage gestellt.
    Es passe nicht zusammen, wegen des Appells dieser Gruppe nun alles rückgängig zu machen. Zumal einer der Hauptinitiatoren lange für den Daimler-Konzern gearbeitet habe und befangen sei. "Das ist die falsche Richtung, nur zugunsten der Automobilindustrie, und die Gesundheit der Menschen zu verachten, das geht nicht."
    Porträtbild von Michael Cramer, Studienrat und Abgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen im Europaparlament.
    Michael Cramer ist Abgeordneter der Grünen im Europaparlament. (picture alliance / ZB / Nestor Bachmann)
    Im Verkehr steigen die Emissionen immer noch
    In der Industrie und den Haushalten habe man seit 1990 eine Senkung der Emissionen geschafft, so Cramer weiter. Aber in der gleichen Zeit seien die Ausstöße im Verkehr gestiegen. "Der Verkehr frisst all das auf, was mit Milliarden unserer Steuergelder in anderen Sektoren erreicht wurde." Eine Wende in der Mobilität sei nötig: "Wir können die Mobilität sichern und das Klima retten."

    Das Gespräch in voller Länge:
    Jörg Münchenberg: Für den deutschen Verkehrsminister, ohnehin kein Freund der drohenden Fahrverbote für Diesel in vielen deutschen Städten, ist die Sache klar, die bestehenden Grenzwerte für Stickoxide müssen nach der Kritik der Lungenärzte hinterfragt und gegebenenfalls auch verändert werden, so Andreas Scheuer gestern gegenüber "Bild am Sonntag". Das wolle er dann im nächsten EU-Verkehrsrat zur Sprache bringen. Am Telefon nun der Verkehrsexperte der Grünen im EU-Parlament, Michael Cramer. Herr Cramer, einen schönen guten Morgen!
    Michael Cramer: Schönen guten Morgen!
    Münchenberg: Herr Cramer, muss sich Europa also demnächst auf eine Debatte um richtige Grenzwerte für Feinstaub und Stickoxide einstellen?
    Cramer: Zunächst mal, solche Grenzwerte auf europäischer Ebene gibt es nur, wenn die Mitgliedsstaaten zustimmen, und diesem Grenzwert hat Deutschland auch zugestimmt. Dann kommen 112 Lungenfachärzte von 3800, die das unterschrieben haben, ohne Expertise, nur eine Behauptung, das ist alles falsch. Das geht nicht! Die Richtwerte orientieren sich an der Weltgesundheitsorganisation, wo seit 30 Jahren mehr als 70.000 wissenschaftliche Arbeiten das belegen und immer überprüfen, hier, für die Gegenposition, gibt es noch keine Studie.
    Münchenberg: Trotzdem, Herr Cramer, diese Empfehlung von der WHO haben Sie gerade ja angesprochen, die wird ja schon seit Längerem infrage gestellt, auch von Fachleuten insgesamt. Muss es da nicht trotzdem noch mal diese Zahlen überprüft werden, diese 40 Mikrogramm pro Kubikmeter, die ja für Stickoxide gelten, denn die Konsequenzen sind ja sehr weitreichend, es geht hier um millionenfache Fahrverbote in Deutschland.
    Cramer: Also, die WHO überprüft das seit 30 Jahren ständig. Und in Kalifornien, da gibt es eine Organisation, die sagt, nein, sogar ab 30 ist es schädlich. Also, wir sind da nicht auf dem höchsten Niveau, es gibt andere Untersuchungen. Natürlich muss man das untersuchen, aber wenn jetzt jemand behauptet, und einer der Hauptinitiatoren hat zehn Jahre bei Daimler für Dieselmotoren gearbeitet, der ist befangen, das jetzt ernst zu nehmen und zu sagen, jetzt müssen wir alles rückgängig machen, das passt nicht zusammen. Und vor allen Dingen, Herr Scheuer ignoriert die Verkehrstoten, die Schwerverletzten und natürlich auch diejenigen, die vorzeitig sterben an Stickoxiden, Feinstaub und CO2.
    "Es gibt Leute, die leugnen den Klimawandel"
    Münchenberg: Aber die strenge US-Umweltbehörde EPA hat einen viel höheren Grenzwert, der liegt nämlich bei 103 Mikrogramm.
    Cramer: Ja, aber die kalifornische Behörde, die übrigens damals auch den Dieselskandal aufgedeckt hat, die ist für 30.
    Münchenberg: Wie gesagt, es gibt auch andere Zahlen, und normalerweise sagt man ja, gerade die amerikanische Umweltbehörde, die EPA, sei ja viel, viel strenger als das, was in Europa an Grenzwerten erlassen wird.
    Cramer: Dass man unterschiedliche Positionen hat, das gehört dazu. Es gibt Leute, die leugnen den Klimawandel. Es gibt Leute, die leugnen den Holocaust. Es gibt Leute, die leugnen, dass Feinstaub und Feinstaubpartikel und CO2 und Stickoxide gesundheitsschädlich sind, das gehört dazu.
    Aber wenn praktisch eine große Mehrheit von ausgewiesenen Forschern, nicht Lungenärzten, Forschern, sich weltweit gegen diese 112 aufsteht und sagt, das stimmt nicht, dann muss es uns zu denken geben und nicht sagen, das ist schön, das passt mir ins Konzept, ich bin gegen Fahrverbote, ich will, dass in Deutschland so schnell gefahren wird, wie es geht, da interessiert mich auch nicht, ob in Schweden ein Tempolimit auf Autobahnen die Unfallzahlen reduziert hat, sondern das ist eine einseitige Position von Minister Scheuer, die passt nicht in diese Zeit.
    21.02.2018, Rheinland-Pfalz, Mainz: Fußgänger überquert die Theodor-Heuss-Brücke in der Domstadt. Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig wird am 22.02.18 darüber entscheiden, ob Fahrverbote für Dieselfahrzeuge in Innenstädten rechtmäßig sind. Seit vielen Jahren werden in deutschen Großstädten die Grenzwerte für Feinstaub und Stickoxide überschritten. 
    Seit vielen Jahren werden in deutschen Großstädten die Grenzwerte für Feinstaub und Stickoxide überschritten. (dpa / picture alliance / Andreas Arnold)
    "Die Gesundheit der Menschen zu verachten, das geht nicht"
    Münchenberg: Aber Herr Cramer, ist das Problem nicht auch, viele Grenzwerte werden ja in vielen deutschen Städten nur minimal überschritten, und da sollte ja schon auch klar sein, wie gefährlich die Stickoxide wirklich sind.
    Cramer: Richtig! Und diese Grenzwerte sind festgelegt worden, sie werden manchmal wenig überschritten, manche unheimlich viel. Beim Dieselskandal haben wir ja etwas ganz anderes erlebt, seit drei Jahren keine Reaktion darauf, sie dürfen nicht in die USA fahren, da würden sie sofort verhaftet, VW zahlte 18 Milliarden an Strafe, hier in Deutschland passiert nichts. Das ist die falsche Richtung, nur zugunsten der Automobilindustrie und die Gesundheit der Menschen zu verachten, das geht nicht.
    Münchenberg: Noch mal, ich glaube, viele fragen sich ja, sind diese Fahrverbote tatsächlich verhältnismäßig, weil die Grenzwerte eben nur geringfügig überschritten werde und es eben doch auch viele Wissenschaftler gibt, die sagen, diese Grenzwerte sind vielleicht auch einfach viel zu streng.
    Cramer: Das kann ja alles ein, aber wenn die Politik nicht agiert, dann entscheiden die Gerichte. Und die Politik, zum Beispiel die Bundesregierung, verweigert ja die blaue Plakette. Das wäre doch eine Dimension, dass ich die größten Stinker aus der Stadt raushalte. Nein, das will sie nicht. Deshalb muss jede Stadt einzeln jetzt agieren, und wie die Kontrolle möglich ist, das ist auch fraglich. Also, wenn die Politik versagt, entscheiden die Gerichte. Ich hätte es lieber, es gäbe die blaue Plakette, dann hätten wir wenigstens Grenzwerte, die dann eingehalten und überprüft werden können.
    Münchenberg: Aber ist es nicht auch ein Problem der Akzeptanz, dass eben gerade nur in Deutschland das jetzt so drastische Konsequenzen wie die Fahrverbote haben wird, aber nicht in anderen EU-Staaten, obwohl ja zum Beispiel auch Frankreich, zum Beispiel auch Belgien ja ebenfalls mit schlechter Luft zu kämpfen hat.
    Cramer: Richtig, alle haben damit zu kämpfen, aber in Deutschland ist das Privileg der Dieselfahrzeige unvergleichbar mit anderen Ländern. Jeder Liter Diesel wird mit 18 Cent vom Steuerzahler subventioniert. Warum? Damals hieß es, der Diesel verbraucht weniger Sprit, deshalb ist die CO2-Belastung besser. Dadurch, dass aber der so stark unterstützt wird, sind die Fahrzeuge größer und schwerer geworden – und die Bilanz ist negativ.
    Und damals wurden die Feinstaubpartikel und Stickoxide überhaupt nicht berücksichtigt. Seit drei Jahren geht da keiner ran, dieses Privileg zugunsten vorzeitiger Todesfälle und schwerer Verletzungen, das zu ändern, macht die Bundesregierung seit drei Jahren nicht.
    Hamburg: Langsam fließt der Verkehr auf der A7 an der Baustelle des Autobahndeckels Stellingen.
    Langsam fließt der Verkehr auf der A7 in der Nähe von Hamburg. (picture alliance / Christian Charisius)
    "Herr Scheuer müsste eine andere Politik machen"
    Münchenberg: Aber noch mal, Herr Cramer, sind die Deutschen vielleicht einfach zu dumm, weil sie die Brüsseler Vorgaben ernst nehmen und tatsächlich zum Beispiel direkt an der Straße messen, was andere nicht tun?
    Cramer: Ich bin für eine Überprüfung, und da, wo Defizite sind, das sollte man machen. Nein, aber da zitiere ich gerne Winfried Kretschmann, der mal gesagt, was für die Amerikaner die Waffe ist für die Deutschen das Gaspedal – und das spiegelt sich in der Politik auch wider. Herr Scheuer müsste eine andere Politik machen, denn der Verkehrssektor ist der einzige Sektor in der Europäischen Union, wo die Emissionen seit 1990 gestiegen sind, und zwar um 25 Prozent. In der Industrie haben wir fast eine Senkung um 40 Prozent, in den Haushalten um 25 Prozent erreicht.
    Das heißt, der Verkehr frisst all das auf, was mit Milliarden unserer Steuergelder in anderen Sektoren erreicht wurde. Deshalb brauchen wir eine Veränderung der Mobilität. Ich bin davon überzeugt, wir können die Mobilität sichern und das Klima schützen.
    Münchenberg: Aber noch mal, Herr Cramer, hat der Verkehrsminister nicht recht, wenn er jetzt sagt, indirekt sozusagen, ja, dann machen wir es eben genauso bei der Messung der Schadstoffe, dass wir die Messstellen ein bisschen weiter weg vielleicht von der Straße stellen?
    Cramer: Nein! Ein Gesetz, das nicht eingehalten wird, ist überflüssig. Dann sollte er sich dafür einsetzen, dass in anderen Ländern auch so gemessen wird. Übrigens ist es auch in den Städten in Deutschland unterschiedlich: Die einen machen korrekte Überprüfungen, die anderen weniger. Also, ganz vorsichtig. Aber sie müssen die Gesundheit schützen, das muss die Priorität haben.
    "Wir könnten das mit der blauen Plakette anders gestalten"
    Münchenberg: Aber Sie räumen schon ein, gerade wenn es um die Messung der Grenzwerte geht, da gibt es in Europa eine unterschiedliche Handhabung, und das ist doch ein Problem.
    Cramer: Ja! Nicht nur in Europa, sondern auch in Deutschland. Einige Städte machen es gut, andere nicht. Und die Städte, wo die Belastung am stärksten ist, die sind da am vorsichtigsten, weil natürlich jeder Politiker fürchtet Fahrverbote. Aber deshalb könnten wir es ja anders machen, wir könnten das mit der blauen Plakette anders gestalten, wir könnten uns auf europäischer Ebene, Deutschland hat großen Einfluss, sich dafür einsetzen, dass die Grenzwerte eingehalten werden, dass die Überprüfungen korrekt sind.
    Davon habe ich nichts gehört, ich weiß nur immer, dass Deutschland, wenn es um Klimawandel geht, im Wording sind sie wunderbar, aber faktisch bremsen sie fast alles aus.
    Münchenberg: Aber Herr Cramer, ist am Ende nicht das Problem mit der Einhaltung der CO2-Grenzwerte, die ja von Benzinern ausgestoßen werden, ist das nicht das viel größere Problem am Ende? Weil das Problem mit den Stickoxiden wird sich in den nächsten Jahren wahrscheinlich selbst erledigen, und viele Menschen sind ja jetzt wieder auch vom Diesel auf den Benziner umgestiegen. Anders formuliert, verkämpfen sich da nicht auch Umweltschützer und Verkehrsexperten?
    Cramer: Nein, wir müssen auf allen Ebenen das Beste machen. Es gibt bessere Benzinfahrzeuge, es gibt bessere Dieselfahrzeuge. Das war ja auch der Grenzwert in Deutschland, dann hat VW, sie wollten unbedingt viel verkaufen, für 300 Euro pro Auto hätten sie die Grenzwerte einhalten können. Das wollte Winterkorn aber nicht. Da haben sie lieber Zeit und viel Geld investiert in Betrügereien.
    Und diese Betrüger sind bis heute nicht angeklagt, aber in den USA sind sie angeklagt. Und der Angestellte von VW sitzt dort in Haft und wurde gleich gekündigt - das ist doch alles verrückt!
    Münchenberg: Sagt der Verkehrsexperte der Grünen im Europäischen Parlament, Michael Cramer. Herr Cramer, vielen Dank für Ihre Zeit heute Morgen!
    Cramer: Danke auch, auch für die strengen Nachfragen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.