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Prozess um „NSU 2.0“-Drohungen
Kritik an Fokussierung auf Einzeltäter

Auch journalistische Recherche hat die „NSU 2.0“ genannte Drohbrief-Serie aufgedeckt. Vor Prozessbeginn geben sich einige Opfer damit nicht zufrieden. Sie wollen, dass Medien nicht nur über den Angeklagten berichten, sondern auch sein Umfeld in den Blick nehmen. Eine Kritik, die Experten teilen.

Text: Michael Borgers / Pitt von Bebenburg im Gespräch mit Antje Allroggen | 16.02.2022
Kunstaktion gegen rechte Strukturen bei der Polizei
Ein Schriftzug, auf das Foyer des Polizeipräsidiums in Frankfurt projiziert - mit der Aktion wollten Künstler gegen rechte Strukturen bei der hessischen Polizei protestieren (picture alliance/dpa)
Insgesamt 116 Schreiben sollen es gewesen sein. E-Mails, SMS oder Faxe an Frauen und Repräsentanten von Behörden und Institutionen. Beleidigungen, Volksverhetzendes, Morddrohungen. Unterschrieben mal mit „Heil Hitler“ und stets mit „NSU 2.0“, einer Anspielung auf die rechtsextreme Mordserie zwischen 2000 und 2007.
Verantwortlich für die Schreiben soll Alexander M. sein. Ein arbeitsloser Berliner IT-Techniker, dem nun vor dem Landgericht Frankfurt der Prozess gemacht wird. Vorgeworfen werden ihm dort versuchte Nötigung und Bedrohung, öffentliche Aufforderung zu Straftaten, Volksverhetzung, der Besitz kinder- und jugendpornografischer Schriften sowie ein Verstoß gegen das Waffengesetz.

Opfer kritisieren Einzeltäter-Erklärung

Ein Einzeltäter also, so sieht es die Staatsanwaltschaft. Eine Erklärung, mit der einige der Opfer nicht einverstanden sind. „Für uns ist es ein Skandal, dass die Ermittlungen gegen einen vermeintlichen Einzeltäter geführt werden“, erklärten vor Verhandlungsbeginn die Rechtsanwältin Seda Basay-Yildiz, die Linken-Politikerinnen Janine Wissler, Martina Renner und Anne Helm sowie die Journalistin Hengameh Yaghoobifarah.

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Denn, so heißt es weiter, „es gibt für uns zwingende Hinweise auf mindestens gezielte Datenweitergabe aus Polizeikreisen“. Im Mittelpunkt der Berichterstattung nun sollte deshalb nicht der Angeklagte stehen.

FR-Journalist von Bebenburg: „Schwung in Ermittlungen“ gebracht

Der Journalist Pitt von Bebenburg hatte zur „NSU 2.0“-Serie recherchiert und war dafür im vergangenen Jahr mit dem Otto-Brenner-Preis für kritischen Journalismus ausgezeichnet worden. Zu einer „vorbildhaften Art des Journalismus“ gratulierte damals die heutige Bundesinnenministerin Nancy Faeser.
Der Angeklagte und mutmaßliche Verfasser der «NSU 2.0»-Drohschreiben nimmt zu Beginn des Prozesses vor dem Frankfurter Landgericht neben seinem Verteidiger auf der Anklagebank Platz.
Der Angeklagte und mutmaßliche Verfasser der «NSU 2.0»-Drohschreiben nimmt zu Beginn des Prozesses vor dem Frankfurter Landgericht neben seinem Verteidiger auf der Anklagebank Platz (dpa/Arne Dedert)
Er habe herausgefunden, dass neben der Rechtsanwältin Seda Basay-Yildiz auch andere Frauen betroffen gewesen seien, sagte von Bebenburg, Hessenkorrespondent der „Frankfurter Rundschau“, im Deutschlandfunk. In allen Fällen seien persönliche Daten verwendet worden, die von Polizeicomputern abgerufen worden seien. „Damit kam auch Schwung in die Ermittlungen, die bis dahin gelahmt hatten“, erinnert sich der Journalist.
Von Bebenburg kann Kritik und Forderung der Opfer nun nachvollziehen. Er sei zwar froh, „dass endlich jemand vor Gericht steht“. Doch greife die Staatsanwaltschaft mit ihrer Erklärung zu kurz. Es müsse auch um die Rolle der Polizei gehen, denn am Ende gehe es neben der Frage nach Mittätern auch um das „Vertrauen in die staatlichen Institutionen.“

Von Oktoberfestattentat zu den NSU-Morden

Der Journalist Ulrich Chaussy beschäftigt sich im Zusammenhang mit dem Oktoberfestattentat von 1980 seit Jahrzehnten mit Einzeltätertheorien – und den Strukturen dahinter. Bei dem rechtsextremen Anschlag in München wurden 13 Menschen getötet und Hunderte verletzt.
Damals seien die ermittelnden Behörden von Anfang an von einem Einzeltäter als einzige Erklärung ausgegangen, „obwohl es reichlich andere gab“, so Chaussy gegenüber dem Deutschlandfunk. Entsprechend seien Journalisten wie er auch auf viele „offene Fragen“ gestoßen. Ihre kritischen Recherchen bis dahin hätten sie aber zu Papier gebracht -  auch die zu möglichen weiteren Tätern.
Ulrich Chaussy
Ulrich Chaussy, Journalist, Buchautor und Experte für Rechtsradikalismus (privat)
Jahrzehnte später aber habe sich seine Zunft zurecht Kritik gefallen lassen müssen, findet Chaussy, nämlich bei der Aufarbeitung der Morde der NSU-Terrorgruppe. „Da haben auch wir Journalisten ziemlich versagt, indem wir einfach keine Sensibilität hatten.“ Beispielsweise dann, wenn von „Dönermorden“ die Rede gewesen sei. „Solche Ermittlungen kritisch zu begleiten, hätte früher passieren müssen.“
Seitdem habe sich allerdings viel getan, beobachtet der Journalist: Medien würden der Polizeiarbeit mit mehr Sachkenntnis und Sensibilität begegnen. Dass Taten, wie nun die „NSU 2.0“-Drohungen, als Einzeltaten dastehen– für Chaussy ist das „nach wie vor ein Problem der Justiz“.

Journalist Steinhagen: Hinterfragen, wenn Behörden von Einzeltätern sprechen

Auch für Martin Steinhagen stellen die NSU-Morde eine Art Zäsur dar. Diese hätten Medien für das Thema Einzeltäter sensibilisiert, glaubt er. Der Journalist hat sich bei den Recherchen für sein Buch „Rechter Terror“ über die Ermordung des CDU-Politikers Walter Lübcke ebenfalls damit beschäftigt. „Wenn Behörden von einem Einzeltäter sprechen, müssen Medien das stets kritisch hinterfragen“, betont Steinhagen.
Auf einem Tisch stehen ein Dutzend Mikrofone, im Hintergrund sind Journalisten, zum Teil mit Kameras zu sehen.
Medien haben die juristische Aufarbeitung der NSU-Morde eng begleitet - davor aber kaum kritisch begleitet, so Ulrich Chaussy (picture alliance / dpa / Inga Kjer)
Das Problem an der Einzeltäter-Theorie sei, dass diese häufig dazu führe, „dass die Strukturen oder manchmal das Umfeld der Ermöglicher hinter einer Tat zu verschwinden drohen“. Dass diese Vorstellung in den vergangenen Jahren immer mehr unter Druck geraten sei, habe mit journalistischer Recherche zu tun, „aber insbesondere auch mit Kritik aus der Zivilgesellschaft und von denjenigen, die von solchen Taten betroffen sind“.
So wie im aktuellen Fall die Frauen, die an Medien appellieren, von der Einzeltätertheorie abzusehen.