Es ist das erste Mal, dass eine deutsche Fußball-Nationalmannschaft sich so öffentlich für die Menschenrechte ausgesprochen hat, wie bei den ersten Spielen in der Qualifikation für die WM 2022 in Katar. Gegen Island tragen die Spieler Trikots mit der Aufschrift "Human Rights", gegen Rumänien und Nordmazedonien verweist die DFB-Elf auf die 30 Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Auch andere Nationen äußern sich ähnlich.
Mit Verwunderung und Enttäuschung habe man in Katar die Proteste gegen Menschenrechtsverletzungen und die Diskussionen um einen Boykott der WM 2022 aufgenommen, sagt Danyel Reiche, Politikwissenschaftler an der Georgetown University in Doha. Mit Mindestlohn und Möglichkeiten für Jobwechsel und dem Verlassen des Landes seien Gastarbeiter mittlerweile deutlich besser gestellt. Katar setze damit neue Standards in der Region.
Die entsprechenden Gesetze würden auch umgesetzt, erklärt Reiche: "Sicherlich gibt es noch anfangs Probleme bei der Umsetzung der Arbeitsmarktreform. Was ich sehr positiv finde, dass auch lokale Medien anfangen, über Verstöße gegen diese neuen Gesetze zu berichten - das macht mir Hoffnung, dass die Gesetze auch adäquat umgesetzt werden." Auch Menschenrechtsorganisationen spielten eine wichtige Rolle.
Die allerdings sehen die Entwicklung in Katar kritischer. Die Reformen seien zwar positiv, meint Amnesty International. Allerdings werden sie laut der NGO durch eine schwache Umsetzung untergraben. Zudem seinen die Inspektionen inadäquat, um Missbrauch zu entdecken. Human Rights Watch veröffentlichte noch im August 2020 einen Bericht, in dem Arbeiter berichten, dass ihnen der Lohn zu spät oder gar nicht gezahlt wird.
Auch die Sportschau hat in einer Dokumentation aufgezeigt, wie problematisch die Lage der Gastarbeiter auch weiterhin ist.
"Nicht mit Deutschland oder Norwegen vergleichen"
Reiche legt dagegen Wert darauf, dass Katar an vergleichbaren Ländern gemessen wird: "Es ist sehr wichtig, dass wir Katar nicht mit Deutschland oder Norwegen vergleichen, sondern mit den anderen Ländern in der Region. Und im Vergleich mit den anderen Ländern in der Region ist Katar jetzt ein Pionier. Und der Druck, der ausgeübt werden sollte, ist nicht nur gegenüber Katar, sondern auch gegen Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten - dass die dem positiven Beispiel Katars folgen."
"Ich denke, die Fußball-Weltmeisterschaft wird in die Sportgeschichte eingehen als das Sportgroßereignis, das ein Land am meisten kulturell, politisch und ökonomisch verändert hat", meint Reiche. Und zwar nachhaltig. "Ich bin sehr optimistisch, dass der Reformweg fortgeschritten wird." Denn Katar gehe es nicht nur um Reputation und Ansehen in der Welt, sondern vor allen Dingen um nationale Sicherheit. Das Land wolle gute Verhältnisse mit möglichst vielen Ländern.
Es gebe zwar gerade in der katarischen Wirtschaft auch konservative Strömungen, die sich gegen die Veränderungen sperren. Aber es gebe viele Mitglieder der Königsfamilie, die das Land erneuern wollen. Es gelte, diesen Teil der Königsfamilie zu unterstützen, so Reiche.
Kroos Stellungnahme "sehr selektiv"
Kritik an den Arbeitsbedingungen und der Menschenrechtslage hatte auch Nationalspieler Toni Kroos in seinem Podcast geäußert. Reiche verweist seinerseits darauf, dass Kroos' Verein Real Madrid von "Emirates", der staatlichen Fluggesellschaft der Vereinigten Arabischen Emiraten, gesponsert wird.
Kroos Gehalt werde damit in Teilen von den Vereinigten Arabischen Emiraten bezahlt, sagt Reiche: "Sicherlich ist seine Stellungnahme sehr selektiv, und Menschenrechte sind universell, und er sollte auch unter anderem die miserablen Arbeitsbedingungen der Flugbegleiterinnen und Flugbegleiter bei Emirates ansprechen."
Zudem habe Kroos sich nicht geäußert, als die Emirate mit anderen Ländern der Region Katar ab 2017 blockiert hatte. "Ich finde, dass Toni Kroos hier auf der verkehrten Seite der Geschichte steht", so Reiche. Statt es Katar zu erschweren, sollte er das Land unterstützen und einfordern, dass auch die VAE dem Weg folgen.
Reiche arbeitet an einem Campus der US-amerikanischen Georgetown-Universität in Doha, der von der Qatar Foundation finanziert wird. Die Stiftung wird von Mitgliedern der Familie des Emir geleitet und hat zwischen 2014 und 2019 mehrere hundert Millionen Dollar (Link öffnet Excel-Tabelle) an die Georgetown-Universität überwiesen.
Seine eigene Unabhängigkeit sieht Reiche dennoch nicht eingeschränkt: "Es werden auch Themen wie Homosexualität ganz offen in unseren Kursen diskutiert. Und insofern kann ich mich frei äußern und bin da sicherlich in einer Sonderstellung. Ich habe aber auch den Vorteil dadurch, dass ich hier vor Ort bin, vielleicht Zugang zu Informationen zu habe, die man von außen nicht so ganz hat." So könne er einen differenzierteren Blickwinkel entwickeln.
Boykott wäre "absurd"
Grundsätzlich begrüßt Reiche die Einmischung von Sportlern: "Ich finde es klasse, dass die Zeiten des 'shut up and dribble' vorbei sind und Sportler sich öffentlich zu gesellschaftlichen Missständen äußern." Der "Lackmustest" seien jetzt die Olympischen Winterspiele in China, wo mehr als eine Millionen Uiguren in Lager eingesperrt sind. "Es bleibt abzuwarten, inwiefern deutsche Sportler sich auch gegen diese Missstände aussprechen. Denn ansonsten wird man im Nahen Osten die Kritik an Katar als Islamophobie deuten."
Einen Boykott der WM 2022 durch die deutsche Mannschaft nennt Reiche absurd im Licht der Teilnahme des DFB an der WM 1978 in Argentinien, wo nahe der Stadien Oppositionelle gefoltert wurden. Katar verdiene dagegen Unterstützung bei seinem Erneuerungsprozess: "Ich sehe hier Veränderungen zum Positiven. Sicherlich brauchen wir eine grundsätzliche Debatte darüber, unter welchen Bedingungen wir Sportgroßveranstaltungen in bestimmte Länder vergeben. Interessanterweise findet diese Debatte jetzt im Fall von Katar statt." Nun hoffe er auf einen differenzierten Diskurs.