Wer von Indien spricht, spricht gern auch von der größten Demokratie der Welt. Dabei scheint die schiere Größe des Landes mit seiner Einwohnerzahl von mehr als einer Milliarde weniger bedenkenswert als der Umstand, dass in Indien die Armen nicht nur die überwältigende Mehrheit der 814 Millionen Wahlberechtigten stellen, sondern eben auch in größerer Zahl abstimmen als die Wohlhabenden. Und das ist durchaus ein Alleinstellungsmerkmal des Landes:
"Überall sonst, ohne Ausnahme, ist das Verhältnis von Besitzstand und Wahlbeteiligung umgekehrt – nirgendwo natürlich schärfer ausgeprägt als in den USA. Selbst in Brasilien, der anderen großen (sub)tropischen Demokratie, wo (anders als in Indien) eine Wahlpflicht besteht, sinkt der Prozentsatz der Wahlbeteiligung in dem Maße ab, in dem Armut und Analphabetismus wachsen."
Indien gestern und heute
Diese Erkenntnis verdanken wir dem britischen Historiker Perry Anderson, dessen Essays über die "Idee Indien" unter dem Titel "Die indische Ideologie" jetzt auch auf Deutsch erschienen sind. Pünktlich zum indischen Wahljahr. Anderson rüttelt darin mächtig am Bild einer Nation, die sich, wie die meisten anderen auch, gern durch rosarote Brillengläser sieht. Anderson trübt den Blick, indem er das Land einer schonungslosen Analyse unterzieht und das in drei Essays oder drei Kapiteln: Die Themen Unabhängigkeit, Teilung und Republik dienen ihm als Gerüst, um seine Thesen zu untermauern. Dabei geht er nicht zimperlich vor. Mahatma Gandhi nimmt er sich ebenso vor wie Jawaharlal Nehru, den ersten Premierminister des Landes, der für ihn vor allem anderen ein indischer Nationalist war. Dabei legt Anderson auch die religiöse Natur der indischen Teilung bloß.
Da ist dann nicht mehr viel zu spüren vom romantischen "Um Mitternacht die Freiheit", das Larry Collins und Dominique Lapierre einst in ihrem gleichnamigen Bestseller verströmten.
Anderson rechnet vielmehr ab mit einer überstürzt in die Wege geleiteten Unabhängigkeit, die rund eine Million Menschenleben kosten sollte und eine der größten Flüchtlingsströme der Geschichte in Gang setzte. Doch auch wenn er konstatiert, dass Mahatma Gandhis Erfolge zulasten der Sache gingen, kann er seine Bewunderung für den indischen Widerstandskämpfer nicht verhehlen, wobei er die Talente des "halb nackten Fakirs", wie Winston Churchill Gandhi mal verhöhnte, genau benennt:
"Bei der Orchestrierung dieser Bewegung (gemeint ist die antibritische Massenbewegung) zeigt sich, dass in Gandhi Begabungen in einer Weise zusammentrafen, wie es bei einem politischen Führer selten der Fall ist. Die wichtigste war seine charismatische Fähigkeit, die Emotionen der Berührung zu mobilisieren. Auf dem Lande empfingen ihn ehrfürchtige Menschenmengen wie einen Halbgott. Doch dieser Zug, so ausgeprägt und spektakulär er in seinem Falle auch war, ist bei der Führerschaft jeder nationalistischen Bewegung mehr oder minder vorauszusetzen. Was Gandhi einmalig machte, war die Kombination seines Charismas mit drei weiteren Begabungen. Er war ein hervorragender Organisator und Spendeneintreiber – fleißig, effizient, sorgfältig –, der die Kongresspartei von oben bis unten umbaute, sie auf nationaler Ebene mit einer ständigen Exekutive ausstattete, heimatsprachliche Führungsgremien in den Provinzen schuf und lokale Vertretungen in den Distrikten, und der dafür sorgte, dass die Zahl der Delegierten dem Bevölkerungsanteil entsprach – von einer wohl gefüllten Kasse nicht zu reden.
Andererseits war er–obwohl von seinem Temperament her in vielerlei Hinsicht ein Autokrat– an der Macht per se nicht interessiert und blieb immer ein vorzüglicher Vermittler zwischen verschiedenen Individuen und Interessengruppen sowohl innerhalb der Partei als auch bei den bunt gemischten Unterstützern in der Gesellschaft. Schließlich war er, obwohl kein großer Redner, ein außerordentlich scharfsinniger und gewandter Kommunikator, wie die hundert Bände mit seinen Artikeln, Büchern, Briefen, Telegrammen belegen (weit umfangreicher als die Werke von Marx, Lenin, gar die von Mao). Zu diesen politischen Talenten kamen eine stete Herzlichkeit, ein koboldhafter Humor und ein eiserner Wille. Es überrascht nicht, dass eine derart magnetische Persönlichkeit solch leidenschaftliche Bewunderung auf sich ziehen sollte, damals wie seither."
Kastenwesen als Stabilisator der Demokratie
Anderson kratzt aber durchaus auch am Heiligenbild Gandhis, erläutert, dass der mehr an Religion als an Politik interessiert war, ein ambivalentes Verhältnis zur Gewalt hatte und eine eigene Form des Größenwahns praktizierte.
Dabei scheint im heutigen Indien wirklich nicht viel mehr von ihm geblieben als sein Antlitz auf einer Banknote. Eng verbunden mit dem Wirken Gandhis ist der Aufstieg der Kongresspartei, die bislang beinahe immer in Indien regierte und die der Autor als Partei der Hindus begreift. Bei der Familie Gandhi sieht er ein "dynastisches System" am Werk, das bis heute anhält. Bei den diesjährigen Parlamentswahlen trat bekanntlich Rahul Gandhi für die Kongresspartei an, er ist der Enkel von Indira Gandhi, die nicht die Tochter von Mahatma Gandhi, sondern die von Nehru ist. Der oft gehörte und nicht zu bestreitende Vorwurf an diese Familie lautet: der Name zählt, nicht die Qualifikation.
Darüber hinaus macht Anderson klar, dass Indien bis heute unter seinen ausufernden Korruptionen, politischen Mauscheleien und Machenschaften leidet und damit immer wieder seine Rechtsstaatlichkeit infrage stellt. Die Extreme des immer noch gültigen Kastenwesens tun seiner Meinung nach ihr Übriges dazu, wobei Anderson gerade im System der vorgeschriebenen Ungleichheit einen der Garanten der indischen Demokratie sieht:
"Die Rolle der Kasten im politischen System sollte sich von den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit bis zur Gegenwart durchaus verändern. Was sich nicht verändern sollte, das war ihre strukturelle Bedeutung als innerstes Geheimnis der indischen Demokratie. ( ... ) Das Kastensystem hat die indische Demokratie vor dem Zerfall bewahrt. Es hat jede einzelne unterprivilegierte Gruppe in eine unveränderliche hierarchische Position hineingenagelt und sie von allen anderen getrennt;"
Das Kastenwesen als Stabilisator der Demokratie. Eine ebenso kühne wie einleuchtende These. Viel ungnädiger behandelt Anderson den indischen Säkularismus, der für ihn nur ein angeblicher ist, attestiert er dem Land doch eine systematische Privilegierung der Hindus, der größten Religionsgemeinschaft des Landes, gefolgt von den Muslimen, die laut Anderson nur Bürger zweiter Klasse seien. Die Religion spielte von Anfang an eine entscheidende Rolle im Unabhängigkeitskampf, wobei Anderson mit aufschlussreichen Analogien aufwartet, etwa wenn er die parlamentarische Demokratien von Indien, Israel und Irland vergleicht. Genau untersucht er auch die für das indische Selbstverständnis zentralen Begriffe: Demokratie, Säkularismus und Einheit.
Kein Buch für Einsteiger
Mit seinen drei Essays gelingen Perry Anderson eindrucksvolle Analysen der indischen Vergangenheit und Gegenwart. Wer sich damit auseinandersetzt, sollte mit den historischen, politischen und geografischen Begebenheiten Indiens einigermaßen vertraut sein, setzt der Autor doch viel voraus, ohne sich mit Erklärungen aufzuhalten. Dies ist kein Buch für einen ersten Einblick. Anderson benennt vielmehr sehr genau und oft auch harsch die Schwachstellen des Landes, beleuchtet auch die Hintergründe des Kaschmir-Konfliktes und der Aufstände in Nagaland. Dabei gelingt ihm ein außerordentlich differenziertes Bild eines widersprüchlichen Landes.
"Die 'Idee Indien' ist nicht lediglich ein Mythengewebe. Die Koexistenz so vieler Sprachen, die Dauerhaftigkeit der parlamentarischen Regierungsformen, die Lebendigkeit des kulturellen Lebens, die Energie vieler intellektueller Debatten und die Eleganz der besten gesellschaftlichen Umgangsformen - all dies bietet tatsächlich Anlass zu jenem Stolz, der es auch hervorgebracht hat. Aber die Realität der Union ist komplizierter und oft sehr viel dunkler."
Perry Anderson: "Die indische Ideologie",
aus dem Englischen von Joachim Kalka, Berenberg Verlag.
aus dem Englischen von Joachim Kalka, Berenberg Verlag.