Deutschlandfunk: Aber Herr Herzog sagt: "So ist nun mal die Lage. Wir verschönen nichts."
Engelen-Kefer: Die Lage ist so, dass durchaus Reformmöglichkeiten bestehen. Es geht nur um die Frage, was politisch gewollt ist und ob tatsächlich eine Aushöhlung der Solidarität bei der Sozialversicherung gewollt ist, denn darum geht es ja bei dem Vorschlag der Kopfpauschalen. Danach soll die Belastung über Beiträge nach der Höhe des Einkommens und der Beitrag der Arbeitgeber gemäß der Entwicklung der Ausgaben entfallen. Das sind zwei wichtige Aspekte der Solidarität. Wir sind der Auffassung, dass die Solidarität verändert werden muss, gar keine Frage. Wir sind auch der Auffassung, dass vor allem personalintensive Betriebe und untere Einkommen viel zu stark belastet sind. Das belastet das Wirtschaftswachstum, das belastet die Beschäftigung. Aber unsere Antwort ist nicht weniger, sondern mehr Solidarität. Deshalb wollen wir das, was unter dem Stichwort Bürgerversicherung läuft, stufenweise erreichen, indem mehr Personen in die Solidarität einbezogen werden und wenn es erforderlich ist auch andere Einkunftsarten und hier keine Aushöhlung vornehmen.
Deutschlandfunk: Ist die Kopfpauschale wirklich so unsolidarisch und so sozial ungerecht, wenn am Ende 43 Milliarden Euro aus Steuermitteln für Sozialschwache in Kranken- und Pflegeversicherung gepumpt werden?
Engelen-Kefer: Erst einmal muss man die 43 Milliarden Euro haben. Wir haben ja nun ein klein wenig Erfahrung mit der Bereitschaft der Finanzminister, solche Riesenbeiträge zu zahlen. Deshalb habe ich dort meine großen Bedenken und ich finde es gerechter zu sagen, warum machen wir es denn nicht bei der Erhebung der Beiträge gleich so, dass die Höhe des Einkommens berücksichtigt wird. Das ist doch eine vernünftige Lösung und die müssen wir zukunftsfest machen und nicht umgekehrt jetzt hier den Griff nach dem Steuerzahler vornehmen. Unabhängig davon sind auch wir der Auffassung, dass nach wie vor in den sozialen Sicherungssystemen zu viele sogenannte versicherungsfremde Leistungen immer noch sind und dass von daher gesehen sowieso die Notwendigkeit besteht, mehr Steuermittel zur Verfügung zu stellen. Zunächst einmal wollen wir aber, dass die Solidarität der Bemessung der Beiträge nach der Höhe des Einkommens nicht aufgegeben wird.
Deutschlandfunk: Das heißt für Sie unter dem Strich: die Herzog-Vorschläge sind noch schlimmer als die Rürup-Vorschläge?
Engelen-Kefer: In der Beziehung ja. Herzog hat das getan, wozu Rürup in seiner Kommission ja keine Mehrheit hatte.
Deutschlandfunk: Denn Rürup ist ja auch für die Kopfpauschale bei der Krankenversicherung.
Engelen-Kefer: Ja. Das ist aber Rürup persönlich. Seine Kommission hat ihm dazu die Mehrheit nicht gegeben. Deshalb hat er ja zwei Wege vorgeschlagen und wir bevorzugen ganz klar den Weg von mehr Solidarität und nicht von weniger.
Deutschlandfunk: Nehmen wir das Thema Rente. Beide Kommissionen schlagen vor, das Eintrittsalter auf 67 Jahre anzuheben. Was wäre daran so schlimm, Frau Engelen-Kefer, zumal das ganze ja erst in 20 oder 30 Jahren kommen soll?
Engelen-Kefer: Schlimm ist vor allem, dass wir uns nicht mit dem befassen, was jetzt dringend erforderlich ist, nämlich die Möglichkeit für ältere Arbeitnehmer, länger im Erwerbsleben unter vertretbaren humanen Bedingungen zu bleiben. Es ist doch kaum nachvollziehbar. Heute liegt das durchschnittliche Alter des Eintritts in die Rente 60,5 Jahre, also praktisch beinahe fünf Jahre niedriger als die gesetzliche Altersgrenze von 65 Jahren. Hier sind riesige Spielräume, erst einmal dass Menschen im Erwerbsleben verbleiben können, dass sie ihr Einkommen haben, dass sie Beiträge zahlen, und es ist eine enorme Entlastung der sozialen Sicherungssysteme, vor allem der Rentenversicherung und der Arbeitslosenversicherung.
Deutschlandfunk: Nur auf 65 Jahre im Schnitt wird man vermutlich nie kommen, wenn man vielleicht nicht das Eintrittsalter generell anhebt?
Engelen-Kefer: Das ist doch im Grunde genommen eine sehr komische Argumentation: Weil ich auf 65 Jahre nicht komme, muss ich das Rentenalter anheben. Das heißt doch nichts anderes, als dass ich die Rentenleistungen weiter kürze. Das steckt doch dahinter, dass diejenigen, die dann früher rausgedrängt werden, es gesundheitlich nicht schaffen oder eben schlicht keine Arbeitsplätze haben, dann höhere Abschläge von ihrer Rente zahlen müssen. Das ist ja auch das Endergebnis der Vorschläge von Herzog, dass das Rentenniveau noch weiter nach unten gebracht werden soll, praktisch um 10 Prozentpunkte unter das Niveau, das bisher vorgesehen ist.
Deutschlandfunk: Das ist eine Lücke, die dann durch die Privat- oder Betriebsrente ausgeglichen werden soll?
Engelen-Kefer: Ja. Zunächst einmal müssen wir eine solche Betriebsrente haben. Die Gewerkschaften sind ja durchaus bereit mitzuwirken, die kapitalgedeckte Altersvorsorge auszuweiten über tarifliche oder betriebliche Modelle. Wir haben es inzwischen für den größten Teil der Arbeitnehmer. Nur viele Arbeitnehmer sind offensichtlich nicht in der Lage, hierfür noch zusätzliche finanzielle Mittel abzuzweigen. Deshalb müssen wir sehen, wo wir hier eine Verbesserung erreichen. Das ist etwas, was wir durchaus konstruktiv mitmachen, aber nicht zu Lasten des Niveaus in der gesetzlichen Rentenversicherung. Natürlich sehen wir, dass wir weiter nach unten kommen müssen. Das ist gerade infolge der Verlängerung des Lebensalters, des Wegbrechens der Einnahmebasis sicherlich erforderlich, aber nicht in so starkem Ausmaß, wie Herzog das vorschlägt.
Deutschlandfunk: Um noch einmal beim Renteneintrittsalter zu bleiben - wie weit teilen Sie die Logik: Wenn wir länger leben, dann sollen wir auch länger arbeiten?
Engelen-Kefer: Ich teile die Logik durchaus und deshalb sage ich ja, wir sollten uns alle in der Gesellschaft bewegen und dafür sorgen, dass Menschen wieder so lange bis zum Eintritt in die gesetzliche Altersgrenze arbeiten können. Ich habe Ihnen ja eben die Differenzen genannt. Dazu brauchen wir erhebliche Änderungen von Arbeitszeiten, lebenslange Qualifizierungsmöglichkeiten, Veränderung der Arbeitsbedingungen. Es muss auch für Arbeitgeber eine gesetzliche Verpflichtung bestehen, die Arbeitnehmer im Erwerbsleben zu lassen und sich eben anzustrengen, natürlich mit den Gewerkschaften zusammen, bei der Veränderung der Arbeitsbedingungen und der Arbeitssituation, damit die Menschen überhaupt im Erwerbsleben verbleiben können. In anderen Ländern ist das doch auch möglich. Wir haben in keinem anderen Land - oder mit ganz wenigen Ausnahmen - eine so niedrige Erwerbsquote oder Erwerbsbeteiligung der Älteren wie bei uns. Das kann so nicht weitergehen.
Deutschlandfunk: Ursula Engelen-Kefer, die stellvertretende Vorsitzende des DGB, vielen Dank für das Gespräch.