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Kritik an Martin Luther
Sechs Thesen gegen die Evangelische Kirche

95 Thesen schlug Martin Luther 1517 an der Tür der Schlosskirche zu Wittenberg an. Mit sechs Thesen antwortet der Berliner Historiker Wolfgang Wippermann auf das Bild, das sich seither die Öffentlichkeit von dem Reformator gemacht hat. In seiner "Kritik des deutschen Protestantismus" empfiehlt er den Protestanten einen Bußgang angesichts ihrer Geschichte.

Von Christoph Fleischmann |
    Ein Denkmal Luthers auf dem Wittenberger Marktplatz
    Wolfgang Wippermann bezichtigt Martin Luther in seinem Buch des Antisemitismus', der Frauenfeindlichkeit und der Kriegsverherrlichung. (Hendrik Schmidt / dpa)
    Wolfgang Wippermann ist ein streitbarer Historiker:
    "Also, ich möchte mich einmischen mit sechs Thesen gegen die Evangelische Kirche, die in der Nachfolge Luthers und in der Berufung auf Luther Staat, Kapital und Krieg verherrlicht hat und Juden, Sinti und Roma und Frauen verdammt hat. Also, es sind nur sechs Thesen. Mein großer Vorgänger Luther hatte ja 95 Thesen. Ich begnüge mich mit nur sechs Thesen. Aber die haben es in sich."
    An Selbstbewusstsein fehlt es ihm nicht: die Stellung der Protestanten zu Staat, Kapital und Krieg sowie zu Juden, Roma und Frauen. Das sind die sechs Kapitel, innerhalb derer Wippermann die Geschichte mit großen Schritten durchmisst. Dass es zu diesen Themen in der Christentumsgeschichte vieles gab, für das sich Protestanten heute schämen, ist nicht überraschend; zum Beispiel die antisemitischen Ausfälle Luthers, der dazu aufrief, Synagogen zu verbrennen, den Juden die Religionsausübung zu verbieten und sie als vogelfrei zu erklären.
    Dabei weist Wippermann zu Recht die Unterscheidung zwischen einem nur religiösen Antijudaismus und einem rassistischen Antisemitismus zurück; dahinter verberge sich eine Entlastungsstrategie, als sei der Antijudaismus nicht so schlimm wie der Antisemitismus. Judenfeindschaft habe sich aus verschiedenen Motiven gespeist, die jedoch alle die Vernichtung von Juden legitimieren konnten. Diskussionswürdiger wird es, wenn Wippermann bereits die Mission von Juden als antisemitisch ansieht:
    "Der Missionsbefehl ist generell nicht mehr zu befolgen und insbesondere dieser Missionsbefehl im Sinne des Ölbaumgleichnisses des Apostel Paulus. Das war von Anfang an unmöglich: Man kann doch nicht die ältere Schwester, also das Judentum, bekehren, das ist doch ein Wahnsinn, eigentlich ist es die Mutter unseres Glaubens."
    "Die Juden sind verteufelt worden"
    In dem genannten Ölbaumgleichnis bestimmt der Apostel Paulus, selbst ein Jude, das Verhältnis von Juden und Christen. Wippermann meint, für Paulus sei die erhoffte Bekehrung der Juden nur ein notwendiger Schritt auf dem Weg zum Ende der Welt:
    Die Bekehrung der Juden ist das heilsgeschichtliche Pfand für die Wiederkehr Jesu, des "Erlösers". Sie liegt vornehmlich im Interesse der Christen und ist keineswegs als judenfreundlich zu deuten, wie dies von christlicher Seite aus immer wieder versucht worden ist. Schon das christliche Bekehrungsangebot und nicht erst die Verteufelung der Juden muss man als antisemitisch deuten – und verurteilen.
    Paulus, der sich als ein Heidenmissionar verstand, schreibt an der genannten Stelle des Römerbriefes aber überhaupt nicht von einem Auftrag zur Bekehrung der Juden. Manche Bibelexegeten sehen in der Stelle sogar den zentralen Referenzpunkt für den Verzicht auf die Judenmission, weil Paulus die bleibend gültige Erwählung der Juden durch Gott betont. Aber das ficht Wolfgang Wippermann nicht an:
    "Ja, das sagen heutige Theologen, und das sind immer diese Taschenspielertricks. Ich lese das so, wie es gewirkt hat. Und wenn ein Theologe sagt, das kann man so oder so interpretieren, dann sage ich, das ist aber nicht so interpretiert worden: Die Juden sind verteufelt worden, und man hat immer versucht, sie zu bekehren."
    Das ist schon erstaunlich und ärgerlich, dass der Historiker die Differenz zwischen dem, was eine Quelle im Kontext ihrer Zeit aussagte und dem, was in späteren Jahrhunderten daraus gelesen wurde, zur Belanglosigkeit erklärt. Und das hat System bei Wippermannn. Da wiederholt er schlankweg das Klischee, Calvin habe die Ansicht vertreten, dass wirtschaftlich erfolgreiche Menschen von Gott auserwählt worden seien, wofür er einen Beleg schuldig bleibt.
    Kritik berücksichtigt selten den Zeitkontext
    Luther bringt er in Zusammenhang mit staatlichen Arbeitshäusern, die es zu seiner Zeit noch überhaupt nicht gab. Und außerdem behauptet er, Luther habe die Nutznießer des frühkapitalistischen Wirtschaftssystems nicht kritisiert – obwohl es saftige Polemiken von Luther gibt gegen die großen Handelsgesellschaften seiner Zeit wie zum Beispiel die Fugger.
    Diese Falschmeldungen rechtfertigt Wippermann damit, dass spätere Generationen dies aus ihren Gründungsheroen herausgelesen hätten. So hätten Luther und Co. eben gewirkt. Das mag sein, aber zur Kritik gehört auch Differenzierung. Und zu einer Kritik historischer Figuren gehört auch ein Maßstab. Der engagierte Protestant Wippermann findet ihn in einigen Bibelstellen:
    "Ja gut, da kann der Theologe sagen, es gibt andere Thesen, aber wenn ich sage, es gibt auch in der Bibel: 'Ihr sollt Gott mehr gehorchen als den Menschen', 'Ihr sollt Eure Feinde lieben', 'Nicht Gott und dem Mammon dienen', dann sind das Aufträge, die man erfüllen kann."
    Ein paar Bibelverse als überzeitliche Aufträge. Das hat was, ist aber doch letztlich hermeneutisch naiv. Denn so werden unter der Hand die heutigen Selbstverständlichkeiten – wie ein Protestant der Gegenwart diese Stellen liest – zum Maßstab der Kritik. Sollte ein Historiker die handelnden Personen nicht aus dem Kontext ihrer Zeit beurteilen? Oder anders gesagt: Wippermanns Kritik ist dort am besten, wo er zeitgenössische Alternativen aufzeigt: Wir erfahren zum Beispiel vom Humanisten Johannes Reuchlin, der zu Beginn des 16. Jahrhunderts antisemitischen Klischees mutig entgegentrat.
    Damit zeigt er, dass der Antisemitismus Luthers zu seiner Zeit nicht einfach normal war, wie viele Apologeten behaupten. Man musste damals nicht antisemitisch hetzen. Eine Kritik, die den Kontext der Zeit berücksichtigt, ist bei Wippermann leider zu selten, aber letztlich treffender als sein oft undifferenzierter Furor.
    Versöhnliches Ende nach massiver Kritik
    Eine Kritik, die die Selbstverständlichkeiten der Gegenwart zum Maßstab hat, bleibt außerdem einem fraglichen Fortschrittsoptimismus verhaftet: als sei heute alles besser als früher. So endet Wippermann nach seiner massiven Kritik dann aber erstaunlich versöhnlich: Eigentlich ist heute ja alles überwunden, nur noch nicht scharf genug kritisiert:.
    In anderen [...] Worten heißt das, dass die Ideologien des Etatismus, Bellizismus und Mammonismus sowie des Antisemitismus, Antiziganismus und Antifeminismus in der Gegenwart weitgehend überwunden worden sind. Die Geschichte dieser Ideologien ist aber noch keineswegs völlig aufgearbeitet. Von einer Bewältigung dieser Vergangenheit kann keine Rede sein.
    Ist der Begriff der Bewältigung der Vergangenheit schon reichlich unglücklich, so kann man die Frage stellen, ob eine Aufarbeitung wirklich durch die undifferenzierte Kritik von Wippermann gefördert wird, und ob es überhaupt die Kritik ist, die Ideologien überwindet, oder ob es dazu nicht auch eines neuen Handelns in den genannten Feldern braucht.

    Wolfgang Wippermann: "Luthers Erbe. Eine Kritik des deutschen Protestantismus"
    Primus Verlag, 224 Seiten, 24,95 Euro, ISBN: 978-3-863-12072-6.