Viele Beobachter waren sich einig: Für eine Reform des Wahlrechts ist es eigentlich schon zu spät. In vielen Wahlkreisen ist das Verfahren der Aufstellung von Direktkandidaten bereits angelaufen. Mitten in diesem Prozess den Zuschnitt der Wahlkreise zu ändern, ein Ding der Unmöglichkeit. Viele erwarteten, dass eine Reform nach sieben Jahren noch einmal verschoben wird. Die Koalition einigte sich jetzt aber auf ein zweistufiges Verfahren. Bei der Opposition stieß der Kompromiss auf breite Ablehnung. Und auch der Politikwissenschaftler Frank Decker von der Universität Bonn zeigte sich von der Wahlrechtsreform enttäuscht.
Dirk-Oliver Heckmann: Wirkungslos, ein Zeichen der Handlungsunfähigkeit, die Reform des Wahlrechts – so nennt das die Bündnis-Grüne Britta Haßelmann heute Früh im Deutschlandfunk. Stellen Sie der Koalition auch so ein schlechtes Zeugnis aus?
Frank Decker: Ja, man muss der Opposition an dem Punkt leider recht geben. Die Oppositionsparteien oder drei der vier Oppositionsparteien hatten ja gemeinsam einen Gesetzentwurf vorgelegt.
"Das Ziel einer Verkleinerung des Bundestages aufgegeben"
Heckmann: Also alle Parteien außer der AfD.
Decker: Außer der AfD. Die AfD hatte selber einen vorgelegt. Der ist auch besser als das, was die Koalition jetzt vorschlägt. Nach dem jetzigen Vorschlag für 2021 könnte es tatsächlich sein, dass die Zahl der Abgeordneten noch größer wird. Aber was ich eigentlich noch enttäuschender finde ist, dass man jetzt über 2021 hinaus das Ziel einer Verkleinerung des Bundestages oder einer Rückführung auf die reguläre Größe von 598 Abgeordneten eigentlich aufgegeben hat. Denn wenn man die Direktmandate auf lediglich 280 reduziert, wird es immer noch sehr viele Überhangmandate geben, die dann ausgeglichen werden müssen. Und auch die Kommission, die man einsetzen möchte, die soll sich mit diesem Thema gar nicht mehr beschäftigen, denn die Koalition hat ja verabredet 280 Direktmandate …
Heckmann: Herr Decker, lassen Sie uns vielleicht an der Stelle kurz Schritt für Schritt vorgehen und zunächst vielleicht mal auf die nächste Bundestagswahl 2021 schauen und die Dämpfungsmaßnahmen, die da beschlossen worden sind. Annegret Kramp-Karrenbauer, die CDU-Chefin hat sich heute Früh im Frühstücksfernsehen hingestellt und hat gesagt, die Chance sei relativ groß, dass der nächste Bundestag jedenfalls nicht größer werde als der jetzige. Stimmen Sie zu?
Decker: Das hängt natürlich am Ende vom Wahlergebnis ab. Wenn die Union bei ihren jetzigen Werten bleibt, wäre das wahrscheinlich sogar so, aber es ist ja nicht auszuschließen, dass sie sich auch wieder in die Nähe der 30 Prozent Marke zurückbewegt, und dann wäre der Bundestag vermutlich noch größer, weil die Dämpfungsmaßnahmen nicht ausreichen. Man will ja drei Überhangmandate nicht ausgleichen. Bei der letzten Wahl hat es aber schon 46 Überhangmandate gegeben. Das würde nicht viel bringen. Und wie dann diese Verrechnungslösung aussehen soll von Überhangmandaten und Listenmandaten, das ist noch völlig unklar.
Frage der Überhangmandate müsse Koalition noch beantworten
Heckmann: Das wollte ich Sie gerade fragen, Herr Decker, wenn ich da kurz einhaken darf. Die Zahl der Mandate soll jetzt für 2021 durch diesen sogenannten ersten Zuteilungsschritt reduziert werden. Können Sie kurz erläutern, was damit gemeint ist?
Decker: Ja. Am Ende geht es ja darum, was passiert mit den Überhangmandaten, und da gibt es im Grunde drei Möglichkeiten. Entweder sie werden nicht ausgeglichen. Das war ja eine Forderung der CDU und der CSU, die sie jetzt zumindest teilweise durchgesetzt hat. Drei Mandate werden nicht ausgeglichen. Dass die SPD da zugestimmt hat, hat mich etwas verwundert. Das war vorher eigentlich als rote Linie definiert worden.
Die zweite Möglichkeit wäre – das war der SPD-Vorschlag -, dass man Direktmandate nicht besetzt, die Direktmandate mit den schlechtesten Ergebnissen. Aber das war ein No Go insbesondere für die CSU und die hat sich auch an dieser Stelle durchgesetzt.
Dann bleibt nur die dritte Möglichkeit und das will man jetzt mit dieser Veränderung im ersten Zuteilungsschritt erreichen, dass Überhangmandate mit Listenmandaten derselben Partei in anderen Bundesländern verrechnet werden. Das ist aber schwierig, weil es natürlich die CDU in Nordrhein-Westfalen nicht gerne sieht, wenn sie ein Listenmandat abgeben muss, weil es in Baden-Württemberg ein Überhangmandat für die CDUI gibt. Und es kommt hinzu, dass CSU-Überhangmandate gar nicht verrechenbar sind, weil es die CSU eben nur in Bayern gibt. Wie das dann funktionieren soll, das muss die Koalition erst noch beantworten.
Größenordnung von 700 Abgeordneten als Dauerlösung
Heckmann: Für 2025, um zum nächsten Schritt zu kommen, soll ja eine grundlegende Reform greifen. Die Wahlkreise sollen reduziert werden von 299 auf 280. Wäre das denn ein ausreichender Schritt?
Decker: Nein, es wäre kein ausreichender Schritt, um auch nur annähernd wieder in die Nähe der regulären Größe von 598 Abgeordneten zu kommen. Damit gibt die Koalition dieses Ziel de facto auf und möchte die Öffentlichkeit darauf einrichten, dass wir uns dauerhaft an einen Bundestag in einer Größenordnung von 700 Abgeordneten gewöhnen müssen. Selbst bei 250 Abgeordneten, wie es die Opposition vorgeschlagen hat, könnten immer noch Überhangmandate anfallen, allerdings deutlich weniger, und die Wahlrechtsexperten sagen, dass, um auf einer ganz sicheren Seite zu sein, man eigentlich auf 240 Abgeordnete oder 200 direkt gewählte Abgeordnete reduzieren müsste. Dann käme man tatsächlich auch wieder auf diese reguläre Größe des Bundestages.
Heckmann: Das heißt, dieser ganze Plan, der jetzt vorgelegt wird, ist im Prinzip eine Illusion?
Decker: Ja, es ist eine Illusion, und ich finde es auch merkwürdig, dass sich eine Wahlrechtskommission, die man jetzt einsetzen möchte, noch in dieser Legislaturperiode, dass die sich mit diesem Thema gar nicht befassen soll. Denn in dem Koalitionsausschuss hat man gestern verabredet, dass diese 280 Abgeordneten gewissermaßen festgeschrieben werden. Das heißt, darüber wird überhaupt nicht mehr beraten, und ich frage mich, welcher Experte, welcher Sachverständige unter diesen Bedingungen, dass das Ergebnis von vornherein schon feststeht, bereit sein könnte, dann in einer solchen Kommission mitzuarbeiten. Wenn man den Beschluss des Koalitionsausschusses genau liest, heißt es dort, dass sich diese Kommission nur mit weiteren Fragen des Wahlalters beschäftigen soll, also überhaupt nicht mehr mit dem Wahlsystem.
Opposition in Reformprozess mit einbeziehen
Heckmann: Könnte das Union und SPD denn so durchsetzen, ohne die Opposition?
Decker: Ja, natürlich können sie es durchsetzen mit ihrer eigenen Mehrheit. Nur das fände ich äußerst unglücklich. Das Wahlrecht ist nicht irgendein Gesetz, sondern das Wahlrecht gebietet eigentlich, dass die Mehrheit die Minderheit nicht überfährt. Das heißt, es wäre sinnvoll, die Opposition in einen solchen Prozess mit einzubeziehen. Aber die Opposition wird diesem Kompromiss oder diesem doppelten Kompromiss jetzt für 2021 und 2025 niemals zustimmen.
Heckmann: Auf einen Punkt möchte ich gerne noch zu sprechen kommen. Sie haben es gerade auch schon erwähnt. Diese drei Überhangmandate, die in Zukunft nicht mehr ausgeglichen werden sollen, ist das überhaupt verfassungsrechtlich statthaft, auf den Ausgleich von Überhangmandaten zu verzichten? Denn dadurch wird doch das Zweitstimmenergebnis, das Wahlergebnis verzerrt.
Decker: Ja und nein. Es ist so, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem letzten Urteil durchaus gesagt hat, dass eine bestimmte Zahl, 15 Überhangmandate nicht zwingend ausgeglichen werden müssen. Das verfassungsrechtliche Problem ist aber das sogenannte negative Stimmgewicht. Das war ja auch der Grund, warum das Verfassungsgericht ursprünglich das Wahlrecht für verfassungswidrig erklärt hat. Eine Stimme, die für eine Partei abgegeben wird, muss dieser Partei am Ende auch bei der Mandatsverteilung nützen. Da kann es durchaus sein, dass diese unausgeglichenen Überhangmandate genau wieder zu einem solchen negativen Stimmgewicht führen, und insoweit ist jetzt schon vorauszusehen, dass dann ein solches Gesetz erneut in Karlsruhe landen würde.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.