Stefan Fries: Dem deutschen Dokumentarfilm scheint es gutzugehen: Im Jahr 2000 liefen 19 Filme, seitdem zeigt der Trend nach oben. Im Jahr 2018 waren es fast fünfmal so viele, nämlich 94. Das müsste die Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm freuen, den größten Berufsverband der Branche, der in diesem Jahr 40 Jahre alt wird, 34 davon geführt von Thomas Frickel, der diese Woche seinen Job als Vorsitzender abgibt. Herr Frickel, wenn man aufs Kino schaut, ist ihre Bilanz doch eigentlich positiv, oder? Braucht man die AG noch?
Thomas Frickel: Ja, durchaus. Die 94 Filme sind zwar im Grunde genommen wirklich eine gute Nachricht, weil es zeigt, dass es eine sehr vielfältige und lebendige Dokumentarfilmszene gibt. Auf der anderen Seite bringen die natürlich auch Probleme mit sich, weil die einzelnen Filme gar nicht mehr die Möglichkeit haben, wirklich so durchzudringen zum Publikum, wie wir uns das wünschen würden.
Fries: Woran liegt das?
Frickel: Ja, an der Stelle ist durchaus noch nachzubessern. Beispielsweise müssen Dokumentarfilme mit viel besseren Werbebudgets ausgestattet werden. Dokumentarfilme müssten in den Kinos kuratiert werden, man muss ein spezielles Dokumentarfilm-Publikum aufbauen, pflegen. Und dafür fordern wir schon seit geraumer Zeit zusätzliche Fördermittel. Es ist ja so, dass das Filmförderungsgesetz den Kurzfilm, den Kinderfilm in dieser Richtung privilegiert, da werden besondere Maßnahmen gefördert. Aber für den Dokumentarfilm gibt es so etwas noch nicht. Und auch gegenüber dem öffentlich finanzierten Fernsehen gibt's natürlich noch eine ganze Reihe an Forderungen, die unerfüllt sind.
"Tragende Säule des öffentlich-rechtlichen Programmauftrags"
Fries: Sie beklagen das ja schon seit Jahren, dass Sie mit Ihren langen Dokumentarfilm-Formaten da nicht mehr so richtig vorkommen. Woran liegt das?
Frickel: Das liegt zum einen daran, dass wir ja immer behaupten – und wir haben dazu auch eigens ein verfassungsrechtliches Gutachten vor zwei Jahren in Auftrag gegeben, bei Professor Gersdorf – dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk in dieser Hinsicht seinen Auftrag nicht richtig erfüllt. Also da müsste eigentlich viel mehr rüberkommen als - jetzt ausgewiesen im letzten Produzentenbericht der ARD - 0,7 Prozent des investierten Volumens für Auftragsproduktionen. Das ist nämlich das, was für den Dokumentarfilm zur Verfügung steht. Beim ZDF ist es ein bisschen mehr, aber auch nicht die Welt. Und das ist jetzt nicht nur der Dokumentarfilm, sondern das sind auch die ganzen Dokumentationen, die nach außen vergeben werden. Also das ist schon sehr dürftig, wenn man sich überlegt, dass es ja insgesamt ja um ein Milliardenbudget geht. Da könnte man sicherlich sehr viel mehr machen. Denn alle möglichen Leute aus dem politischen Raum haben uns ja immer bestätigt, dass der Dokumentarfilm eine tragende Säule des öffentlich-rechtlichen Programmauftrags ist.
Fries: Aber es gibt doch sehr viele Dokumentationen im Fernsehen? Es gibt Formate wie "Die Story" und "37 Grad" und "Menschen Hautnah" und so etwas.
Frickel: Wir beklagen uns ja nicht, dass es nicht genügend Formate gibt. Aber das ist gleichzeitig auch wieder ein Problem, weil Dokumentarfilm dann schon noch mal was anderes meint. Und diese andere Farbe, dass ein Film ergebnisoffen an die Wirklichkeit rangeht, dass er sich Zeit nimmt für seine Protagonistinnen und Protagonisten und sich auch einlässt auf Veränderungen, die sich während des Drehprozesses ergeben können – der ist im deutschen Fernsehen leider so gut wie gar nicht mehr gefragt. Das ist ein Problem. Und auf der anderen Seite: Ja, die Formate, die sind halt sehr strikt und tragen jetzt nur bedingt zum Verständnis der Wirklichkeit bei, weil sehr vieles davon eben nach bestimmten Mustern gestrickt ist, formatiert ist, wie der Name ja schon sagt. Und daneben muss es eben auch diese andere Form, nämlich den Dokumentarfilm geben.
"Die Vielfalt ist das Ziel"
Fries: Jetzt ist die Medienlandschaft ja heute eine ganz andere als 1980. Der Trend geht ja eigentlich immer mehr zu kürzeren Formaten. Also die schnelle Nachricht online, die Schlagzeile auf der Leinwand im Bahnhof, die Push-Nachricht aufs Handy. Wie können Sie da mit dem Dokumentarfilm überhaupt noch gegenhalten? Ist das nicht außerhalb des Trends?
Frickel: Unsere Erfahrung ist, das haben wir jetzt gerade auch im Bundesland Hessen bei einem landesweiten Dokumentarfilmtag festgestellt, dass es durchaus ein Publikum gibt für diese Art von Dokumentarfilm, die wir meinen. Und auch für das genaue Hinsehen. Ich schließe da ja auch die Formate gar nicht aus, aber auch da kann man durchaus noch mehr machen. Also, das Publikum gibt es, es muss nur auch gepflegt werden. Und das wird leider ein bisschen vernachlässigt, und ich glaube, dass der öffentlich finanzierte Rundfunk auch überhaupt nicht den Auftrag hat, möglichst viele Zuschauer hinter einer bestimmten Sendung zu versammeln. Sondern er hat den Auftrag, möglichst vielen Gruppen und Milieus in unserer Gesellschaft möglichst viel anzubieten. Die Vielfalt ist das Ziel, und da lässt sich durchaus einiges noch machen.
Fries: Dokumentarfilme gibt es ja inzwischen auch bei Streamingdiensten wie Netflix und Amazon. Sie als Dokumentarfilmer – brauchen Sie den öffentlich-rechtlichen Rundfunk denn noch?
Frickel: Das ist ja gar nicht unbedingt die Frage, ob wir ihn brauchen. Natürlich brauchen wir ihn. Diese Veranstaltung öffentlich-rechtlicher Rundfunk setzt ja 9.000 Millionen Euro im Jahr um. Und die Aufgabe, die ihm durch die Rundfunkstaatsverträge gestellt wurde, ist ja, dass da die Dokumentarfilme bzw. die Informationen, wie wir sie bieten. Und wir sagen immer: Wir bieten nicht nur Informationen, sondern wir bieten eigentlich alles, was den öffentlich-rechtlichen Rundfunk kennzeichnen sollte, nämlich Information, Beratung und Kultur und auch Unterhaltung. Es ist umgekehrt so, der öffentlich-rechtliche Rundfunk braucht uns eigentlich: Dokumentaristen. Und da ist es eigentlich sehr bedauerlich, dass wir so ein bisschen stiefmütterlich behandelt werden.
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