Anfangs klang alles offen, freundlich, teils gar revolutionär. Im reformatorischen Eifer jener Tage legte Luther 1523 eine für die damalige Zeit beinahe unerhörte Forderung auf den Tisch: den Juden sollte endlich ein freies Berufs- und Lebensrecht zugestanden werden. So legte er es dar in seiner Schrift, "dass Jesus Christus ein geborener Jude sei". Zwanzig Jahre später ist davon nichts mehr zu spüren. Im berüchtigten Maßnahmenkatalog seiner 1543 erschienenen Schrift "Von den Juden und ihren Lügen" zieht Luther alle Register des Judenhasses: Man solle ihre Bücher und Talmudim verbrennen, die Synagogen und Häuser zerstören, sie zur Zwangsarbeit verpflichten, schließlich des Landes verweisen. Bis heute bieten die beiden Schriften zwei Sichtweisen Luthers, die entgegengesetzter kaum sein könnten.
"Es gibt keinen anderen Autor, der in dieser Schärfe seine eigene judenpolitische Position korrigiert hätte. Und natürlich auch die Schärfe, mit der er das letztlich getan hat, "zeichnet" ihn vor allen anderen Zeitgenossen aus. Wobei man natürlich immer auch sehen muss, dass diese Schrift von 1523 in ihrer Zeit eine deutlich größere Wirkung getan hat, als die '43er Schrift, die so viele Leute auch nicht lesen wollten. Hinsichtlich einer Gesamtbeurteilung muss man wohl sagen, dass der späte Luther den frühreformatorischen judenpolitischen Kurs korrigiert, weil er zu der Überzeugung gelangt ist, dass er einen fundamentalen Fehler begangen hat."
Der junge Luther, der die Festen der abendländischen Christenheit ins Wanken brachte, war getrieben vom Bekehrungseifer. Er glaubte fest daran, dass die Juden den christlichen Heiland schließlich anerkennen würden – und dies der einzige Weg zu ihrer Erlösung sei. Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann zeichnet das Bild eines Mannes, der vom Fieber der Endzeit ergriffen war. Der sich, zumal als verurteilter Ketzer, vom Satan umgeben wähnte. Die jüngere Forschung hat überzeugend belegt, dass Luther mit Juden direkt kaum in Berührung gekommen ist. In seiner Beurteilung stützte er sich daher vorwiegend auf tendenziöse Konvertitenberichte. Thomas Kaufmann weist darauf hin, wie zentral, das Thema Juden für Luther und seine gesamte Theologie zeitlebens war.
"Die Judenschriften sind ein besonders verdichteter Text-Komplex, in dem es Luther im Kern darum geht, anhand alttestamentlicher Verse die Wahrheit des Christusglaubens im Alten Testament selbst aufzuzeigen. Ansonsten ist die Auseinandersetzung mit dem Judentum allgegenwärtig in seinen Schriften, aber auch in den Tischreden. Die ältere Forschung hat sich sicher aus nachvollziehbaren Gründen mit dieser Erkenntnis relativ schwergetan. Aber es scheint mir unmöglich zu sein, das Thema der Auseinandersetzung mit dem Judentum als ein Randthema der Theologie Luthers zu verharmlosen."
Die Obsession habe sich aus der Betrachtung des Theologen Luther gespeist, der sich als Streiter für die Sache Gottes sah. Der Professor in Wittenberg las die hebräische Bibel, das Alte Testament, christologisch. Tief verwurzelt in ihm sei schon in frühen Jahren die Überzeugung gewesen, dass das Judentum als Religion nicht mehr tolerabel sei. Von dieser Basis aus habe Luther all seine judenpolitischen Vorstellungen formuliert. Den Unwillen, die Wahrheit in Christus zu sehen, versucht Luther zunehmend aus dem jüdischen Wesen zu erklären:
"Er fällt immer wieder in geradezu naturalistische Beurteilungen zurück und argumentiert von einem jüdischen Wesen her, anstatt sich klar zu machen, wie die Juden innerhalb der Gesellschaft ihrer Zeit zu beurteilen sind, welche Stellung ihnen zukommt."
Luthers Juden-Auseinandersetzung als "Endkampf um die Bibel"
Luthers Auseinandersetzung mit dem Judentum beschreibt Thomas Kaufmann als "Endkampf um die Bibel". Am Ende seines Lebens sieht Luther die große Stunde der Abrechnung gekommen. Hatte der Reformator 1523 noch Hoffnung auf eine Einsicht der Juden gehabt, so war sie immer mehr der Enttäuschung und schließlich blindem Hass gewichen. "Drum immer weg mit ihnen", forderte Luther schließlich 1543. Der Jude sei die "Plage, Pestilenz und alles Unglück der Christenheit". Hier versage schließlich sogar Gottes Heilsangebot. Eine "theologische Bankrotterklärung", urteilt Kaufmann. Für den Göttinger Theologen ist Luther damit ein "wortgewaltiger Anwalt und Sprachrohr des frühneuzeitlichen Antisemitismus".
"Das ist ja ein Wort, das erst in den Siebzigerjahren des 19. Jahrhunderts aufkommt. Aber er scheint mir insofern sachgerecht, als Luther neben biblisch begründeten Urteilen doch eine ganze Reihe an Stereotypen aufnimmt, die sich auf so etwas wie eine jüdische Wesensnatur beziehen. Und das halte ich für proto-rassistisch. Was Luther natürlich nicht hat, ist eine Rassentheorie, Luther argumentiert auch nicht biologistisch. Aber er gehört hinein in eine Mentalität, in einen kulturellen Überlieferungszusammenhang, der Auschwitz möglich gemacht hat. Ich würde schon auch sagen, Luther hat durch seine fatalen Äußerungen, insbesondere aus den späten Schriften, die Abwehrreflexe, die es für christliche Menschen selbstverständlich gegen Antisemitismus gibt, in gewisser Weise abgetötet. Also dass der Protestantismus, jedenfalls in Teilen, keine eindrucksvolle Gegenwehr gegen die menschenverachtenden Maßnahmen des Nationalsozialismus aufzubieten hatte, ist sicher auch ein Aspekt einer fatalen Wirkungsgeschichte Luthers."
War der Reformator bei allem dennoch ein Kind seiner Zeit, wie es in der Debatte um Luthers Haltung zu den Juden immer wieder relativierend ins Feld geführt wird?
"Luther war ein Kind seiner Zeit, aber er hätte natürlich zu einer differenzierteren Meinungsbildung auch in Hinblick auf die Wahrnehmung des Judentums kommen können. Man darf nie vergessen, der Mann ist von der Präsenz des Teufels durchdrungen, auch darin fällt er aus seiner Zeit nicht heraus. Aber er hat die intellektuellen Möglichkeiten, die ihm schon zur Verfügung gestanden hätten sicher nicht ausgenutzt. Also insofern, er hat schon Züge eines Antiaufklärers."
Thomas Kaufmann bricht nicht den Stab über den Wittenberger Reformator. Aber er geht sehr hart mit ihm ins Gericht. Es gelingt ihm mit seinem spannenden Buch, Luther in dessen Zeit zu verorten, ohne ihn von der Verantwortung für seine folgenreiche Haltung gegenüber den Juden zu entbinden. Das Buch ist damit ein wichtiger Beitrag zur Debatte um Luthers Theologie und dessen Wirkungsgeschichte gerade mit Blick auf das Reformationsjubiläum 2017.
"Ich bin der Überzeugung, dass Luther eine Schicksalsfigur der deutschen Geschichte ist. Wir verstehen die deutsche Geschichte eben einschließlich der abgründigen Judenfeindschaft, die diese deutsche Geschichte insbesondere im 20. Jahrhundert gekennzeichnet hat, nicht ohne Luther. Und von daher ist die Beschäftigung mit ihm, die Beschäftigung mit diesem Aspekt integraler Bestandteil einer verantwortungsbewussten Beschäftigung mit unserer eigenen Geschichte. Insofern sozusagen einen kulinarischen Luther, bei dem wir uns nur das rausschneiden, was wir nett finden, hilft überhaupt nicht weiter."