Kate Maleike: Dilek Dizdar hat türkische Wurzeln und ist Professorin für Interkulturelle Germanistik und Translationswissenschaft an der Universität in Mainz. Guten Tag, Frau Dizdar!
Dilek Dizdar: Guten Tag, Frau Maleike!
Maleike: Was hören Sie denn über die aktuelle Situation von den Wissenschaftlern in der Türkei?
Dizdar: Was ich höre – ich verfolge natürlich die Nachrichten. Die Prozesse dauern an, und da gibt es jetzt auch wieder neue Urteilssprüche, vom 26. Oktober bis 17. Dezember alleine standen über hundert Unterzeichnende vor Gericht. 28 von ihnen wurden zu Haftstrafen, allerdings auf Bewährung, verurteilt, und es gab zwei neue Entwicklungen eigentlich, zwei Ausnahmen: Haftstrafen, die ausgesprochen wurden, einem Kollegen und einer Kollegin, die allerdings nicht auf Bewährung ausgesetzt wurden, sondern auch umgesetzt werden sollen.
Maleike: Von diesen Einzelfällen bekommen wir ja hier in Deutschland leider, muss man sagen, oft nicht so viel mit. Sie haben selber diesen Friedensappell ja damals auch vor drei Jahren unterzeichnet. Wie, würden Sie denn sagen, kann man die Entwicklung beschreiben? Ist das eine Verschärfung, die wir da gerade erleben?
Dizdar: Ich glaube, es ist einfach eine kontinuierliche Sache. Ich weiß nicht, ob es eine Verschärfung ist. Man kann sagen, dass die Regierung Erdogan nicht locker lässt. Sie hat vielleicht noch mal etwas verschärft, weil da jetzt noch eine zweite Welle gekommen ist im Grunde. Das, was wir bisher besprochen haben, da ging es vor allem um den Friedensappell, der 2016 unterzeichnet wurde. Aber es gab jetzt noch eine zweite Welle gerade im Dezember, die auch die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler betrifft, und da geht es vor allem um die Beteiligung an den Gezi-Park-Protesten. Da lautet der Vorwurf "Versuchter Umsturz der Regierung", und da wurden auch ungefähr 20 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler festgenommen im Dezember, unter anderem die Mathematikprofessorin Betül Tanbay von der Bogazici-Universität in Istanbul, die Vizepräsidentin auch der europäischen Mathematikgesellschaft ist. Sie wurde verhört und wurde wieder freigelassen. Aber auch da werden weitere Prozesse jetzt erwartet.
Entlassungen führen zu alternativen Tätigkeiten
Maleike: Die Entlassungswellen, die Verhaftungswellen, die Verurteilungen bedeuten ja auch, dass die Betroffenen, wenn sie entlassen werden, alle Ansprüche verlieren, zum Beispiel auch auf Rente, und dass sie eben auch für die staatlichen Stellen ein lebenslanges Berufsverbot bekommen. Was wissen Sie darüber, wie diese Wissenschaftler eigentlich dann klar kommen? Womit kommen die über die Runden in der Türkei?
Dizdar: Das ist in der Tat ein sehr großes Problem, da sie Berufsverbot haben. Einige von ihnen haben Ausreiseverbote. Die, die jetzt Haftstrafen auf Bewährung haben, haben zum Glück keine Ausreiseverbote, die meisten. Sie machen alternative Dinge, sie schreiben, sie arbeiten bei Verlagshäusern, oder je nachdem, in welchem Berufsfeld sie tätig sind. Verlagshäuser heißt, mehr freiberufliche Arbeiten, die sie übernehmen. Aber es gibt auch die sogenannten Solidaritätsakademien, das heißt, die Kolleginnen und Kollegen bestehen eigentlich darauf, dass sie weiter forschen und lehren möchten, auch wenn das unentgeltlich ist in Anführungszeichen. Deswegen gibt es einige Initiativen, einige sehr interessante Initiativen, die man auch aus dem Ausland unterstützen kann, wie die Off-University, so heißt sie, auch über Teleconferencing und so weiter, wo tatsächlich Lehre und Forschung läuft und an denen auch die Kolleginnen und Kollegen beteiligt sind. Andere haben Cafés eröffnet, Bibliotheken gegründet, und manche machen eben auch wirklich ganz andere Dinge und versuchen, irgendwie das Leben zu bewältigen.
Maleike: Im Beitrag war ja auch die Rede davon, dass die Türkei das nun erkannt hat, dass sie eben durch den Verlust vieler kluger Köpfe, vieler Wissenschaftler unter Braindrain leidet und finanzielle Gegenanreize initiieren will. Wie beurteilen Sie das?
Dizdar: Es gab eine Einladung oder einen Aufruf sozusagen, wieder zurückzukehren ins Land. Das kann man eigentlich nicht wirklich ernst nehmen. Solange die Bedingungen für freies Forschen und Lehren nicht geschaffen werden, kann man kaum erwarten, dass sich da jemand drauf einlassen wird. Es ist unheimlich schwierig geworden in der Türkei, tatsächlich. Es war vorhin auch von Selbstzensur die Rede. Es wurden ja auch Schauspieler zuletzt festgenommen, weil sie sich kritisch geäußert haben in Gesprächsrunden und so weiter. Das heißt, es ist so offensichtlich, dass man sich nicht frei äußern kann, dass die freie Meinungsäußerung eingeschränkt ist, und Forschung und Lehre ebenso. Daher glaube ich nicht, dass das wirklich funktioniert, wenn man hier auch finanzielle Anreize schaffen sollte.
Projekte und Initiativen für entlassene Wissenschaftler
Maleike: Letzte Frage noch zum Wissenschaftsstandort Türkei. Wenn dann bei den Konferenzen sozusagen leere Ränge sind, wie kann das Ausland, wie können Sie zum Beispiel auch unterstützen, damit sich die Situation nicht noch weiter verschlechtert?
Dizdar: Initiativen sind natürlich ganz wichtig. Es gibt die Philipp-Schwarz-Initiative, wo man tatsächlich gerade auch für die Kolleginnen und Kollegen, die entlassen wurden und aber kein Ausreiseverbot haben, gibt es die Möglichkeit, sich von einer deutschen Universität aus zu bewerben für ein Stipendium der Philipp-Schwarz-Initiative und damit für zwei Jahre eine Wissenschaftlerin oder einen Wissenschaftler einzuladen, der dann hier forschen kann. Was die Konferenzbeteiligung angeht, kann man das schlecht, glaube ich, steuern. Man kann die Leute nicht dazu zwingen, dass sie sich kritisch äußern oder dass sie zu Konferenzen kommen, wo Dinge kritisch besprochen werden, womit sie dann aber Probleme haben, wenn sie wieder zurückkehren ins Land. Man kann allerdings hier versuchen, tatsächlich durch Kooperationen, vor allem eben auch mit den kritischen Köpfen und mit den Leuten, denen viel an den demokratischen Verhältnissen in der Türkei liegt – und da gibt es ja viele, es gibt auch eine sehr große Solidarität unter den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Die Prozesse werden immer begleitet von sehr vielen Wissenschaftlern, die zu den Verhandlungen gehen. Das heißt, es ist wichtig, eigentlich diese Gruppen in der Türkei zu unterstützen, mit den richtigen Leuten zusammenzuarbeiten und durchaus auch Projekte einzuleiten und diejenigen, die ausreisen können, einzuladen.
Maleike: Dilek Dizdar war das. Sie ist Professorin für Interkulturelle Germanistik und Translationswissenschaft an der Universität in Mainz, und sie hat vor drei Jahren den Friedensappell türkischer Wissenschaftler zur Kurdenpolitik in der Türkei mit unterschrieben. Danke für das Gespräch!
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