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Kritisches Theater für die Kulturhauptstadt

Estlands Hauptstadt Tallin ist seit Januar auch Europäische Kulturhauptstadt. Das Theaterensemble NO99 setzt ein Gegengewicht zu jener Zirkuswelt in der mittelalterlichen Altstadt und spricht kritisch Fragen an, die Estlands Regierung lieber verschweigt, weil sie nicht zum Image des innovativen IT-Landes passen.

Von Matthias Kolb |
    In einem mit Licht markierten Rechteck rollen fünf Roboter durch den Bühnenraum. Jedes Gefährt ist mit einer Batterie und einem Lautsprecher ausgestattet und wurde so programmiert, dass es zwei Aufgaben erfüllen soll: Kein anderer Roboter darf berührt und das Rechteck nicht verlassen werden. Der Sound passt sich den Bewegungen der Maschinen an. Hendrik Kaljujärv, den Erfinder von "Self-Organising System", fasziniert die Idee, dass jedes System nach Perfektion strebe - aber letztlich im Chaos ende. Den Zuschauern macht er keine Vorgaben:

    "Das Publikum ist völlig frei, die Menschen können herumlaufen, alles genau beobachten oder auch nur der Musik lauschen. Im Idealfall lassen sich die Zuschauer von den Bemühungen der Roboter inspirieren und vielleicht geben einige ihnen sogar Namen und weisen den Maschinen Gefühle zu."

    Eigentlich kümmert sich der 27-jährige Kaljujärv um die Technik des estnischen Theaterensembles NO99. Doch im Sommer 2011 ist alles anders: Da Tallinn den Titel der Europäischen Kulturhauptstadt trägt, hat NO99 ein temporäres Theater aus Strohballen errichten lassen. In das schwarz gestrichene Gebäude haben die Macher Produktionen eingeladen, die ihnen bei Gastspielen, etwa bei den Wiener Festwochen, aufgefallen sind. Mittlerweile ist das Strohtheater ein beliebter Treffpunkt, berichtet Intendant Tiit Ojasoo:

    "Dies war uns sehr wichtig: Jeder Mensch, egal ob Tallinner Bürger oder Tourist, soll sich hier wohl fühlen. Er kann Tischtennis spielen oder nur in der Sonne liegen, niemand muss etwas konsumieren. Wer möchte, kann sich natürlich ein Bier kaufen, aber es gibt keine Verpflichtung."

    Diese Haltung ist typisch für NO99: Bewusst setzen die Macher ein Gegengewicht zu jener Zirkuswelt in der mittelalterlichen Tallinner Altstadt, welche die Touristen der Kreuzfahrtschiffe so begeistert. Seit 2004 begleitet das Ensemble mit wachem Auge die Folgen des neoliberalen Wirtschaftssystems: Jeder Este, egal ob reich oder arm, zahlt 21 Prozent Einkommenssteuer. Tiit Ojasoo war erst 26 Jahre alt, als er mit Ene-Liis Semper ein früheres Staatstheater übernahm. Beide setzen auf junge Schauspieler, abstrakte Bühnenbilder, Musik und Multimedia - diese Mischung zieht ein junges, urbanes Publikum an. Im März 2010 gründete NO99 eine populistische Partei: Sie hieß "Einheitliches Estland" und versprach in ihrer Hymne allen Bürgern ein besseres Leben:

    Zum inszenierten Parteitag kamen 7000 Menschen - und in mehreren Videos zeigte NO99, wie man bei Abstimmungen manipuliert oder sich Wählerstimmen sichert: Man verteile kostenloses Brennholz und Kartoffeln. Was wie Satire klingt, ist bittere Realität in einem Land, das sich mit der Integration der russischsprachigen Minderheit noch immer schwer tut und in dem die Arbeitslosigkeit bei 14 Prozent liegt. Man merkt dem 33-jährigen Ojasoo noch heute eine diebische Freude an, wenn er über den Parteitag spricht, doch gleichzeitig ist er bestürzt über seine Landsleute:

    "Wir waren die schlimmste Partei von allen und haben mehr versprochen als alle anderen. Trotzdem wollten uns viele Esten in der Regierung sehen. Sie waren wirklich traurig, als wir unseren Rückzug verkündeten. Es läuft doch etwas falsch, wenn so viele Bürger glauben, ein paar Schauspieler könnten über Nacht ihre Probleme lösen."

    NO99 wird weiter jene Fragen ansprechen, die Estlands Regierung lieber verschweigt, weil sie nicht zum Image des innovativen IT-Landes passen. Die Politiker ziehen es vor, über kaum existierende Probleme wie Einwanderung oder Homo-Ehe zu diskutieren, anstatt sich ernsthaft um reale Herausforderungen wie Integration oder die Abwanderung junger Talente zu kümmern, klagt Ojasoo. Um Prostitution und Menschenhandel dreht sich die Produktion "Three Kingdoms", die NO99 gerade mit den Münchner Kammerspielen und dem Londoner Lyric Hammersmith Theatre erarbeitet. Die Premiere der Regiearbeit von Sebastian Nübling findet im September 2011 in Tallinn statt - wenn NO99 das temporäre Strohtheater geräumt hat und wieder ins Haupthaus zurückgezogen ist.