Archiv

Kritisches zu TTIP und CETA
Wenn Wachstum zum Selbstzweck wird

Das, was "Zeit"-Redakteurin Petra Pinzler in ihrem Buch "Der Unfreihandel" zusammengetragen hat, lässt Freihandelsabkommen wie TTIP oder CETA in keinem guten Licht erscheinen. Auch wer sich gut mit Welthandelsthemen auskennt, findet in dem Werk eine Reihe eher unbekannter Einzelfakten.

Von Jule Reimer |
    Zwei Menschen geben sich die Hände
    Autorin Pinzler diagnostiziert keinesfalls eine Art Weltverschwörung der Konzerne, wohl aber zu viel Nähe zwischen Politik, Technokraten und Wirtschaftslobbyisten in Washington und Brüssel. (imago / Weiss)
    "Mit dem Welthandel ist es wie mit einer Waschmaschine. Solange sie läuft, will niemand wissen, wie sie funktioniert. Die Lage ändert sich, wenn die Maschine komische Geräusche macht und die Hosen nicht mehr sauber werden. Die Störgeräusche, die mein Interesse wecken, rühren von Buchstabenkombinationen her, von Abkürzungen wie ISDS, CETA, TTIP und TISA."
    Das Buch "Der Unfreihandel – Die heimliche Herrschaft von Konzernen und Kanzleien" beginnt mit dem ungewöhnlichen, doch nicht schlecht gewählten Bild von der lange ignorierten Waschmaschine. So ähnlich müssen es auch die Technokraten im Berliner Bundeswirtschaftsministerium und in der Brüsseler Generaldirektion Handel empfinden. Gut ein halbes Jahrhundert lang interessierte sich niemand dafür, was sie mit den USA und Japan verhandelten. Jetzt protestieren Millionen von EU-Bürgern mit ihren Unterschriften gegen die Arbeit in den Schaltzentralen der Handelsmacht EU – weil die Bürger TTIP, TISA und CETA als Bedrohung für die Demokratie empfinden. Für diese Sorge liefert das Buch der "ZEIT"-Redakteurin Petra Pinzler gute Gründe. Handel, so zeigt die Autorin, war nie unpolitisch, er wurde und wird immer auch als Mittel zur Machtabsicherung gegenüber konkurrierenden Staaten eingesetzt.
    "[Regierungen] ... erlassen Regeln, die nur die eigenen Unternehmen erfüllen können. Sie subventionieren ihre Industrie oder erfinden Quoten. In den USA etwa verpflichtet der «Buy American Act» die öffentlichen Behörden, amerikanische Waren zu kaufen."
    "Handel wird damit zum Ziel an sich"
    Die moderne Handelspolitik beginnt nach dem Zweiten Weltkrieg. Die meisten heutigen Staaten existierten nur als abhängige Kolonien der damaligen westlichen Großmächte, als sich diese mit rund 20 weiteren Staaten 1948 auf die Gründung des allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens GATT einigten. Der Zweck: Die gegenseitigen Zölle auf Industriegüter und Konsumwaren zu senken, um die Ein- und Ausfuhr zu erleichtern. Regierungen, die das GATT unterschrieben, sicherten zu, dass sie bestimmte Güter ausländischer Hersteller nicht viel anders behandelten als die Produkte einheimischer Fabrikanten.
    "Bereits vor gut 50 Jahren begann zugleich ein Prozess, von dessen Folgen damals noch niemand etwas ahnte. Ein Prozess, der die Handelspolitiker zu den Schlüsselfiguren des globalen Kapitalismus machen wird: die schleichende Ausweitung ihrer Kompetenzen. Nach und nach gelang es ihnen, die eine Idee durchzusetzen: Handel ist gut, mehr Handel ist besser. Handel wird damit zum Ziel an sich."
    Denn: War das GATT noch eine halbwegs freiwillige Veranstaltung, wurde es 1995 abgelöst durch die Gründung der Welthandelsorganisation WTO. Ab da ging es inhaltlich um viel mehr: Die nunmehr über 100 Staaten versprachen sich gegenseitig, ihre Märkte für Landwirtschaft, für ausländische Banken, Versicherungen und alle anderen Dienstleistungen zu öffnen und ein rigides internationales Patentrecht zu etablieren. WTO-Schiedsgerichte sprechen völkerrechtlich verbindliche Urteile aus. Wer sich unfair und regelwidrig verhält, muss Strafe zahlen, egal ob es sich um die mächtigen USA oder das kleine Burkina Faso handelt.
    Nach der ökonomischen Theorie betrachtet kann der Warenaustausch zwischen zwei Staaten durchaus beiden ermöglichen, sich miteinander und durch einander zu entwickeln: Nur weil ein Land plötzlich wegen der Konkurrenz seine Produktion umstellen muss, heißt das also nicht, dass es dabei notwendigerweise verliert. Auch für Pinzler gab und gibt es gute Gründe, Märkte zu öffnen.
    "Anfang der 80er Jahre sind viele Industrieländer überschuldet und zugleich unnötig stark reguliert. Es ist die Zeit, in der es in Deutschland nur ein Telefon gibt: es ist grau, hat eine Wählscheibe und darf nur von der Post installiert werden. Da klingen die Botschaften der Neoliberalen verführerisch: Statt hoher Staatsausgaben lieber viel Privatinitiative. Statt unbeweglicher Bürokratien besser schnelle Unternehmer. Statt des Schutzes alter Privilegien viel Raum für neue Initiativen."
    Allerdings, so weist die Autorin nach, ging der wirtschaftlichen Entwicklung niemals eine radikale Marktöffnung voraus. Staaten, die wirtschaftlich aufstiegen, schafften dies immer mit einem klugen Mix aus Subventionen und Schutz für einheimische Schlüsselbranchen sowie dosiertem Zulassen ausländischer Konkurrenz – anders also, als es IWF und Weltbank predigen.
    "In der EU liegt der Einfuhrzoll auf Autos übrigens auch immer noch bei zehn Prozent. Der Norden gönnt sich also auch heute noch das, wovon er vielen Entwicklungsländern abrät. ... . Die EU sorgt lieber dafür, dass zwar Rohstoffe aus dem Süden ohne Abgaben hierher verschifft werden können, verarbeitete Produkte aber mit Zöllen belegt werden."
    Und die Theorie entspreche erst recht nicht der Praxis, wenn es um die Freihandelsabkommen TTIP und CETA mit den USA und Kanada gehe, klagt Pinzler. Oder um das Dienstleistungsabkommen TISA, das derzeit die EU und zwei Dutzend andere Staaten aushandeln. Als Ursache für diese Verzerrungen diagnostiziert Pinzler keinesfalls eine Art Weltverschwörung der Konzerne, wohl aber zu viel Nähe zwischen Politik, Technokraten und Wirtschaftslobbyisten in Washington und Brüssel.
    Pinzler fordert Neuordnung der gesamten Welthandelspolitik
    Als missbrauchsanfällig entwickelte sich vor allem ein Werkzeug der Handelspolitik, die "nichttarifären Handelshemmnisse", also Gesetze und Normen. Unter diesem Label hält die EU beispielsweise bis heute zu stark konkurrierende Agrarimporte aus afrikanischen Staaten ab. "Nichttarifäre Hindernisse" sind nach Ansicht multinationaler Konzerne auch andere nationalstaatliche Regeln.
    "Gesetze zum Schutz von Umwelt oder Arbeitnehmern, die Bevorzugung lokaler Unternehmen oder auch Regeln für den Umgang mit geistigem Eigentum. Das alles in einen Begriff zu packen, folgt einer bestechend einfachen Logik: Wenn alles ein Hindernis ist, kann alles in Frage gestellt werden."
    Bei TTIP und Co. wird diese Kompetenzausweitung der Handelspolitik so gefährlich wegen der völkerrechtlichen Verbindlichkeit – Rückabwickeln geht nicht mehr. Und wegen der Verfahrensabläufe, die im Kleingedruckten festgezimmert werden sollen. Nicht das viel beschworene US-amerikanische Chlorhühnchen als solches sei das Problem von TTIP, sondern die beabsichtigte "Regulatorische Kooperation", schreibt Pinzler: die Berufung eines bislang noch ominös besetzten Ausschusses, der bereits im Vorfeld jeglicher Gesetzesvorhaben darüber entscheiden soll oder darf, ob dieses vielleicht den "freien" Handel zwischen EU und USA behindern könnte.
    Pinzlers Buch spiegelt den Debattenstand von 2014/2015 wider. Aber selbst wer sich gut mit Welthandelsthemen auskennt, findet darin eine Reihe von eher unbekannten Einzelfakten. Die Autorin ergreift im Streit um TTIP und CETA eindeutig Partei und endet mit einem Appell. Die gesamte Welthandelspolitik gehöre neu geordnet. Sie müsse den Handelspolitikern weggenommen werden - bevor sie ähnlich ruinös die Welt destabilisierten, wie es die Liberalisierer der Finanzmärkte 2008 geschafft hatten.
    Petra Pinzler: "Der Unfreihandel - Die heimliche Herrschaft von Konzernen und Kanzleien"
    Verlag rowohlt POLARIS, 287 Seiten, 12,99 Euro