Maciej Zielinski: V Symphony - 5. Satz (Ausschnitt). Polnisches Radio-Sinfonieorchester / Lukasz Borowicz
Man hat sich außerhalb Polens angewöhnt, die jüngere polnische Musikgeschichte in zwei Perioden einzuteilen. Da ist zunächst die sogenannte "polnische Schule", die seit den sechziger Jahren für gute zehn Jahre die Speerspitze der weltweiten Avantgarde darstellte: Zunächst wurden Zwölftonmusik und Serialismus intensiv rezipiert - sie waren ansonsten im Ostblock strikt verpönt - , dann folgte, als ureigene polnische Entwicklung, der Sonorismus, der die Klangfarbe als strukturbildendes Element der Musik begriff, und auf diesem Wege auch die instrumentalen Spieltechniken bedeutend erweiterte: Dafür stehen bis heute exemplarisch die frühen Werke von Krzystof Penderecki. Als dritte Stufe folgte die Aleatorik, bei der den Musikern große Freiheiten in der Anordnung und Realisierung des Notentextes eingeräumt werden: Witold Lutosławski ist hier vor allem zu nennen. Die Siebzigerjahre brachten dann eine regelrechte Kehrtwende: Zu neoklassizistischen oder neoromantischen Idiomen, zu national-religiös oder auch folkloristisch inspirierten Werken - eine Entwicklung, an der auch die Protagonisten der "polnischen" Schule teilhatten. Von diesem Augenblick an nahm das internationale Interesse an polnischer Musik stark ab: Die bekanntesten Namen hielten sich, Penderecki, Górecki; und Lutosławski, der der "polnischen Schule" aber nie wirklich angehört hatte, folgte unbeirrt seinem ganz persönlichen Weg.
Dass freilich zwei Generationen polnischer Komponisten in Westeuropa und namentlich in Deutschland unter den Generalverdacht reaktionärer Ästhetik gestellt wurden: Das ist doch eine erhebliche Wahrnehmungsverzerrung. Solche Urteile zu überprüfen, bieten sich die zwei CDs an, die ich Ihnen heute vorstellen möchte.
Wer die Homepage des 1971 geborenen Komponisten Maciej Zieliński besucht, begegnet einem gut sortierten Angebot musikalischer Dienstleistung, das von der großen Symphonie über Filmmusiken bis zu Popsongs und Werbejingles reicht. Die kühle Professionalität, mit der hier jemand die Beherrschung seines Handwerks demonstriert - einschließlich der Fähigkeit, das zu liefern, was bestellt wird - macht sich ein wenig auch in seiner Orchestermusik geltend.
Maciej Zielinski: V Symphony - 3. Satz (Ausschnitt), Polnisches Radio-Sinfonieorchester / Lukasz Borowicz
Ohne Zweifel: Hier paradiert jemand sehr nachdrücklich, dass er das Orchestermetier beherrscht. Doch da ist mehr. Schon der Titel fällt auf: Ein großes "V" prangt auf dem CD-Cover, darunter das Wort "Symphony". Tatsächlich ist es aber erst Zielińskis zweite Symphonie. Natürlich spielt der Titel auf die fünfte Symphonie Beethovens an - und vielleicht auch auf diejenige von Schostakowitsch -, exemplarische Realisationen des klassischen Konzeptes "Durch Nacht zum Licht"; zugleich ist aber auch der Buchstabe "V" gemeint, "V" wie "Victory", denn das sogenannte Schicksalsmotiv Beethovens diente im Zweiten Weltkrieg als Sendesignal des deutschsprachigen Programms der BBC: Im Morse-Alphabet kodiert sein Rhythmus den Buchstaben "V". Diese äußeren Beziehungen teilt die Musik natürlich nicht mit - man muss sie dem informativen Booklet-Text (der allerdings nur in polnisch und englisch vorliegt) entnehmen.
Das Konzept, auf das Zieliński hier so nachdrücklich anspielt - es wird in seiner Symphonie gleichsam negiert: Denn die Musik ist in sich rückläufig - der dritte ihrer fünf Sätze dient als Symmetrieachse, erster und fünfter, zweiter und vierter Satz verhalten sich zueinander exakt spiegelbildlich. Das formale Design folgt, wenn man so will, ebenfalls dem Buchstaben "V". Desgleichen die Aufstellung des Orchesters, die sich in der vorbildlich räumlichen Aufnahme genau nachvollziehen lässt. Und selbst die zugrundeliegende Zwölftonreihe bildet ein "V": Zwei Sechstongruppen, eine absteigend, eine aufsteigend, um einen Halbton gegeneinander versetzt, deren Intervallverhältnisse einander genau spiegelbildlich entsprechen: Es sind ausschließlich Sekundschritte und Tritoni. So wird die überbordende Klanglichkeit der Musik auf eine sehr strikte Weise formal gebunden. Hinzu kommt ein dichtes Netz motivischer und klanglicher Entsprechungen: Etwa die repetierten Noten der Holzbläser, die dem ersten und fünften Satz den nervösen Charakter mitteilen.
Maciej Zielinski: V Symphony - 1. Satz (Ausschnitt), Polnisches Radio-Sinfonieorchester / Lukasz Borowicz
Diese Klänge kehren als alarmierende Signalrufe der Blechbläser in der apokalyptischen Klanglandschaft des Mittelsatzes wieder.
Maciej Zielinski: V Symphony - 3. Satz (Ausschnitt), Polnisches Radio-Sinfonieorchester / Lukasz Borowicz
Die feste Konstruktion verhindert auch, dass das Stück in seine Einzelteile zerfällt: Denn natürlich operiert der Komponist, namentlich in den gewaltigen Klangentladungen des dritten Satzes, sehr bewusst mit den Elementen heroischer Groß-Symphonik. Das Gegenstück dazu ist das Streicher-Lamentoso des zweiten und vierten Satzes, dessen unschwer erkennbares Vorbild das berühmte Streicher-Adagio von Samuel Barber ist, das hie gleichsam einmal im Vorwärts- und einmal im Rückwärtsgang erklingt. Es ist ein Stück musikalischer Postmoderne: Ein skeptisches Spiel mit musikalischen Elementen, denen der Komponist nicht mehr recht über den Weg zu trauen scheint. Gesten, über deren Vernutztheit sich gerade der Werbekomponist Zieliński im Klaren sein dürfte, und die er doch - noch einmal, vielleicht ein letztes Mal - zu höchster Eindringlichkeit zu steigern sucht. Hört die Welt? Kann sie noch hören, wahrnehmen? Am Ende der Leidensextase des zweiten Satzes jedenfalls geschieht das:
Maciej Zielinski: V Symphony - 2. Satz (Ausschnitt), Polnisches Radio-Sinfonieorchester / Lukasz Borowicz
Den Einbruch banaler Lebenswirklichkeit inszeniert Zieliński noch an verschiedenen anderen Stellen seiner "V Symphony": Der von Harfenakkorden markierte "Glockenschlag" der physischen Zeit in den beiden Rahmensätzen, das seelenlose Rattern eines maschinellen Räderwerks am Ende des dritten, und schließlich, komisch-verzweifelt mit der denkbar kläglichsten Anti-Klimax am Schluss des Stücks:
Maciej Zielinski: V Symphony - 5. Satz (Ausschnitt), Polnisches Radio-Sinfonieorchester / Lukasz Borowicz
Maciej Zielińskis "V Symphony", ergänzt um die aus einem ganz ähnlichen Geist komponierte Orchesterkomposition "ElemenT", werden vom Polnischen Radio-Symphonieorchester unter seinem Chefdirigenten Łukasz Borowicz kompetent dargeboten: Beide Stücke entstanden 2012, als Maciej Zieliński "Composer-in-residence" des Orchesters war.
Einer anderen Generation gehört Krzysztof Meyer an: Als er 1987 eine Kompositionsklasse an der Kölner Musikhochschule übernahm, war er in Deutschland bereits bestens eingeführt: Nicht zuletzt durch sein Engagement für Dimitri Schostakowitsch, dem er eine große Biographie gewidmet hat. 1983 wurde in Wuppertal seine Vervollständigung der von Schostakowitsch unvollendet hinterlassenen Oper "Die Spieler" uraufgeführt. Es ist damit ein stilistischer Fixpunkt seiner späteren Jahre benannt, ein anderer wäre Béla Bartók, und zwar sowohl hinsichtlich der Formgebung, wie der Harmonik. Bartók stand schon bei Meyers frühesten Kompositionen Pate, etwa den "Aphorismen" für Klavier aus dem Jahr 1962: Knappen, pointierten Charakterstudien, pianistisch sehr wirkungsvoll.
Krzysztof Meyer: Aphorismen op.3 - Stück 7, Marek Szleser, Klavier
Das Klavier ist Krzysztof Meyers ureigenes Instrument, und einen Großteil zumindest seiner frühen Klavierwerke komponierte er für den eigenen Gebrauch. Von daher erklärt sich sein großes Gespür für das pianistisch Wirkungsvolle, das ihn bei allen stilistischen Wandlungen nie verließ: In der ersten Sonate, die die Zwölftontechnik aufgreift (wenn auch nicht in rigoroser Dogmenstrenge), vor allem aber in der zweiten und dritten Sonate, die in die kurze Phase fallen, in der sich Krzystof Meyer mit dem Sonorismus auseinandersetzte. Dessen führende Exponenten hatten sich mit dem Klavier kaum beschäftigt - zu festgelegt, zu begrenzt schien es ihnen in seinen klanglichen Möglichkeiten. Meyers Versuche stehen also fast für sich allein: Und es ist wirklich überraschend, welche ungewöhnlichen Wirkungen er mit dieser ganz auf den Parameter Klangfarbe abgestellten Musik gewinnt, und wie er dennoch sinnfällige Großformen zu gestalten weiß. Dabei kommt keine einzige der erweiterten Spieltechniken zur Anwendung: Keine Präparation, kein Spiel im Innenraum, auf den Saiten oder dem Korpus des Klaviers. Lediglich traditionelle Spieltechniken, doch völlig losgelöst von der traditionellen musikalischen Syntax. Wie etwa die aus Trillern gefügten Klangfelder zu Beginn der zweiten Sonate.
Krzysztof Meyer: Klaviersonate Nr.2 op.7 - 1. Satz (Ausschnitt), Marek Szleser, Klavier
Der junge Pianist Marek Szleser spielt diese Musik mit allem gebotenen Temperament, brillant, und die Kontraste bis zum Maximum ausreizend. Nur für die nachromantische Weichheit des als Zugabe eingespielten "Quasi una fantasia" - sehr viel später, nämlich 2006 entstanden - hätte man sich etwas mehr Differenzierung gewünscht. Dennoch - auf die Fortsetzung darf man gespannt sein: Es fehlen noch die Klaviersonaten 4 bis 6.
Beide CDs - Krzysztof Meyer: "Piano Works Volume 1", mit Marek Szleser, und Maciej Zielinski: "V Symphony", mit dem Polnischen Radio-Symphonieorchester unter Łukasz Borowicz - sind auf dem Label DUX erschienen.
Maciej Zielinski: V Symphony / ElemenT
Polnisches Radio-Sinfonieorchester / Lukasz Borowicz
DUX 0988
Polnisches Radio-Sinfonieorchester / Lukasz Borowicz
DUX 0988
Krzysztof Meyer: Piano Works Vol.1
Marek Szleser
DUX 0923
Marek Szleser
DUX 0923