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Kübra Gümüşay
"Sprache und Sein"

Die deutsch-türkische Journalistin und Bloggerin Kübra Gümüşay setzt sich mit der Begrenztheit von Sprache auseinander. Ihre Utopie ist eine Sprache, die sich für Minderheiten öffnet, die ein Zuhause für alle bietet.

Von Ralph Gerstenberg |
Cover-Collage: Rechts das Cover "Sprache und Sein", Hanser Verlag. Im Hintergrund Menschen, die auf einer Weltkarte verteilt laufen.
Kübra Gümüşay beschreibt, wie Sprache Stereotype für gesellschafliche Gruppen bildet und abbildet. (Buchcover: Hanser Verlag / Hintergrund: imago / Milena Boniek)
"Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt!" Dieses Zitat von Ludwig Wittgenstein steht als Motto im Eingangskapitel von Kübra Gümüşays Buch "Sprache und Sein". Denn darum geht es der Autorin: um die Begrenztheit der eigenen Wahrnehmung und die Ausgrenzung anderer durch den täglichen Sprachgebrauch. Wenn Sprache unser Leben und Denken fundamental präge und forme, so Gümüşay, dann gelte es, sich diese Grenzen immer wieder bewusst zu machen und Prägungen zu hinterfragen. Ziel sei es letztlich, die "Wechselbeziehung zwischen Sprache und politischer Unmenschlichkeit" zu durchschauen, Grenzen zu öffnen und menschlicher zu sprechen:
"Kurt Tucholsky schrieb, dass Sprache eine Waffe sei. Ja, das kann sie sein, und das ist sie viel zu häufig, ohne dass sich die Sprechenden dessen bewusst wären. Aber das muss sie nicht. Sprache kann auch ein Werkzeug sein. Sie kann uns in der Dunkelheit der Nacht die helle Reflexion des Mondlichtes sehen lassen. Sprache kann unsere Welt begrenzen - aber auch unendlich weit öffnen."
Um diese Öffnung zu erreichen, widmet sich die deutschtürkische Feministin zunächst den Machtverhältnissen, die sich in der Sprachstruktur, den grammatikalischen Regeln und Normen, widerspiegeln - zum Beispiel im generischen Maskulinum. Es reiche nicht aus, meint Gümüşay, dass Frauen womöglich mitgemeint seien, wenn man beispielsweise von "Lehrern" spreche, sie würden "gedanklich weniger einbezogen", wenn man sie nicht konkret mitbenenne – ganz zu schweigen von intersexuell orientierten Menschen.
Was inklusive Sprache leisten kann
Kübra Gümüşay hat sich beim Verfassen ihres Textes für das Gendersternchen entschieden. Eine Lösung, die sie selbst nicht als hundertprozentig befriedigend zu empfinden scheint. Jedenfalls fragt sie sich und ihre Leser*innen:
"Brauchen wir vielleicht eine neue, sichtbar nicht neutrale Endung für die männlichen Formen? Damit Lehrer tatsächlich all jene meint, die lehren? Damit der Mann nicht mehr der Standard ist? Oder brauchen wir eine Sprache, die gänzlich darauf verzichtet, Menschen nach ihrer Geschlechtsidentität zu kategorisieren? [...] Klar ist: Wir müssen uns mit der Architektur der Sprache beschäftigen, die unsere Realität erfassen soll. Damit wir aussprechen können, was ist. Damit wir sein können, wer wir sind."
Weniger allgemein bleibt es, wenn sich Kübra Gümüşay den Vorurteilen und stereotypen Zuschreibungen widmet, die bestimmte Minderheiten in einer Gesellschaft erfahren. Um sprachliche Ausgrenzung zu beschreiben, unterscheidet sie zwischen den Benannten und den Unbenannten. Die Unbenannten sind all jene, die schlicht die Norm, den Maßstab, die Mehrheit darstellen. Sie haben die Macht, Themen zu setzen, Dinge zu definieren, zu benennen. Die Benannten hingegen sind die Nichtnormalen, Andersartigen, Fremden, die von den unbenannten Benennenden eingeordnet, kategorisiert, analysiert werden.
Kübra Gümüşay, Autorin des Buches "Sprache und Sein".
Die Autorin Kübra Gümüşay widmet sich den Machtverhältnissen, die sich in der Sprachstruktur, den grammatikalischen Regeln und Normen, widerspiegeln. (Elif Cücük)
Sprache als Zuhause für alle
Kübra Gümüşay hat als kopftuchtragende, muslimische, politisch aktive und meinungsstarke Frau häufig die Erfahrung gemacht, benannt zu werden, das heißt: nicht als Individuum, sondern als Vertreterin einer gesellschaftlichen, sozialen oder religiösen Gruppe betrachtet, hinterfragt oder gar angefeindet zu werden. Der Erklärungs- und Rechtfertigungsdruck in Deutschland sei auf Dauer zermürbend, schreibt sie, und schildert die ungewohnte und befreiende Erfahrung, während eines Praktikums in London mal nicht als Repräsentantin des Islam wahrgenommen worden zu sein:
"Schließlich war für mich Smalltalk mit fremden Menschen nichtmuslimischen Glaubens in Deutschland immer gleichbedeutend gewesen mit der Inspektion meiner Herkunft, meines Glaubens, meines Verstandes, meiner Intelligenz, meiner Familie, meiner Psyche, meines Privatlebens. Ich hatte keine Vorstellung davon, was jemanden, der nicht muslimisch war, sonst an mir interessieren könnte. Gewöhnt daran, mich auf eine bestimmte Weise offenbaren zu müssen, wusste ich nicht, was ich über mich sonst erzählen sollte. Wenn ich nun tatsächlich ich sein durfte: Wer war ich eigentlich? Und wofür interessierte ich mich?"
"Sprache und Sein", der Titel des ersten Buches von Kübra Gümüşay, lässt eher auf ein philosophisches Standardwerk schließen, als auf einen politischen Essay über die Ungerechtigkeiten, denen Minderheiten im öffentlichen Diskurs und im Sprachgebrauch der Mehrheitsgesellschaft ausgesetzt sind. Gümüşays Buch ist immer dann am stärksten, wenn die Autorin am eigenen Beispiel zeigt, wie sie als Benannte unter Unbenannten an ihrem Traum von einer Gesellschaft, in der "alle gleichberechtigt sprechen und sein können" festhält. Dafür nimmt man auch ein paar Redundanzen, Abschweifungen und Selbstzitate in Kauf. Gewiss hätte dem Buch auch etwas mehr Struktur gut getan. So wirkt es ein wenig unfertig, wie aus verschiedenen Vorträgen und Texten der Journalistin und Bloggerin zusammengefügt.
Doch ihr demokratisches Anliegen, die Sprache zu einem Zuhause für alle zu machen, vertritt sie klug und leidenschaftlich. Ihr Buch wirft vor allem Fragen auf, dessen ist sie sich bewusst. Zum Beispiel: Wie lassen sich Gendersternchen mit Poesie vereinbaren?
Kübra Gümüşay: "Sprache und Sein",
Hanser Berlin, 207 Seiten, 18,00 Euro.