Schüchtern kommt das erste Buch von Kübra Gümüşay nicht gerade daher. Es hat einen so gewichtigen Titel, dass man dahinter einen philosophischen Weltentwurf vermuten würde. Der schmale Band ist jedoch etwas ganz anderes: eine Streitschrift für eine neue Sprache im öffentlichen Diskurs. Eine Streitschrift allerdings, die dem Kampfgetöse entgegenwirkt durch einen persönlichen Ton und eine zum Dialog einladende Geste.
Emotionalität der Sprache
Ausgangspunkt ist das Phänomen der Mehrsprachigkeit. Gümüşays Familienmuttersprache ist Türkisch, die Heimatsprache der Hamburgerin ist Deutsch, und ein mehrjähriger Aufenthalt in England hat Englisch für sie zu einer vertrauten Sprache gemacht. Jede Sprache hat für sie eine spezifische Emotionalität, jede erlaubt ihr Lebensfacetten wahrzunehmen, die den anderen Sprachen verschlossen bleiben.
Das gilt auch für eine weitere Sprache, die der Autorin wichtig ist, auch wenn sie diese nicht aktiv sprechen kann:
"Die ersten Wörter, die mir mein Großvater ins Ohr flüsterte, waren arabische: die Worte des Adhan, des islamischen Gebetsrufes. Das Gebet, das auf diesen Ruf folgt, wird für den neuen Menschen hoffentlich erst viele Jahrzehnte später verrichtet, wenn sich die Hinterbliebenen an seinem Grab versammeln. Diesen ersten, leisen Ruf, der die Endlichkeit symbolisiert, Geburt und Tod vereinend, flüsterte mein Großvater mir zu, gefolgt von meinem Namen: Kübra. So sollte ich heißen und so heiße ich."
Eine solche Sprach- und Gefühlsvielfalt, die für viele Migranten selbstverständlich ist, ermöglicht eine Einsicht, die anderen verschlossen bleibt, wie Gümüşay den amerikanischen Journalisten Ta-Nehesi Coates zitiert: Das Lernen von Fremdsprachen gleiche "der langsamen Gewöhnung an die Tatsache, dass auch in anderen Welten intelligentes Leben existiert".
Nur wird ein solches Erkennen erschwert durch den Drang zur Eindeutigkeit. Individuelle Vielfalt, Widersprüchliches und Ambiguität zu akzeptieren, zählt nicht zu den Kennzeichen einer Gesellschaft, die Menschen in das vertraute Wir und die Fremden einteilt, die übersehen werden, und deren Erfahrungen und Perspektiven keinen Wert haben.
Ein Museum der Erfahrungen und Gefühle
Für dieses Phänomen wählt Gümüşay ein eindrückliches Bild. Das "Museum der Sprache" ist ein Raum, in dem sich Ideen, Gefühle, Erfahrungen und Träume aus aller Welt befinden. Es ist ein Raum des Lernens und des Wissens. Eine Gruppe bewegt sich frei und selbstverständlich in dem Museum, ausgestattet mit der Macht, die Menschen der anderen Kategorie zu inspizieren, nämlich alle, die von der Norm abweichen:
"Nicht vorgesehen. Fremd. Anders. Manchmal auch einfach nur ungewohnt. Unvertraut. Sie erzeugen Irritationen. Sie sind nicht selbstverständlich."
Also werden sie kategorisiert, in Glaskäfigen ausgestellt und mit einem einzigen Begriff benannt, der Vielschichtigkeit und Eigenheiten auslöscht.
"Ich bin eine Benannte. Eine, die untersucht, analysiert, inspiziert wird. Die im Alltag, aber auch auf Konferenzen, in Panels oder Interviews verwundert gefragt wird, wie das denn gehe: Islam und Feminismus, Kopftuch und Emanzipation, Religiosität und Bildung. Weil die bestehenden Kategorien einfach nicht passen."
Hass ist kein neues Phänomen
Solche Kategorisierungen sind die Grundlage zunehmender gröbster Beleidigungen und Drohungen, die erst seit kurzem als gesamtgesellschaftliches Problem breit thematisiert werden. Dass das Phänomen aber keineswegs so neu ist, zeigen Berichte anderer Benannter, die Gümüşay zitiert. Die Autorin Mely Kiyak berichtete zum Beispiel 2016, seit ihrem ersten Feuilleton-Aufmacher in der "Zeit" im Jahr 2006 habe sie nicht einen einzigen Artikel veröffentlicht, auf den sie keine Hasskommentare erhielt:
"Bei keinem einzigen Text! Ich kenne Kollegen, die haben in ihrem ganzen Berufsleben vielleicht drei Briefe bekommen! Woche für Woche hagelt es Empörung, Beschimpfung, Anzeigen, Drohungen. Selten handelt ein Brief davon, wovon ich schrieb; meistens davon, dass ich schrieb. Wenn also gesagt wird, die Leser seien neuerdings ganz aggressiv, wegen Facebook und Twitter, das habe irgendeine Studie ergeben, dann kann ich das nicht ernst nehmen. Denn meine Erfahrung ist: Ich kenne es nur so."
Eine wichtige Arena, in der diese Mechanismen der verabsolutierenden Zuschreibung wirken, sind die Fernseh-Talkshows, die Gümüşay aus eigener Erfahrung kennt. Dort saß sie oft als "sichtbare Muslimin", wie sie formuliert. Und wurde auf diese Rolle festgelegt, eine Zwangsrepräsentantin von Millionen Muslimen in Deutschland oder auch gleich des Islam insgesamt. Die ihr zugedachte Rolle war ermüdend defensiv, es ging immer darum, solche Pauschalisierungen abzuwehren und sich selbst zu erklären.
"Meine Aufgabe war die einer intellektuellen Putzfrau, die anderen vergeblich ihren Bullshit hinterherräumt, die mit Zahlen, Daten, Fakten und gesundem Menschenverstand dagegen hält. Ich war immer auf Abruf bereit, dem nächsten rassistischen Hirnriss entgegenzutreten, der uns als intellektuelle Debatte oder ,legitime Islamkritik’ verkauft wurde."
"Sprache und Sein" ist nicht nur ein allgemeiner Appell, auf verbale Ausgrenzung zu verzichten, sondern auch ein Aufruf zur Selbstbefreiung der Benannten. Ein freies Sprechen könne aus der Falle der Zuschreibung und zermürbenden Verteidigung herausführen. Statt reflexhaft die Rolle der Stellvertretung zu spielen, sei es wichtig, zu den selbst als relevant betrachteten Themen zu sprechen.
"Wenn wir – die Ausgestellten im Museum der Sprache – aufhören zu sprechen, um uns begreiflich zu machen, sondern sprechen, um zu sein. Wenn wir nicht mehr mit den Augen der anderen auf uns selbst blicken, dann sind wir frei."
Kübra Gümüşay schreibt weitgehend phrasenfrei, klar und lebendig. Gerade deshalb würde man an ein paar Stellen doch gern noch ein wenig nachredigieren, etwa bei Begriffen wie "Studierende of Color" oder "Fallibilität", ein Wort, das ausgerechnet das Schlusskapitel beherrscht. Gemeint ist das Akzeptieren von Unzulänglichkeiten und Fehlern, also schlicht: ein wohlwollender Umgang mit sich selbst und anderen, der das Ausprobieren, das Üben einer menschenfreundlichen Sprache zulässt.
Eine differenzierte Sprache - auch für den weißen Mann?
Vor allem aber kommt die Autorin selbst nicht ganz ohne Kategorien und Zuschreibungen aus, gegen die sie sonst überzeugend argumentiert. Wer oder was ist denn zum Beispiel "die Dominanzgesellschaft"? Gilt da der Grundsatz der differenzierenden Wahrnehmung nicht? Was ist denn mit dem weißen männlichen Politiker mit Tourette? Oder dem christdemokratischen Regierungspräsidenten, der sich für Flüchtlinge einsetzt? Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft haben doch auch mit dem Benennungswahn der Inspizienten zu kämpfen. Und ist nicht auch eine kollektive Bezeichnung wie "die marginalisierten Menschen" ein Etikett, das den so Benannten ihre Würde nehmen kann?
Aber das ist Stoff für Nachfragen, kein grundsätzlicher Einwand. Denn jede Woche, in der im Netz weiter Hass verbreitet wird, in der Menschen wegen einer Gruppenzugehörigkeit negativ kategorisiert werden, macht einen Aufbruch wie Gümüşay ihn fordert, dringlicher. Es gilt konsequent auf verabsolutierende Zuschreibungen zu verzichten. Man könnte auch sagen: Es gilt, Artikel 1 des Grundgesetzes – "Die Würde des Menschen ist unantastbar" – endlich offensiv zu leben.
Kübra Gümüşay: "Sprache und Sein"
Hanser Verlag, Berlin. 208 Seiten, 18 Euro.
Hanser Verlag, Berlin. 208 Seiten, 18 Euro.