Birgid Becker: Der Debatten-König dieser Woche ist sicherlich Juso-Chef Kevin Kühnert, der mit einer Reihe an antikapitalistischen Thesen einen wahren Kritiksturm ausgelöst, angeblich aber auch viel Zustimmung an der SPD-Basis erhalten hat. Im Interview mit der Zeit hatte Kühnert seine Vorstellungen über einen demokratischen Sozialismus skizziert. Er war dabei durchaus direkt. Etwa, als er für die Kollektivierung von Automobilunternehmen wie BMW warb oder anregte, dass niemand mehr als eine selbst genutzte Immobilie haben sollte. Darüber habe ich mit dem Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe gesprochen und ihn zunächst gefragt nach den ideengeschichtlichen Vorbildern. Was spricht denn da aus Kevin Kühnert? Der alte Marx?
Werner Plumpe: Ja, man könnte schon sagen, dass Kühnert sich da in eine bestimmte Reihe von Eigentumsfeindschaft stellt, die deutlich älter ist als der Marxismus, aber mit Karl Marx sicher den deutlichsten programmatischsten Ausdruck gefunden hat. Insofern ist da eine ältere ideengeschichtliche Tradition durchaus vorhanden, ja.
Becker: Sie haben gesagt, Eigentumsfeindschaft. Beim Wohnen etwa, wenn man da ganz radikal fragt: Warum gehört dem einen das Dach über dem Kopf des anderen? Oder noch mal BMW: Warum verdienen einige wenige daran, dass sehr viele andere gute Autos bauen? – Ist das nicht mehr an der Zeit, solche Fragen zu stellen?
"Keines dieser Experimente hat auf Dauer getragen"
Plumpe: Na ja. Das wäre dann richtig, wenn die Verhältnisse so wären, wie Herr Kühnert unterstellt hat, dass sie so sind. Aber wenn Sie sich die Eigentümerstruktur der deutschen großen Unternehmen anschauen, dann finden Sie dort relativ wenige große Eigentümer. Die Masse der Unternehmen ist im Streubesitz. Und ich nehme nicht an, dass Kevin Kühnert die Arbeitnehmer, die ein paar Aktien besitzen, enteignen möchte, und ich glaube auch nicht, dass er den norwegischen Staatsfonds oder andere ausländische Anleger, die ihre Gelder in deutschen Unternehmen angelegt haben, dass er die enteignen möchte. Insofern ist da die rhetorische Klarheit sehr viel größer als die faktische.
Becker: Wenn ich den Wirtschaftshistoriker aber noch mal frage: Kollektivierung – das ist ja so ein Schlüsselwort im Kühnert-Interview. Kollektivierung, was klassisch heißt, Überführung von Privat- in Gemeinschaftseigentum. Denkt da der Wirtschaftshistoriker nur an DDR oder Venezuela, oder gibt es da mehr?
Plumpe: Da gibt es definitiv mehr. Er denkt auch an Jugoslawien, er denkt an den gesamten Ostblock natürlich, er denkt an die Sowjetunion und er denkt auch an die Versuche im 19. Jahrhundert, durch mehr oder weniger öffentliche Einrichtungen Arbeit zu schaffen, die sich nicht kapitalistischen Regeln unterwerfen, und keines dieser Experimente hat auf Dauer getragen. Keines dieser Experimente hat die Menschen, die in den Unternehmen beschäftigt waren, bessergestellt, als das in kapitalistischen Unternehmen der Fall gewesen wäre, und auch keines dieser Experimente hat dazu beigetragen, den gesellschaftlichen Reichtum so zu erhöhen, wie das im Kapitalismus bei all den Problemen, die es ja gar nicht zu bestreiten gibt, gilt und gleichwohl der Fall gewesen ist.
Becker: Man kann aber auch an Sparkassen oder Raiffeisenbanken denken, also an genossenschaftliche Einrichtungen.
Plumpe: Natürlich.
Becker: Und ganz erfolglos sind die ja nicht.
Plumpe: Na ja. Wenn man sich die großen Genossenschaften in Deutschland anschaut, die Baugenossenschaften, die Konsumgenossenschaften, dann sind die meisten von denen in den 1960er-, 70er-Jahren deshalb vom Markt verschwunden, weil sie im Kontext der Expansion mit dem Organisationsmodell Genossenschaft nicht überleben konnten. Das gilt für einige andere nicht, für Rewe nicht und für Edeka, für Einkaufsgenossenschaften des Einzelhandels. Das gilt auch sicher nicht für bestimmte Formen der Kreditgenossenschaften. Aber die Vorstellung, man könne große Teile der Wirtschaft genossenschaftlich organisieren, ist von der Geschichte selbst jedenfalls nicht positiv beantwortet worden.
Becker: Kühnert hat ja, ich denke, mit einem gewissen Hintersinn ans Ahlener Grundsatzprogramm der CDU verwiesen. Da sprach sich die CDU auch für eine gemeinwirtschaftliche Ordnung aus und dafür, Großindustrien teilweise zu verstaatlichen. Allerdings war das schon 1947. Trotzdem aber: So betrachtet gehören wirtschaftsliberale Unworte wie "Vergemeinschaftung" ja gar nicht so weit zurück in die entfernte Vergangenheit datiert.
Plumpe: Nein. Über das Ahlener Programm könnte man nun sehr, sehr viel sagen, und das ist entstanden in einer Zeit, unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, als die CDU sich davon sehr viel versprach, in der Konkurrenz mit der Sozialdemokratie und den seinerzeit an Rhein und Ruhr noch relativ starken Kommunisten. Ob das wirklich je ernst gemeint war, ist eine andere Frage. Aber das ist völlig richtig: Das Grundgesetz und auch die Debatten der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg präferieren nicht unbedingt eine Art kapitalistische Ordnung. Sie lassen das dem politischen Gesetzgeber offen, in welcher Weise er das gestalten will, und insofern waren zeitweilig vor allen Dingen vor dem Hintergrund der Zerstörung des Zweiten Weltkrieges auch gemeinwirtschaftliche Lösungen oder genossenschaftliche Lösungen durchaus in der Öffentlichkeit Gegenstand der Diskussion. Die Frage ist nur immer gewesen, kann das funktionieren und kann das im Vergleich zu den anderen Formen kapitalistischer Wirtschaft dann wirklich funktionieren? Kommen, wenn ich die bestehenden Verhältnisse ändere, bessere Verhältnisse dabei heraus? – Die historischen Erfahrungen sind da leider nicht gut.
Becker: Nun ist es aber wahrscheinlich kein Zufall, dass kapitalistische Unbegriffe wie "Enteignung", "Enteignung von Immobilienkonzernen" – darum geht es ja aktuell in einem Referendum in Berlin -, dass solche kapitalistischen Schreckensbegriffe im Moment da sind, dass sie zirkulieren. Ein bisschen ist das ja wie Boden bereiten für die umfassendere Kapitalismuskritik von Kühnert. Frage also: Wandelt sich da etwas? Und Sie noch mal beim Wort genommen: Nur weil etwas früher nicht funktioniert, heißt das ja nicht, dass es nicht künftig funktionieren kann.
Historische Entwicklungen müssen sich nicht wiederholen
Plumpe: Nein, das ist ganz richtig, und insofern kommt es auch darauf an, dass man die historischen Erfahrungen sehr genau sich anschaut und sich dann überlegt, was man in Zukunft machen kann. Die Geschichte ist keine Art Zwangsjacke, die einen für immer festlegt, und da fällt dann in der gegenwärtigen Debatte auf, dass zumeist die Alternative selbst sehr neblig ist. Man spricht davon, dass der Kapitalismus so, wie er hier besteht, schlechte Folgen haben würde und und und. Das muss sich nicht wiederholen. Und man unterstellt, es wäre anders, wenn man das nur beseitigen würde, durch Enteignung, durch Vergemeinschaftung, durch Kollektivierung andere Strukturen schaffen würde. Aber man sagt nie, wie die denn wirklich funktionieren könnten, was denn anders wäre, ob man auf großindustrielle Automobilproduktion verzichten will, ob man den Rentabilitätsgesichtspunkt aufgeben will, ob man den Strukturwandel bremsen möchte etc. pp. Das sagt man ja nicht und man sagt auch nicht, wie man einen Wohnungsbau finanzieren möchte, den im Wesentlichen der Staat trägt. Da gibt es viele Beispiele dafür. Das beste Beispiel ist die Neue Heimat, wo sich genossenschaftliche und staatliche Momente in den 1970er-Jahren in einer verheerenden Weise miteinander verbunden haben. Das müsste man dann zumindest bedenken.
Becker: Jetzt sind wir aber wieder in der Vergangenheit. Von Ihnen ist frisch ein Kapitalismus-Buch erschienen – Titel: "Das kalte Herz" -, in dem aber der Leser erfährt, dass Sie den Kapitalismus so kaltherzig gar nicht finden. Aber Sie sagen auch, dass der Kapitalismus eine immer währende Revolution ist.
Plumpe: Ja.
Becker: Gucken wir mal nicht in die Vergangenheit. Haben Sie eine Idee, was sich positiv revolutionieren ließe?
Plumpe: Das ist eine Frage, der ich in dem Buch ja nun bewusst in gewisser Hinsicht aus dem Wege gehe beziehungsweise sie nicht stelle, weil ich der Auffassung bin, dass eine Wirtschaftsordnung, die der sozialen Marktwirtschaft oder des westdeutschen und des europäischen Kapitalismus unterliegt, im Großen und Ganzen gut funktioniert und man sie nur pragmatisch anpassen sollte. Aber eine grundstürzende Änderung ist meiner Ansicht nach von der Sache her gar nicht begründbar, und insofern unterliege ich in dem Buch nicht unbedingt einem Prognosezwang, sondern ich gehe davon aus, dass es darauf ankommt, die bestehende Wirtschaftsordnung pragmatisch weiterzuentwickeln.
Was hier im Moment diskutiert wird ist ja, dass man in deren Strukturen eingreifen möchte, dass man andere Entscheidungsprozesse haben möchte, dass man eine andere Form der Kapitalverwendung und ähnlicher Dinge ins Gespräch bringt, und das, finde ich, ist begründungspflichtig und nach meiner Auffassung eher eine pragmatische Fortschreibung, durchaus mit Reformen und Änderungen, aber keine grundstürzende Änderung vorsieht.
Becker: Nun ist es ja so, dass die Macht von Megakonzernen wie Facebook, Google und Amazon ja auch viele Menschen aus der ganz normalen bürgerlichen Mitte ins Grübeln bringt. Hat Kühnert nicht doch recht, wenn er von 25 Jahren neoliberaler Beschallung redet, die jetzt allmählich enden muss und das Pendel in die andere Richtung schlagen lässt? Man muss ja sehen: Nach einer Allensbach-Umfrage für die "FAZ" zweifelt mittlerweile die Hälfte der Deutschen an der sozialen Marktwirtschaft, an der sozial eingehegten Form des Kapitalismus. – Sie haben gesagt, Sie hätten keinem Prognosezwang unterlegen als Wissenschaftler. Das tut die Politik auch nicht, aber sie unterliegt doch so etwas wie einem Gestaltungszwang. Noch mal zu Kühnert: Hat er nicht recht, wenn er politische Gestaltung jetzt einfordert?
Keine Debatte sondern "politisches Geräusch"
Plumpe: Jetzt verharmlosen Sie ihn ja dahin, dass er etwas äußert, wie das alle Politiker tun, nämlich zu sagen, wir müssen in der Zukunft irgendetwas anders machen. Wenn man Kevin Kühnert ernst nimmt – und das ist vielleicht nicht ganz so leicht -, dann möchte er ja die Wirtschaftsordnung in ihren Entscheidungsstrukturen umstellen. Er äußert sich auf der einen Seite insofern, als er sagt: Na ja, gut, das bisherige ist nicht in Ordnung. Er sagt aber nicht, was er neu machen möchte, und das ist ja das große Problem, dem im Moment aus dem Weg gegangen wird, wenn von neoliberaler Beschallung und anderen Dingen gesprochen wird – mal dahingestellt, ob sie richtig sind oder nicht. Es wird nie klar deutlich gesagt, was denn nun wirklich anders werden soll, ob wir die Banken verstaatlichen sollen, wer dann den Zins bestimmt, ob wir die großen Unternehmen auflösen sollen oder ob wir die großen Unternehmen in einer anderen Form führen sollen und wenn ja, welche Führung dabei herauskommt, ob der Strukturwandel begrenzt werden soll, ob wir die Internet-Entwicklung begrenzen, die Digitalisierung eingrenzen wollen, und Ähnliches mehr. Wenn man derartige Dinge ins Auge fasst, dann muss man sie ja wirklich klar benennen und dann auch begründen.
Becker: Macht es aber Sinn, die Debatte zu führen um der Debatte willen?
Plumpe: Ich glaube, das ist im Moment im Wesentlichen politisches Geräusch, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen. Da steckt aus meiner Sicht, wenn ich das historisch einordnen soll, keine wirkliche ernsthafter alternative Debatte um die zukünftige Wirtschaftspolitik drin.
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