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Kükenkummer

In der Arktis geht der Klimawandel besonders schnell voran. Tiere und Pflanzen sind auf die Kälte eingestellt, Verschiebungen können das Gleichgewicht leicht zerstören. Auf Spitzbergen erforschen Wissenschaftler solche Prozesse anhand der Dreizehenmöwe.

Von Johannes Kaiser | 23.08.2010
    Jeden Vormittag im Juni stößt das massive Gummiboot vom Strand des kleinen Hafens in Ny Ålesund in die eiskalten Wasser des Kongsfjord, einer riesigen Bucht im Norden Spitzbergens, auf dem 79. Breitengrad gelegen, also mitten in der Arktis. Schneebedeckte Berge und mächtige Gletscher umrahmen den lang gestreckten Fjord. Auf der dem Forscherdorf gegenüberliegenden Seite der Bucht gibt es eine Kolonie brütender Dreizehenmöwen, eine der häufigsten Vogelarten im Nordatlantik. Seit gut 30 Jahren beobachtet man sie. Allerdings haben sich die Forschungsmethoden in der Zwischenzeit erheblich verbessert. Zuerst kam die Beringung, die den Forschern erlaubt, das Alter und die Partnerbeständigkeit zu überprüfen. Bis zu 24 Jahre können die Möwen alt werden.

    Seit drei Jahren befestigt man auf dem Rücken der Vögel winzige, sieben Gramm wiegende GPS-Sender, um ihre Flugrouten verfolgen zu können. Sobald sie von der Futtersuche zurückkehren, nimmt man ihnen Blut ab, um es auf Stresshormone zu untersuchen.

    "Das ist ein sehr guter Parameter, um das Futterangebot des jeweiligen Jahres zu beurteilen. Wir schauen uns an, welche Auswirkungen große oder geringe Futtermengen auf die Eiablage und den Bruterfolg haben. Wir haben herausgefunden, dass die Vögel heute später brüten als früher. Manches Jahr war richtig desaströs, weil es so gut wie keine Küken schlüpften und zwar immer dann, wenn das Futter im Frühling weit entfernt zu finden war."

    Normalerweise kommt es in Frühjahr, wenn sich die warmen Wasser des Golfstroms vor der Küste Spitzbergens mit den nährstoffreichen kalten Wasser der Arktis mischen, zu einer Planktonblüte und in deren Gefolge zu einer Fischexplosion. Die Vögel müssen dann nicht weit fliegen, um die kleinen, fettreichen Fische des Polarkabeljaus zu erbeuten.

    "Ein sehr gutes Jahr bedeutet, dass das Futter im Fjord zu finden ist, so dass die Männchen nur ein paar Stunden auf Futtersuche gehen müssen. Wenn diese Vermischung nicht stattfindet, dann sind die Eltern gezwungen, sehr weit entfernt Futter zu suchen. Wir verfolgen ihre Flugrouten und derzeit fischen sie 150 Kilometer westlich von Spitzbergen. Das scheint okay, aber letztes Jahr gab es erst 600 Kilometer südlich von Spitzbergen Futter. Sie brauchten sechs bis elf Tage um hinzufliegen und wieder zurückzukommen. Die Vögel hatten massive Schwierigkeiten. Die Eiablage verzögerte sich um zehn Tage und am Ende gab es nur einen geringen Bruterfolg."

    Durch die Erwärmung der Arktis scheint die Vermischung der Wasser immer höher im Norden stattzufinden. Damit werden die Flugstrecken der Dreizehenmöwen immer länger. Geht zudem das Futterangebot vor Ort zurück, holt sich der größte Feind der Dreizehenmöwen, die räuberische Eismöwe statt Fisch aus dem Meer deren Eier und Küken. Das verschärft die Krise zusätzlich. Zwar kommt es dank der Meereserwärmung zu neuen Fischangeboten, aber bislang weiß keiner, wie sich das auf die Dreizehenmöwe auswirken wird. An ihnen kann man studieren, wie sich das Meeresleben in der Arktis unter der Klimaerwärmung verändert,

    "Wir befinden uns hier an einem Ort, an dem der Klimawandel zuerst stattfindet. Mit dem Abschmelzen der Eisdecke ändert sich die Arktis stark. Es ist wichtig, zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein, an dem sich die Dinge verändern, um zu sehen, welchen Einfluss das in Zukunft auf die arktische Vielfalt hat. Die Dreizehenmöwe ist da sehr nützlich, denn sie hängt von den örtlichen Bedingungen des Meeres ab, ist also ein guter Indikator für die Qualität und die Quantität des Futterangebots. Wenn es ihnen schlecht geht, bedeutet das, das es keine kleinen Fische mehr gibt, die auch für die Wale wichtig sind, für die Seehunde und andere eher kommerziell interessante Fischarten wie den atlantischen Kabeljau."