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Künstler in London
Schock und Spott nach dem Brexit

Für die britischen Künstler hat der Ausgang des EU-Referendums die Wirkung einer Atombombe: Die Folgen werden erst allmählich sichtbar. Während die Comedians neue Inspiration bekommen, fürchten andere Kulturschaffende die negativen Implikationen des Brexit.

Von Gerwald Herter |
    Die Flagge Großbritanniens über der Londoner Oxford Street nach dem Brexit-Referendum
    Die Flagge Großbritanniens über der Londoner Oxford Street nach dem Brexit-Referendum (dpa / picture alliance / Andy Rain)
    Anders als viele seiner britischen Comedy-Kollegen hat Al Murray Glück gehabt − aber auch den richtigen Riecher. Als der Comedian vor einigen Jahren seine inzwischen bekannteste Figur, den "Pub Landlord", auf die Kabarettbühne brachte, wollte er der Fremdenfeindlichkeit ein Gesicht geben. Einer Einstellung, die in Großbritannien schon vor dem Brexit-Referendum deutlich spürbar war:
    "This is a party political broadcast on behalf of the Free the UK Party."
    "The Pub Landlord" ist der fiktive Kandidat einer erfundenen Partei, deren Logo jedoch stark an UKIP erinnert. Meist mit einem Pint englischem Bier in der Hand, wettert "Pub Landlord" gegen die Europäische Union oder Ausländer. Er trägt ein rotes, schlecht sitzendes Jackett, ein weißes Hemd und eine korrekt gebundene Billig-Krawatte:
    "Wir von der F U K P sagen nicht, dass wir auf alles eine Antwort haben, nein, wir haben gar keine. Wir werden aber das Überleben der britischen Pubs sichern, gegen die Deutschen kämpfen, wenn die nur wollen, und das Parlament anzünden, um die Versicherungsprämie zu kassieren."
    Das Votum des 24. Juni habe "Pub Landlord" neues Leben eingehaucht, sagt Al Murray, seine Figur könne jetzt die "süße Luft der Freiheit atmen". In den Wochen vor Beginn des auch für Comedians so wichtigen Edinburgh-Festivals mussten einige von Murrays Kollegen ihre Texte aber völlig umschreiben. Komikerin Bridget Christie sagte dem "Guardian", dass ihr das ursprünglich geplante Programm nicht mehr gefallen habe. "Als hätte sich die ganze Welt verändert", so kommt ihr Großbritannien nun vor. Und sie ist nicht die einzige Künstlerin, der das so geht.
    Mit dem Begriff "Fallout" umschreiben britische Medien die Folgen des Referendums. Diese Metapher ist präzise gewählt, denn ähnlich wie bei einer Atomexplosion werden die Folgen erst nach und nach sichtbar. Druckwellen und Hitze wirken unmittelbar, die Strahlung nicht. Man befürchtet andere Folgen als jene, die dann später tatsächlich eintreten.

    "Wahrscheinlich eröffnen sich Chancen"

    Eine prominent besetzte Diskussion über die Kultur und den Brexit in der Royal Academy of Arts warf vor kurzem vor allem Fragen auf. Dort sprach Fernsehproduzent Phil Redmont. In Liverpool hatte er die Verantwortlichen beraten, bevor die Metropole 2008 Europäische Kulturhauptstadt wurde. In der Brexit-Debatte versuchte Redmont Optimismus zu verbreiten:
    "Uns gab es vor der EU und es wird uns auch danach noch geben. Wir wissen nicht genau, was sich ändern wird, aber es wird sich etwas ändern. Ich denke, es werden sich wahrscheinlich Chancen eröffnen."
    Schauspieler und Regisseur Samuel West hingegen sah Anlass zur Selbstkritik und zu einem Appell:
    "I think for the rise of Xenophobia in this country, the fear of the strange, we must take responsability of the country, we all must."
    Verantwortung übernehmen angesichts der existierenden Fremdenfeindlichkeit. Künstler sollten der Angst vor dem Fremden begegnen, meint West. Offenbar ist das aus seiner Sicht in der Vergangenheit zu kurz gekommen.

    Der Schock und die Ratlosigkeit

    Künstler und Kreative sind in Sorge, sie befürchten auch finanzielle Einbußen. Angela Kaya vom Londoner Goethe-Institut hat das beobachtet:
    "Die sind sehr beunruhigt. Ich denke, wir befinden uns im Augenblick in einer Phase, die ich beschreiben würde als ‚nach dem Schock‘. In der großen Ratlosigkeit, geprägt von Selbstzweifeln, was die Zukunft angeht."
    Kaya sagt, dass diese Unruhe in London besonders groß sei, denn Fördermittel könnten in den Norden Englands umgeleitet werden:
    "Es ist ja allgemein bekannt, dass das Land, also nicht London, sondern der Norden gegen den Verbleib in der Europäischen Union gestimmt hat. Und es könnte sein, dass Mittel aus London abgezogen werden und in andere Landesteile transferiert werden, dass sie für soziale Zwecke hergenommen werden. All das weiß man noch nicht, aber all das könnte sich auswirken auf die Existenz von Künstlern, aber auch Kunstinstitutionen hier vor Ort."
    "Fallout" – selbst gut informierte und in Politik und Kultur erfahrene Akteure, wissen noch nicht, was die Folgen sein werden. Viele Unternehmen warten ab, stellen niemanden mehr unbefristet ein, denn das könnte zu riskant sein. Alle warten auf den Herbst und auf substanzielle Ankündigungen der neuen Regierung.

    Realsatire der UKIP ist nicht zu übertreffen

    Bis dahin herrscht Unsicherheit, die auch Comedians wie Al Murray umtreibt. Die echte UKIP, mutmaßlich das Vorbild seiner ausgedachten "FUKP", will jetzt darauf achten, dass es beim Brexit bleibt. Aber der Rücktritt ihres Vorsitzenden Farage hat die Partei in eine Krise gestürzt.
    Stephen Woolfe, der Favorit für seine Nachfolge, schaffte es nicht, seine Bewerbung rechtzeitig an die Partei zu mailen. Er verpasste die Meldefrist um wenige Minuten und ist deshalb aus dem Rennen:
    "Am Freitag hatten wir es schon probiert, aber da tauchte ein Problem mit dem Computersystem auf, am Samstag hatte ich verschiedene Treffen und keine Zeit, wir dachten ohnehin, alles sei ok, und in zehn Minuten geregelt. Ich dachte nicht, dass es 40 Minuten dauern würde, eine Taste zu drücken. Das zeigt mir, dass das Computersystem unserer Partei nicht in Ordnung ist."
    Das hätte selbst Al Murray nicht besser ersinnen können. Gegen diese Realsatire wirkt sogar "The Pub Landlord" blass. Dass Ex-Regierungschef David Cameron nach seinem Rücktritt die "Stylistin" seiner Frau mit einem "Order of the British Empire" auszeichnen will, hätte sich wohl auch kein Kabarettist besser ausdenken können. Außerdem hat Cameron einige seiner früheren Mitstreiter für die Aufnahme ins Oberhaus vorgeschlagen.
    Auch dem Monty-Python-Star John Cleese war diese Ehre vor sieben Jahren angetragen worden. Er lehnte ab, weil er, so Cleese, "den Winter nicht in England verbringen wolle".