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Belarussischer Künstler Klinau
"Der Kreml will weder die Ukraine noch Belarus in die Freiheit entlassen"

Der russische Angriffskrieg in der Ukraine werde zum Zusammenbruch des Putin-Systems führen, glaubt der belarussische Autor und Künstler Artur Klinau. Dann könne sich auch die Situation in seinem Heimatland ändern. Europa müsse jetzt die gesellschaftlichen Kräfte in Russland stärken, die gegen Putin sind.

Der Autor Artur Klinau im Gespräch mit Jochen Rack | 19.06.2022
Der belarussische Schriftsteller und Herausgeber Artur Klinau im Berlin
Der belarussische Schriftsteller und Architekt Artur Klinau (imago/Piero Chiussi)
Der Schriftsteller und Architekt Artur Klinau ist einer der bekanntesten Künstler in Belarus. Er gibt dort das einzige Magazin für zeitgenössische Kunst "pARTisan" heraus. Im Januar 2022 kam der 57-Jährige als Stipendiat nach Deutschland. Eigentlich wollte er in seine Heimat zurückkehren, doch dann begann Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Seitdem hat sich die politische Repression in Belarus, einem Nachbarland der Ukraine, noch einmal verschärft. Artur Klinau entschied sich, vorerst nicht zurückzukehren. Momentan lebt er in Gießen und arbeitet an einem neuen Buch.

"Die belarussische Revolution hatte keine Chance"

In einem kürzlich auf Deutsch erschienenen dokumentarischen Journal zeichnete er ein drastisches Bild der revolutionären Ereignisse im August 2020 in Belarus, als nach den gefälschten Wahlen die Hoffnung auf einen Sturz des Diktators Alexander Lukaschenko aufkeimte. In seiner Heimat kann Klinau sein Buch wegen der Zensur nicht veröffentlichen. Seine Tochter wurde während der Proteste verhaftet und zu zwei Wochen Gefängnis verurteilt. Er selbst sah und sieht den versuchten Aufstand gegen Lukaschenko kritisch.

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Im Gespräch mit dem Deutschlandfunk erläutert Klinau, warum die Revolution aus seiner Sicht nie eine Chance hatte und die Situation für sein Land sogar verschlechtert hat. Belarus bezahle den Versuch, sich aus der Einfluss- und Interessensphäre Moskaus zu befreien mit dem Verlust der Souveränität, die Ukraine mit einem Krieg. Doch im Gegensatz zu Belarus habe die Ukraine die Chance, diesen Krieg auszuhalten - der nach Meinung von Klinau letztlich zur Demontage des russischen Präsident Wladimir Putin führen wird. "Aber wir sollten uns lieber auf ein langes und schwieriges Szenario einstellen", sagt Klinau. Viel wird nach seiner Ansicht davon abhängen, wie sich Europa gegenüber der russischen Gesellschaft verhält.
Das Interview im Wortlaut:
Jochen Rack: Was würde Ihnen denn drohen, wenn Sie nach Belarus einreisen würden?

Artur
 Klinau: Jeder Mensch, der heute in Belarus lebt oder nach Belarus zurückkehrt, ist natürlich von Repressionen bedroht. Diese Repressionen nehmen ganz seltsame Formen an, folgen einer seltsamen Logik, die oft schwer zu verstehen ist. Ich kenne viele, die an Protesten teilgenommen haben, aber bisher Gott sei Dank nicht von Repressionen betroffen waren. Andererseits kann man für einen ganz kleinen Kommentar in sozialen Netzwerken verhaftet werden. Ich glaube, die Logik der Repressionen kann man anhand der Soziologie der heutigen belarussischen Gesellschaft erklären.
Laut Umfragen unterstützt etwa ein Drittel der Bevölkerung die aktuelle Regierung, das sind überzeugte Anhänger von Lukaschenko. Etwa dieselbe Menge nimmt aktiv an Protesten teil, ist gegen die Regierung. Das letzte Drittel kann man als gemäßigte Gegner der Regierung bezeichnen, sie wollen Reformen und Veränderung, nehmen aber eine zentristische Position ein. Das ergibt also zwei Drittel der Gesellschaft mit einer kritischen Haltung zur Regierung, natürlich kann es da keine Massenrepressionen geben, man kann ja nicht das halbe Land einsperren.
Also folgt die Staatsmacht einer Taktik der moralischen Unterdrückung oder einfach Abschreckung. Sie greift also aus diesen zwei Dritteln nach einem bestimmten Auswahlverfahren einzelne Menschen heraus und bestraft sie vor aller Augen. So will sie die Gesellschaft demoralisieren und ihren Widerstandsgeist brechen.

Lösung der belarussischen Frage liegt in Moskau

Rack: Warum ist denn Ihres Erachtens, Herr Klinau, die Revolution in Belarus gescheitert? Sie hatten in Ihrem Buch zum Ausdruck gebracht, dass Sie sich eher für einen evolutionären Prozess eingesetzt hätten, dass Sie also eine Hoffnung damit verbunden hatten, dass dieses System in gewisser Zeit von sich aus in sich zusammenbrechen würde. Sie waren gegen die Revolution, obwohl teils Ihre Tochter selber daran teilgenommen hat. Warum haben Sie sich so gegen die Revolution ausgesprochen? 

Klinau: Es gibt für die Analyse der politischen Situation in Belarus zwei Konzepte. Das erste Konzept gründet auf dem Prinzip, dass das Hauptproblem von Belarus heute seine Regierung ist, dass es gilt, die Staatsmacht, das Regime zu bekämpfen. Das zweite Konzept betrachtet das Regime nur als Folge, und unser Kampf muss sich gegen die Ursache richten. Und diese Ursache ist nicht in Minsk zu verorten, sondern im Kreml. Mit den Folgen zu kämpfen, ist nicht effektiv und führt auch zu keinem Ergebnis. Ich habe immer die zweite Position vertreten, eine Lösung der belarussischen Frage beziehungsweise Veränderungen oder Revolutionen in Belarus sind ohne tiefgreifende Transformationen in Moskau unmöglich.
Omon-Polizisten bedrängen demonstrierende Frauen in Minsk am 08.09.2020, sie halten einen rotweißen Regenschirm über ihre Köpfe
Artur Klinau: Veränderungen in Belarus sind ohne tiefgreifende Transformationen in Moskau unmöglich (imago images/ITAR-TASS)
Außerdem war in diesem Kontext jede Destabilisierung der belarussischen Staatsmacht gefährlich für Belarus, seine Souveränität und Unabhängigkeit, weil jede Destabilisierung der belarussischen Regierung entweder zu noch mehr Abhängigkeit von Russland oder schlimmstenfalls zu einer Annexion durch Russland führt. Aber das heißt nicht, dass es keine Alternative gäbe, dass wir verloren sind und nichts dagegen tun können. Im Gegenteil, es hätte eigentlich einen anderen Weg gegeben, einen Weg einer sehr vorsichtigen, allmählichen, schleichenden Entfernung vom Kreml, sagen wir, an der Metropole des Imperiums. Weil offensichtlich war, dass Moskau uns nicht einfach loslassen würde, weder Belarus noch die Ukraine.  Also mussten wir uns sehr vorsichtig vom Rachen dieser Bestie davonschleichen, was im Grunde in den letzten Jahren vor der belarussischen Revolution auch passiert ist. Es war ein Prozess der schrittweisen Liberalisierung und Demokratisierung.
Die Autokratie war vor 2020 nicht mehr so stark wie noch zehn Jahre davor. Es war schon ein milderes Regime, und auch die Gesellschaft hatte sich deutlich zum Besseren verändert. Das war ein positiver Prozess, der in ein paar Jahren zum Machtwechsel geführt hätte, dieser Wandel war schon offensichtlich. Natürlich hätte das Regime zuerst irgendeine Übergangsfigur hingestellt, eine Art Kompromiss zwischen ihm und Europa, aber schon die nächsten Wahlen wären mit hoher Wahrscheinlichkeit richtige, demokratische Wahlen gewesen. Das gefiel dem Kreml natürlich überhaupt nicht, dieser Prozess lief seinen Interessen diametral entgegen. Und so hat Moskau im Jahr 2020 versucht, den Wandel in Belarus zu blockieren – und damit war es erfolgreich. Jetzt haben wir in Belarus eine vollkommene Abhängigkeit von Moskau.

„Der Preis für die Revolution in der Ukraine ist ein Krieg“

Rack: Wenn Sie vergleichen, was passiert ist in Belarus und in der Ukraine, in der Ukraine gab es auch eine Revolution, die berühmte Maidan-Revolution im Jahr 2014, sie hat sich durchsetzen können, warum hat denn die große Massenbewegung in Belarus, die ja Hunderttausende in Minsk und anderen Städten auf die Straße gebracht hat, warum konnte sie sich gegenüber der Staatsmacht nicht durchsetzen? Lag es daran, dass eben auch hier bewusst auf Gewaltanwendung verzichtet wurde, wogegen in der Ukraine ja tatsächlich gekämpft wurde, gestorben wurde – und damit die Macht zu Fall gebracht wurde?
Klinau: Zuerst einmal möchte ich vor dem Irrglauben warnen, dass es ein Modell gibt. Irgendein Land wird als Muster genommen, und diesem Muster versuchen Gesellschaften und Länder zu folgen, die ganz anders beschaffen sind. Im vorliegenden Fall ist der Vergleich der Ukraine mit Belarus ganz falsch, weil wir diametral entgegengesetzte Gesellschaftssysteme haben. Im einen Land herrschte 26 Jahre lang ein strenges, autoritäres Regime, das sehr zentralisiert war und sein eher kleines Territorium bis ins letzte Detail unter Kontrolle hatte. Die Ukraine hingegen ist ein riesiges Land, das im selben Zeitraum sozusagen in einer oligarchischen Demokratie gelebt hat mit mehreren Machtpolen. Da spreche ich noch gar nicht vom Territorium und der Bevölkerung.
Diese zwei Länder zu vergleichen und zu fragen, warum habt ihr nicht so eine Revolution hingekriegt wie die Ukraine, ist meiner Meinung nach nicht korrekt, das geht a priori nicht, weil das komplett verschiedene Gesellschaften sind. Das Einzige, was diese beiden Länder verbindet, ist, dass sie sich in der Einfluss- und Interessensphäre des Kreml befinden, der keines von ihnen in die Freiheit oder nach Europa entlassen will, der nicht gestatten will, dass diese Länder selbst über ihre Zukunft entscheiden. In diesem Sinne hatte die belarussische Revolution keine Chance, weil ganz klar war, dass Russland weder die Ukraine noch Belarus loslässt, insofern ist es vollkommen egal, was das für eine Art der Revolution war, eine männliche, eine weibliche, eine patriarchale et cetera, es gab sowieso keine Chance.
Hätte die Revolution gesiegt, hätte das zu einer sofortigen Annexion geführt, das wäre der Preis der Revolution gewesen. In der Ukraine hat die Revolution gesiegt, aber der Preis ist ein Krieg, der schon 2014 begonnen und jetzt eine noch schrecklichere Gestalt angenommen hat. Also, das ist der Preis, den die Ukraine für ihre erfolgreiche Revolution zahlen muss. Aber die Ukraine hat Chancen, diesen Krieg auszuhalten. Diese Chance hatte Belarus nicht. Das Potenzial dieser beiden Länder ist so unterschiedlich. Die Ukraine hat die Möglichkeit, in diesem Krieg zu siegen, Belarus hatte diese Chance nicht einmal theoretisch. Insofern wäre das Einzige, was Belarus hätte erwarten können, eine sofortige Annexion gewesen. 

Soziale Netzwerke: Jeder erstellt sein Überwachungsdossier selbst

Rack: Sie haben – und nicht nur Sie alleine, sondern auch eigentlich alle, die sich in der Opposition in Belarus engagiert haben – immer wieder die Freilassung politischer Gefangener gefordert, es gibt ja Hunderte von Belarussen, die im Gefängnis sitzen. Jetzt scheint aber sogar die Situation sich noch verschärft zu haben, weil in einem neuen Gesetz die Todesstrafe sogar für die Vorwürfe von Terrorismus angedroht wird. Zum Beispiel Mikalay Autukhowich, ihm droht jetzt aufgrund dieses neuen Gesetzes die Todesstrafe. Wie interpretieren Sie diese nochmalige Verschärfung der Situation?
Klinau: Zu den alten Methoden der Bespitzelung und der sozialen Kontrolle, die schon in der Sowjetunion und generell in allen totalitären Regimen eingesetzt wurden, kommt jetzt eine neue Form dazu. Jeder Mensch, der irgendeinen Account in sozialen Netzwerken hat, erstellt eigentlich eine Art Dossier über sich selbst. Das hilft sehr bei der Überwachung von Stimmungen und Äußerungen in der Gesellschaft. In Belarus ist das heute ein sehr ernstes, reales Problem, das soziale Netzwerk ist nicht nur Mittel zu Kommunikation, sondern auch zur Kontrolle. Nicht nur in Belarus, die Funktion der sozialen Netzwerke als Kontrollmechanismus und als Mittel zur Manipulation ist heute wahrscheinlich für jede technologische Gesellschaft charakteristisch.
In Belarus ist das eine besondere Form der Kontrolle – und paradoxerweise erstellt jeder sein Dossier selbst. Bei uns gibt es jetzt sehr viele Fälle, wo gegen Menschen wegen Kommentaren und Aktivitäten in sozialen Netzwerken Haftstrafen verhängt werden. Das ist die Realität. Man muss sich eben eine gewisse Hygiene und Sicherheit in den sozialen Netzwerken angewöhnen und überlegen, ob man so ein Dossier über sich selbst wirklich erstellen will oder angesichts des Kontextes, den man ja kennt, nicht doch lieber vorsichtig ist. Was die Verschärfung der Gesetze betrifft, das hat natürlich auch mit Abschreckung und Demoralisierung zu tun. Es muss ja gar nicht sein, dass diese Gesetze flächendeckend Anwendung finden, aber alleine ihre Existenz, ihr potentieller Druck auf die Gesellschaft erfüllen ihren Zweck. 

„Schwerwiegender Fehler von Putin, diesen Krieg zu beginnen“

Rack: Herr Klinau, Sie haben, bevor der Krieg begonnen wurde, Russlands Überfall auf die Ukraine, gesagt: Wenn Putin einen Krieg gegen die Ukraine anfangen würde, dann würde dies den Zusammenbruch seines Regimes bedeuten. Glauben Sie das immer noch?
Klinau: Ja, ich bin immer noch derselben Meinung. Ich glaube, es war ein schwerwiegender Fehler von Putin, diesen Krieg zu beginnen, der in der Zukunft zum Zusammenbruch und zur Demontage des Putin-Systems führen wird. Nur wird das möglicherweise sehr langsam gehen. In dieser Geschichte haben wahrscheinlich viele, sehr viele, die nicht an die Möglichkeit eines Krieges geglaubt haben, Putins Wahnsinn unterschätzt. Zweitens hat sich, als dieser Krieg begann, gezeigt, dass leider ein großer Teil der russischen Gesellschaft bereit ist, seinen Wahnsinn zu unterstützen. Das ist ein Hinweis darauf, dass das System nicht so schnell demontiert werden wird, das wird sich lange hinziehen. Aber am Ende steht der Zusammenbruch des Systems.

Rack: Ende 2021, also noch bevor Russlands Krieg gegen die Ukraine begonnen hatte, haben Sie sich für einen Dialog mit dem Regime von Lukaschenko ausgesprochen. Sehen Sie dafür jetzt unter diesen augenblicklichen Umständen immer noch Chancen? Oder anders gefragt: Wie können Sie sich überhaupt einen Systemwandel in Belarus vorstellen? Wir haben ja 1989 zum Beispiel den runden Tisch erlebt.
Klinau: Ich glaube, noch ist ein runder Tisch in Belarus natürlich nicht möglich, aber wenn man von einem Dialog mit der Macht spricht, in dem man sich zumindest für den Moment sehr greifbare und realistische Ziele setzen würde, ich weiß nicht, ob ein solcher Dialog derzeit möglich wäre. Leider wird er ja mit der Zeit immer unwahrscheinlicher – und doch bin ich überzeugt von seiner Notwendigkeit. Ohne diesen Dialog können wir erstens die Repressionen nicht aufhalten, weil in Belarus jeden Tag aufs Neue Menschen festgenommen und eingesperrt werden, die Repressionswelle rollt weiter. Das heißt, die belarussische Gesellschaft bräuchte dringend eine Deeskalation.
Die zweite Frage ist die Befreiung der politischen Gefangenen, die ohne Dialog ebenfalls nicht möglich ist. Das sind meiner Ansicht nach die zwei wichtigsten Punkte, die ohne Dialog mit der Macht prinzipiell nicht möglich sind. Und dieser Dialog ist vor allem auch notwendig, weil die Souveränität und Unabhängigkeit unseres Staates auf dem Spiel steht. Also, das, was wir noch an Souveränität haben, werden wir ohne Dialog ebenfalls nicht bewahren können.

Fehlende Aufarbeitung der totalitären Vergangenheit

Rack: Es gibt ja ein Modell für die Beschreibung von gesellschaftlichen Entwicklungen, das ungefähr so aussieht, wenn eine Gesellschaft ihre traumatische Vergangenheit nicht bearbeitet, dann kehrt diese Vergangenheit wieder. Im Falle von post-sowjetischen Staaten ist da die Rede davon, ob die Verbrechen des Stalinismus aufgearbeitet worden sind, also die Gulag-Zeit. Ich habe, als ich in Moskau war, letztes Jahr noch feststellen können, es gab dort ein Gulag-Museum, inzwischen ist es offenbar geschlossen worden, aber es gab dort auch die zivilgesellschaftlichen Aktivitäten von Memorial, die sich bemüht haben, die bolschewistische, stalinistische Vergangenheit aufzuarbeiten, also an die Opfer zu erinnern. Wie weit ist denn so ein ähnlicher Prozess in Belarus passiert, und kann man sagen, dass vielleicht die Erklärung für Russlands Aggressionskrieg darin besteht, dass eben die stalinistische Zeit nicht genügend aufgearbeitet worden ist? Ist etwas Ähnliches in Belarus passiert?
Klinau: Das ist auf jeden Fall ein Grund, warum der Totalitarismus zurückkehren konnte, weil der Totalitarismus seinerzeit nicht verurteilt wurde und die Gesellschaft, die belarussische, die russische, die post-sowjetische, ihre Fehler nicht ernsthaft aufgearbeitet hat. So konnten sich viele repressive Strukturen halten, die wurden entweder konserviert, eingefroren oder haben in latenter Form überlebt und sind jetzt praktisch in derselben Form wieder auferstanden wie in der Stalin-Zeit. Ich möchte nur unterstreichen, dass zwischen der damaligen sowjetischen Ideologie, dem damaligen Totalitarismus und der heutigen Ideologie von Putins Totalitarismus ein Riesenunterschied besteht.
Das sind zwei ganz unterschiedliche ideologische Ausrichtungen, entgegengesetzte Pole, denn was auch immer wir über die Sowjetunion sagen, sie basierte auf einer linken Ideologie, auf einer kommunistischen Utopie. Und was immer auch sonst noch da war, enthielt diese auch humanistische Idee von Gleichheit, sozialer Gerechtigkeit, Internationalismus und so weiter. Das war eine ganz andere Ideologie als die, die wir heute haben. Heute haben wir eine absolut entgegengesetzte Idee, keine linke, sondern eine rechte, sogar eine rechtsextreme Idee, die auf der Überlegenheit der russischen Idee, der russischen Nation aufbaut. Ich will keine so grellen Wörter wie Faschismus bemühen, aber im Grunde ist das nahe dran. Das ist eine ganz andere ideologische Basis.

Sanktionen bedrohen belarussische Souveränität

Rack: Herr Klinau, es gibt eine Exilregierung von Belarus, es ist Swetlana Tichanowskaja in Europa viel unterwegs gewesen, sie versucht, die belarussische Exilgemeinde zu unterstützen, und sie versucht, politische Kräfte zu mobilisieren vom Westen für ihr Programm. Welche Chance sehen Sie denn darin, dass eben von Westen auf die belarussische Führung Druck ausgeübt wird, welche Chancen können Sanktionen für die Freiheitsbewegung in Belarus haben?
Klinau: Ich war immer dagegen, Sanktionen gegen Belarus zu verhängen, und habe das immer offen gesagt. Ich sehe das auch jetzt als Fehler von Europa und dem Westen gegenüber Belarus, der zur vollständigen Abhängigkeit unseres Landes von Moskau geführt hat. In diesen fast zwei Jahren, die die Sanktionen gegen Belarus nun in Kraft sind, habe ich keinen einzigen positiven Effekt gesehen, den die Sanktionen gebracht hätten. Der negative Effekt liegt auf der Hand – eine komplette Abhängigkeit von Russland. Vielleicht hätte es ohne diese Abhängigkeit eine Chance gegeben, dass der Krieg in der Ukraine nicht angefangen hätte. Dass Belarus als Aufmarschplatz herangezogen werden konnte, dass von dort aus die Ukraine hatte angegriffen werden können, war vielleicht eines der Argument für den Krieg. Vielleicht auch nicht, das ist nur eine mögliche Sichtweise, dass das ein zusätzliches Argument für den Angriff war, weil bei der Frage, ob man einen Krieg anfängt oder nicht, ja alle möglichen Argumente abgewogen werden.
Jedenfalls halte ich die Sanktionen gegen Belarus für eine katastrophale Bedrohung der belarussischen Souveränität. Und dass sie jetzt aufrecht bleiben, mir ist schon klar, dass wegen des Krieges Sanktionen gegen Russland verhängt wurden, und doch finde ich, man darf die Rollen von Belarus und von Russland in diesem Krieg auf keinen Fall gleichsetzen. Es gibt den Begriff des Aggressors, aber Belarus ist nicht Mitaggressor, wie es oft dargestellt wird, sondern eher eine Geisel, eines der Opfer dieses Krieges, wobei die Sanktionen gegen das Opfer wie gegen den Aggressor dieselben sind – und das finde ich nicht ganz fair.

„Europa muss verstehen, dass man Russland nicht isolieren darf“

Rack: Wir haben jetzt viel über den Einfluss von Russland auf die Entwicklung in Belarus gesprochen. Sie haben gesagt, der Westen hat durch sein Sanktionsregime keine großen Wirkungen erreicht. Wie könnte denn überhaupt aus interner Sicht, aus Sicht der herrschenden Klasse in Belarus ein potentieller Bruch zwischen dem Herrscher Lukaschenko und seinen Anhängern aussehen? Es gibt ja die Hoffnung – auch im Bezug auf Russland –, dass so etwas wie eine Palastrevolution stattfinden könnte, wenn sich Teile der herrschenden Klasse aufspalten. Gibt es dafür irgendwelche Indizien, glauben Sie daran, dass innerhalb des Systems selber Widersprüche aufbrechen könnten, die zum Zerbröseln dieses Regimes führen?
Klinau: Ich halte das für ein absolut unwahrscheinliches Szenario. Wieder deswegen, weil in Belarus derzeit ohne Veränderungen in Moskau überhaupt keine Revolution möglich ist, weder eine Palastrevolution noch eine demokratische oder sonst irgendeine. Das heißt, zuerst muss Putins Regime demontiert werden, erst dann kann sich die Situation in Belarus ändern. Ich würde da eher zwei realistischere Szenarien in Betracht ziehen, wie es weitergehen kann. Das erste kann man sehr optimistisch nennen: Die Ukraine gewinnt den Krieg, und Putins Regime beginnt, sehr schnell zu bröckeln, es gibt einen Wandel und dergleichen, und ganz Osteuropa, der post-sowjetische Raum, wäre von diesen Veränderungen betroffen. Aber das ist ein sehr schönes Szenario, das wäre, wie man so sagt, zu schön, um wahr zu sein. Es kann so kommen, aber wir sollten uns lieber auf ein langes und schwieriges Szenario einstellen.
Es kann natürlich auch sein, dass es weder zum ersten noch zum zweiten Szenario kommt, sondern dass es ein Hybrid gibt zwischen den beiden Szenarien, aber man muss auf das zweite gefasst sein. Das sieht so aus, dass die russische Gesellschaft sich verschließt und beginnt, während der Krieg fortdauert, von einer totalitären Sekte regiert zu werden, die beleidigt auf Europa und die Welt reagiert, die hungrig und böse ist auf alle, sehr militant und verschworen. Und die Sekte hat Atomwaffen und macht sich bereit zum Atomkrieg. Das dauert an und kommt immer wieder, also die totalitäre Sekte führt Krieg, mal gegen die Ukraine, mal gegen ein anderes osteuropäisches Land.
Für Belarus besteht ein sehr hohes Risiko, ebenfalls hinter diesem eisernen Vorhang zu verschwinden, wir schwimmen einfach mit. Momentan sieht es nicht danach aus, als hätten wir andere Möglichkeiten. Wir sind fest an Russland geknüpft, was für Belarus natürlich eine kolossale Bedrohung darstellt, denn von Souveränität, Demokratie und Veränderungen kann dann gar keine Rede mehr sein. Die totalitäre Sekte Russlands wälzt alle und alles nieder.
Damit dieses Szenario nicht Wirklichkeit wird, muss Europa verstehen, dass man Russland nicht isolieren darf. Klar, es gibt Sanktionen und so weiter, aber wir müssen daran denken, dass in Russland 20 Prozent der Menschen gegen den Krieg und gegen Putin auftreten, das sind 30 Millionen Menschen, das ist viel, eine große Kraft. Man muss überlegen, wie Europa ihnen helfen kann. Europa muss Brücken bauen, darf nicht die Kommunikation kappen, es darf nicht zulassen, dass die russische Gesellschaft monolithisch wird, sondern es muss sie spalten, diesen Putinschen Monolith zerlegen in unterschiedliche soziale Gruppen, weil diese 30 Millionen genau die revolutionäre Klasse sind, die diese Veränderungen in Russland umsetzen wird. Das ist der junge, der gebildete, der progressive Teil der Gesellschaft, dem man irgendwie helfen muss. Also, man darf die russische Gesellschaft nicht konsolidieren, sondern muss versuchen, eine soziale Dynamik zu erzeugen, die einen revolutionären Mechanismus in Gang setzt.
Zweitens wäre es für Belarus in dieser Situation extrem wichtig, sich bei aller Abhängigkeit vom Kreml wenigstens ein winziges bisschen von Russland zu distanzieren, so viel eben möglich ist, sich davonschleichen, wenn auch nur in kleinen Schritten. Denn wenn wir mit der russischen Bevölkerung hinter dem eisernen Vorhang landen, dann haben wir keine Chance mehr. Und damit sich Belarus wenigstens ein bisschen vom Kreml distanzieren kann, muss es versuchen, den Dialog mit Europa wiederaufzunehmen. Ja, es mag jetzt für viele inakzeptabel klingen, dass europäische Politiker mit dem Lukaschenko-Regime sprechen sollten, aber es ist Krieg, und die Bedingungen sind andere geworden. Um die belarussische Gesellschaft zu retten, die es überhaupt nicht verdient hat, von der totalitären Sekte in Russland beherrscht zu werden, hat es vielleicht Sinn, seinen Stolz zu überwinden und zu versuchen, mit der belarussischen Regierung in einen Dialog zu treten und Belarus so weit wie möglich von dem monolithischen Herrschaftssystems Putins wegzubringen. 

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.