Christiane Florin: Vor einigen Wochen haben wir in Tag für Tag über eine Kunstinstallation in einer Kölner Kirche berichtet. Diese Installation fragt, wie es mit der Kirche weitergehen soll. Gemeint ist nicht die Institution, sondern das Bauwerk, wobei das eine mit dem anderen zusammenhängt. Es gab viele Reaktionen und eine besonders interessante: Der Künstler Richard Schindler schickte uns Fotos von seinem aktuellen Kunstprojekt. Er hat drei Wochen lang in der alten evangelischen Kirche Kirchzarten im Schwarzwald gewohnt, gearbeitet und ausgestellt. Das Projekt heißt: "Der Künstler ist anwesend. Bauen-wohnen-schenken". Zu sehen gibt es unter anderem Kartons. Die Kirche wird schon seit über vierzig Jahren nicht mehr für Gottesdienste genutzt. Ein Kunstverein kümmert sich um das Gebäude. Die Ausstellung wird gerade abgebaut, deshalb ist das Gespräch mit Richard Schindler nicht live, sondern aufgezeichnet. Ich habe ihn zuerst gefragt, ob es etwas verändert, wenn man statt in einem Museum oder Ateiler in einer Kirche ausstellt.
Richard Schindler: Absolut. Ich fand es total spannend, dass dieser Raum ja ursprünglich gedacht war zur Verkündung Gottes Wortes. Also, es ging dabei ja traditionsgemäß um das Hören. Aber in dem Moment, wo der Kunstverein dort Einzug hielt, ging es fortan um das Sehen, um das Schauen. Was für mich dann naheliegend war, weil in der Architektur technisch gesehen beides präsent ist, auch beides in meinen Aktivitäten zusammen zu führen. Ich zeige dort eben nicht nur Bilder, Objekte, sondern lade auch zu Gesprächen und Vorträgen ein. Sodass also gleichermaßen, wie die Bilder und das zu Sehende an der Wand, auch das Wort zu seinem Recht kommt.
Florin: Sie haben ja dort nicht nur ausgestellt, sondern auch gelebt. "Der Künstler ist anwesend", hieß die Ausstellung. Und Sie waren 24 Stunden dort anwesend.
Schindler: Ja.
Florin: Was hat das für Sie verändert, in einer Kirche zu leben? Auch wenn die jetzt schon lange nicht mehr als Kirche genutzt wird.
Schindler: Jede Menge. Letztendlich habe ich mich – wie soll ich sagen – als Einsiedler gefühlt, der geistige Nahrung spendet und mit Naturalien honoriert wird. Die Nachbaren, insbesondere die Nachbarinnen, waren sehr hellhörig geworden und hatten gleich gefragt: ‚Ja, wie waschen Sie sich? Was essen Sie?‘ und so weiter. Und habe dann Kürbiscremesuppe gebracht bekommen, Linzer Torte, selbstgebackene Brötchen, Käse, Wein, Pralinen, Blumen. Also, ich war richtig gut versorgt. Und ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich alle Menschen, die hier kamen, sich sehr wohlgefühlt haben in dem Raum.
Florin: Und Kürbissuppe, Brötchen und so weiter, kriegen Sie, wenn Sie in einem Museum ausstellen, wahrscheinlich nicht. Also ist das ein Akt christlicher Nächstenliebe dann auch gewesen – deuten Sie es so?
"Das Modell eines gelungenen Daseins"
Schindler: Ja. Ja, durchaus. Ich bin einverstanden, das so zu sehen. Den Haupttitel der Veranstaltung hatten Sie ja schon genannt: "Der Künstler ist anwesend". Nun bedeutet Anwesenheit ja eine physisch-leibliche Anwesenheit, aber natürlich auch eine mentale Präsenz. Wenn man das Fremdwort ‚präsent sein‘ nimmt, dann ist man sofort auch beim Geschenk, sodass es bei diesem Projekt eben auch um das Schenken ging. Ich habe während der Ausstellungszeit auch Geschenke verpackt, die Besucher mitgebracht haben. Und ich habe umgekehrt eben auch Geschenke erhalten von – wie gesagt – Nachbarn oder Besuchern, die zum Teil zwei-, dreimal kamen, um – ja – zu sprechen, um die Raumatmosphäre zu erleben.
Wissen Sie, so ein hoher, lichter Raum wirkt offenbar unmittelbar auf den Kopf oder aufs Gehirn. Also, der physisch umbaute Raum weitet gleichsam auch den Raum im Kopf, möchte ich mal sagen. Und das ist eine sehr angenehme, schöne Erfahrung. Sodass ich nicht nur die Erfahrung machte, das ist ein großartiges Atelier, da möchte man gerne arbeiten; ich habe nicht nur die Erfahrung gemacht, das ist ein wunderbarer Wohnraum; ich habe nicht nur die Erfahrung gemacht, es ist ein wunderbarer Ausstellungsraum und ein Serviceraum, in dem ich eben Geschenkverpackungen herstelle, es ist – das ist mir erst in den letzten Tagen so in den Sinn gekommen – eigentlich das Modell eines gelungen Daseins. Das möchte ich jedem Menschen wünschen
Florin: Hat das etwas Religiöses?
Schindler: Ja, vielleicht. Es wird darauf ankommen, was wir unter religiös verstehen. Wissen Sie, ich habe von einer China Reise eine Erfahrung mitgebracht, nämlich, dass dort die buddhistischen Tempel alle eine erhöhte Schwelle haben – man muss dort ausdrücklich den sakralen Raum betreten. Und es war mir sofort klar, dass dies eine Geste ist, die ich für die Kunst in Anspruch nehmen möchte. Ich habe also auch in diesen Raum des Kunstvereins und die ehemalige Kirche eine Schwelle eingebaut, die Besucher und mich selbst nötigen, einen ausdrücklichen Schritt zu machen, um diesen – ja – sakralen und künstlerischen Raum zu betreten.
"Niedrigschwellig ist alle Kunst"
Florin: Niedrigschwellig ist nicht Ihre Sache. Es soll schon spürbar sein, da ist etwas anders?
Schindler: Niedrigschwellig ist alle Kunst. Es gibt leider ein weitverbreitetes Vorurteil, Zeitgenössische Kunst insbesondere sei hochschwellig oder kompliziert, komplex und man müsse ungeheure Voraussetzungen erfüllen, um da ein Verständnis zu gewinnen und Erfahrungsgewinn zu haben. Aber dem ist natürlich nicht so. Wenn man sich unvoreingenommen den Dingen aussetzt, dann sind auch das zeitgenössische Kunstwerk niederschwellig.
Florin: Die Kirche ist nicht nach Osten ausgerichtet. Sie haben das aber nachgeholt oder als Defizit empfunden und kompensiert. Sie haben die richtige Ausrichtung dann gemalt. Warum war Ihnen das so wichtig?
Schindler: Ja, es ist einfach eine grundsätzlich künstlerische Geste. Wissen Sie, ich hänge jetzt nicht an religiösen oder kirchlichen Vorgaben. Ich fand es einfach interessant festzustellen, dass die Kirche – im Unterschied zu vielen, vielen anderen – eben nicht nach Osten ausgerichtet ist, nicht exakt ausgerichtet ist und hatte deshalb die Idee, so etwas wie eine Grundrissverschiebung vorzunehmen. Ich habe mit dem Kompass ausgemessen, wie sollte die Kirche denn eigentlich stehen, und habe dann eine entsprechende Grundrisslinie quer durch den Raum gezogen und meinen Arbeitstisch zum Beispiel auch danach ausgerichtet.
Also, das hat einfach nur eine Folge von Konsequenzen, die zu verfolgen, klarmachen können, dass es hier nicht um willkürliche Setzungen geht, sondern dass es hier bild-künstlerische, inner-künstlerische – ja – Notwendigkeiten gibt, denen man als Künstler folgen kann oder sie eben bewusst ignorieren kann. Für mich war es einfach schön, also eine virtuelle Richtigstellung vorzunehmen.
Florin: Haben Sie schon mal Kunst im Auftrag von Kirchen gemacht?
Schindler: Nein, das habe ich noch nicht.
Florin: Würden Sie das machen?
Schindler: Ich bin noch nie gefragt worden. Aber ich würde das schon machen, wenn es mir gelänge, am jeweiligem Ort festzustellen, was hier notwendig und hilfreich ist. Und das ist nicht unbedingt das, was Auftraggeber glauben, das notwendig sei.
"Nicht zu verantworten, solche Schätze nicht fürs Gemeinwohl zu nutzen"
Florin: Die Alte Evangelische Kirche in Kirchzarten, in der Sie gelebt und ausgestellt haben, hat eine interessante Geschichte. Denn sie ist als Kirche nicht mehr genutzt worden, weil es eine neue, größere gab, weil die Gemeinde größer geworden war und man sagte: ‚Die Kirche, die wir haben, ist einfach zu klein'.
Schindler: Ja.
Florin: Jetzt ist eine Situation eingetreten, in der Kirchen zu groß geworden, sind, für kleine Zahl an Gottesdienstbesuchern.
Schindler: Ja.
Florin: Würden Sie sich wünschen, dass diese alte Kirche, in der Sie ausgestellt haben, wieder auch eine Kirche wird oder vielleicht auch beides, Kirche und Kunstraum?
Schindler: Ja, könnte ich mir gut vorstellen. Also, in Gesprächen waren wir ohnehin schon auf die Idee gekommen, jetzt, wo die Kirchengemeinde wieder geschrumpft ist auf quasi das alte Maß oder nicht ganz, könnte die Kirchengemeinde wieder zurückziehen und im Gegenzug der Kunstverein in die große Kirche wandern. Es geht ja generell, glaube ich, darum, inwieweit es überhaupt zu verantworten ist, dass man Räume dieser Größe und Qualität der Öffentlichkeit vorenthält beziehungsweise sie nur sporadisch nutzt. Weil andernfalls wird so ein – ja – Schatz an Raumqualität einfach ungenutzt irgendwo liegengelassen, und das ist – meine ich – gesellschaftlich und im Sinne des Gemeinwohls nicht zu verantworten.
Florin: Kirchen sollten öffentliche Räume, eigentlich muss man sagen, bleiben, denn an sich sind sie öffentlich und nicht privat.
Schindler: Ja, ja, richtig. Richtig.
Stärken, was schön ist
Florin: Nur, so viel Kunst kann man ja nicht aufführen, um alle Kirchen zu bespielen, für die sich in nächster Zeit – sagen wir mal in den nächsten zehn Jahren –, wo sich diese Frage der Weiternutzung stellen wird. Was können Sie sich da vorstellen?
Schindler: Da hätte ich keine Sorge, dass es zu wenig Kunst geben sollte. Nur würde ich eben nicht von dem modisch gewordenen Wort "bespielen" gebrauch machen wollen. In Freiburg zum Beispiel hat Frau Professor Angeli Janhsen, die Kunsthistorikerin an der Universität in Freiburg, mit der Kirchengemeinde der Johanniskirche ein Ausstellungskonzept erarbeitet, bei dem in unregelmäßigen regelmäßigen Abständen künstlerische Instillation realisiert werden. Ich finde das ganz großartig, was da passiert. Und es finden dadurch natürlich auch Wege in diese Räume, die sonst vielleicht nicht dorthin gingen.
Florin: Wenn wir in Sendungen dieses Thema ansprechen – Weiternutzung, Nachnutzung von Kirchen –, dann fällt immer wieder auf, dass das Thema viele Menschen, viele Hörerinnen und Hörer interessiert und zwar auch solche, die den Kirchen überhaupt nicht nahestehen. Warum, meinen Sie, ist das so? Warum sind Kirchen keine Gebäude wie andere auch, wo man nicht einfach sagt: ‚Abreißen, neu bauen oder Wohnungen rein oder ein Restaurant rein‘?
Schindler: Na ja, es sind ja doch Gebäude, die erbaut wurden von einer Gemeinschaft zur ihrer eigenen Stärkung oder Selbstvergewisserung und zur Ausübung der Praxis ihrer Überzeugungen. Sie sind ein Bekenntnis. Und das – ja – vermittelt die Architektur unmittelbar und man hat vielleicht doch einen gewissen Respekt oder Achtung davor, dass eine Gemeinschaft, wie eine religiöse, so etwas zustande gebracht hat. Das mag vielleicht ein Grund sein, warum man da nicht so schnell bei der Hand ist, um zu sagen: ‚Reißt das Ding ab, wir bauen eine Tiefgarage dahin.‘
Der Untertitel unserer Unternehmung im Kunstverein in Kirchzarten lautet: "Bauen, Wohnen, Schenken" – eine Abwandlung eines Heidegger-Titels "Bauen, Wohnen, Denken". Ich habe das Denken ersetzt durch Schenken, weil Schenken eben eine ganz zentrale zwischenmenschliche Kategorie ist, denke ich, die zu stärken sehr, sehr wichtig ist, genau in unserer Zeit. Weil es ganz grundsätzlich zwei extreme Strategien vielleicht gibt, um weltverändernd im Sinne eines besser Machens möglich sind. Man kann natürlich – was meistens der Fall ist – versuchen, das Hässliche, Unangenehme, Schmerzhafte zu beseitigen. Man kann aber auch ganz umgekehrt – und ich denke, das macht die Kunst auch in diesen Kirchenräumen –, man kann aber auch das stärken, was schön ist und was gelungen ist. Und dich denke, dass eine Kunstrealisierung in einem Kirchenraum dessen Qualitäten, die schön und gelungen sind, stärkt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.