Schon auf den frühesten konstruktivistischen Werken tauchen sie auf, die Spiralen und geometrischen Flächen, die Mary Bauermeister für ihren ersten Lehrer Max Bill in Ulm malte. Bis heute bildet sie in ähnlichen Formen Schnecken oder Pyramiden aus Steinen, die das Meer rund geschliffen hat. Vor 60 Jahren entstanden diese ersten Zeichnungen, es folgen filigrane, schon ins räumliche ausgreifende Wabenbilder aus plastischer Masse, parallel gibt es abstrakte Pastellarbeiten und akribisch ausgeführte Pünktchenbilder zu sehen. Dann ihre Lichttücher sowie frei kombinierbare geometrische Tafelbilder aus Magneten. Aus diesem Fundus konnte Mary Bauermeister ein Leben lang schöpfen. Das zeigt die Koblenzer Retrospektive mehrfach: Schon 30-jährig, ab 1964, beginnt sie, eigene Werke abzufotografieren und in neue Collagen einzubauen. Mit ihren Prismen und Linsenkästen machte sie in den New Yorker Galerien der 60er Jahre ein Vermögen. Wer sich mit dem Auge den Glaskugeln nähert, kann dahinter Noten von John Cage erkennen oder autobiografische Texte Mary Bauermeisters entziffern.
"Das hat sehr viel mit Schrift zu tun. Meine Kästen, das sind eigentlich Denkkästen. Da kann man drin rum lesen und drin rum assoziieren. Und diese Art von Assoziationslust, das war typisch auch für die jüdischen Sammler. Also ich bin in sämtlichen Museen und bei wunderbaren Sammlern gelandet und hab eine sehr, sehr schöne Erinnerung an New York. Ich bin später aber dann doch wieder weg, weil es mir zu kommerziell wurde."
Aufforderung, sich dabei etwas zu denken
Eine Haltung zur US-Metropole, die die Koblenzer "Da-capo"-Ausstellung mit zwei Hauptwerken belegt: 1969 zerlegte Mary Bauermeister Quentin Massys Gemälde "Der Geldwechsler und seine Frau" und fügte es neu zusammen. Der Collage gegenüber hängt "Fuck the system" – eine mit Blattgold, Tusche und Holzkugel belegte Dürer-Madonna. Auch Notenblätter ihres früheren Ehemannes Karlheinz Stockhausen finden sich – eingeklemmt in einen knorrigen Baumstamm. Es ist das einzige gezeigte Gemeinschaftswerk. Die Phase, in der Mary Bauermeister unter anderem auch die Kinder Stockhausens in Forsbach groß zog, schien künstlerisch unproduktiv gewesen zu sein. Erst ab Mitte der 1980er Jahre gibt es wieder verzeichnete Werke. Und ganz aktuelle: Die bald 81-Jährige ist heute produktiv wie nie. Aus diesem Jahr stammen etliche Phosphorbilder, teils kombiniert mit Flächen aus filigran montierten Strohhalmspitzen, die Mary Bauermeister schon vor 50 Jahren verwendete. Heute führt auch eine Tara Donovan riesige Wandskulpturen mit solchen Strohhalmen aus. Was allerdings bei Mary Bauermeister unterschwellig hinzutritt: ein Erschaudern über das Aufblühen und Irisieren des Phosphors auf der Grundfläche.
Das Rot, das Violett entfaltet – zusätzlich angestrahlt von Speziallampen - eine unwirkliche Leuchtkraft. Erinnerung an ihre Kindheit, an die Fliegerangriffe im Zweiten Weltkrieg in Köln – als Phosphorbomben den Nachthimmel ausleuchteten für die folgenden Angriffswellen mit den Sprengbomben. Ein 36 Meter langer Zopf mit Textilien in den Farben Schwarz-Rot-Gold entstand ursprünglich für das Potsdamer Fluxus-Museum. Nun windet sich der Zopf durch die Etagen des Koblenzer Museums - bis zu einem Gemälde, das eine umgedrehte Deutschlandfahne zeigt. Das ist eines ihrer Lieblingsmotive. Mary Bauermeister empfindet das Schwarz oben als belastenden Schuldbalken. Sie will das lebendige Rot in der Mitte lassen, aber das Goldene, Transzendente nicht mehr unten sehen und fordert jeden auf, sich zu befreien und die Nationalfahne anders herum als gewohnt zu hissen. Immer wieder also die Aufforderung, sich doch etwas dabei zu denken, wenn man eine Haltung oder einen Platz einnimmt.
In diesem Sinne hat Matthias von der Bank, der Museumsleiter und Kurator der Mary-Bauermeister-Retrospektive ans Ende der Schau die neue raumgreifende Installation "Zuvielisation" gestellt. Eine riesige Essenstafel, umrahmt von Zitaten zur Bewusstseinsgeschichte des Schweizer Kulturtheoretikers Jean Gebser. Links steht die Schüssel für den Armen, rechts die kitschige Prunktafel mit Besteck und Porzellan ohne Ende für den, der auf dem Thron sitzen darf. Auf der langen Sitzbank dazwischen ist genug Platz für alle da. "Zuvielisation" ist aber kein Schlusspunkt. Gerade entsteht im Foyer schon das nächste Werk Mary Bauermeisters: Es heißt "Weltkulturerbe" - und wird eine Elektroschrottinstallation.