Eher selten kommt es jedoch vor, dass der Podcast künstlerisch so erforscht wird, wie es bei Radio als neuem Medium um 1924 im Katastrophenhörspiel der Fall war. Dennoch gibt es einige wenige, herausragende Beispiele, die genau dies tun, allerdings sollte man sie nicht einfach als Podcasts bezeichnen, sondern als das begreifen, was sie eigentlich sind: Post-Radiokunst.
Ania Mauruschat, geboren 1976, lebt in Berlin und Kopenhagen. Zurzeit ist sie Post Doc am Sound Studies Lab der Universität Kopenhagen und arbeitet zum Thema „Sounding Crisis“. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u. a. Sound und Radio Studies, Environmental Humanities und Energy Studies.
Der Podcast boomt. Die irisch-australische Journalistin und Podcastexpertin Siobhán McHugh spitzt es zu mit ihrer Feststellung:
„Jeder Mann, jede Frau und sogar deren Hund scheinen einen Podcast zu haben, jede Marke möchte einen haben, (…) jede Firma und Ideologen aller Art tummeln sich im Podcast-Teich.“
Für jüngere Leute ist es auch in Deutschland spätestens seit der Pandemie eine alltägliche Selbstverständlichkeit, sich im Internet Audios verschiedensten Inhalts herunterzuladen und diese auf dem Smartphone mit Ohrstöpseln bei der nächstpassenden Gelegenheit anzuhören.
Für ältere Leute hingegen ist der Druck auf das Knöpfchen am Radiogerät immer noch die zuverlässigste Quelle um zu hören, was das Programm dort bietet.
Was Podcast und Radio miteinander zu tun haben, insbesondere hinsichtlich ihrer Kunstformen und des künstlerischen Erzählens, ist wahrscheinlich den wenigsten klar – egal welchen Alters. Es lohnt sich darum, die künstlerische Seite von Radio und Podcast etwas genauer zu betrachten, und dabei auch in den Blick zu nehmen, inwiefern sie sich unterscheiden.
Die ursprüngliche und bekannteste Kunstform des Radios ist das Hörspiel.
Zauberei auf dem Sender von Hans Flesch zum Beispiel war das erste Radiohörspiel in Deutschland, A comedy of Danger von Richard Hughes das erste Hörspiel in Großbritannien und Maremoto von Pierre Cusy und Gabriel Germinet das erste in Frankreich. Alle drei Hörspiele wurden 1924 im Radio gesendet.
Erstaunlicherweise handeln alle drei Hörspiele von Katastrophen. Wie Katja Rothe in ihrem Buch Katastrophen hören gezeigt hat, half das Hörspiel in der Frühzeit des Radios den Machern und den Hörern dabei, das neuartige Medium zu erforschen und besser zu verstehen. Rothe schreibt über das junge Radiohörspiel:
„Es inszenierte an den Grenzen, an den offenen Wunden der symbolischen Ordnung Katastrophen, Störungen, Zusammenbrüche. Doch eben jene spektakuläre Szene der Katastrophe war (…) gleichzeitig Ort einer experimentellen Annäherung an das Radio und seine Hörer.“
Der Medienwissenschaftler Bernhard Siegert ergänzt:
„...in der Inszenierung seines Endes wird das Medium sicht- bzw. hörbar.“
Katastrophenhörspiele seien vor allem deswegen so interessant, weil sich in ihnen das Medium Radio selbst reflektiere.
Anders gesagt: Es bedarf immer der Störung, der Unterbrechung oder Disruption, und manchmal auch der Katastrophe, damit man sich dessen, was reibungslos und vielleicht sogar zu reibungslos funktioniert, bewusst wird.
Der russische Literaturtheoretiker Viktor Shklovsky nannte dieses reibungslose Funktionieren unseres Alltags „Automatisierung“. 1916, während des 1. Weltkrieges schrieb er, dass die eigentliche Funktion von Kunst sei, genau diese Automatisierung zu stören.
„Die Automatisierung frisst die Dinge, die Kleidung, die Möbel, die Frau und den Schrecken des Krieges. Wenn das ganze komplizierte Leben bei vielen unbewusst abläuft, hat es dieses Leben gleichsam nicht gegeben. Und gerade, um das Empfinden des Lebens wiederherzustellen, um die Dinge zu fühlen, um den Stein steinern zu machen, existiert das, was man Kunst nennt. Ziel der Kunst ist es, ein Empfinden des Gegenstandes zu vermitteln, als Sehen, und als Wiedererkennen; das Verfahren der Kunst ist das Verfahren der ‚Verfremdung‘ der Dinge und das Verfahren der erschwerten Form, ein Verfahren, das die Schwierigkeit und Länge der Wahrnehmung steigert, denn der Wahrnehmungsprozess ist in der Kunst Selbstzweck und muss verlängert werden; Kunst ist ein Mittel, das Machen einer Sache zu erleben; das Gemachte hingegen ist in der Kunst unwichtig.“
Die Vorstellung, dass es in der Kunst vor allem um die Störung eingefahrener Wahrnehmungsmuster geht, hat seither unzählige Künstlerinnen und Künstler auf der ganzen Welt dazu inspiriert, ihr Schaffen als „künstlerische Forschung“ zu begreifen. Es geht um die Verfremdung und um das Machen, um den Nachvollzug der Komplexität eines Kunstwerks und seines künstlerischen Schöpfungsprozesses, und nicht um das Gemachte, das Werk, das man sich als dekorative Wertanlage ins Wohnzimmer hängt.
So ungenau die Rede von künstlerischer Forschung oft auch ist, besteht doch bei den meisten Kunstschaffenden und Theoretiker:innen Einigkeit darüber, dass es auf jeden Fall darum geht, die Materialen und Medien zu erkunden, mit denen ein Kunstwerk geschaffen wird und mit ihnen zu experimentieren.
In diesem Sinne kann man auch Kurt Weills Vision einer „absoluten Radiokunst“ als Programm für eine Form künstlerischer Forschung zum Radio verstehen.
Als Geburtsstunde des Rundfunks in Deutschland gilt der 29. Oktober 1923. An diesem Tag wurde die erste Unterhaltungssendung aus dem Berliner Vox-Haus ausgestrahlt. Komponist Weill begleitete das neue Medium als Autor mit kunst- und kulturkritischen Texten und Essays. Weill interessierte sich vor allem dafür, wie das elektronische Massenmedium, das sich kontinuierlich weiterentwickelt und immer wieder technische Neuerungen aufnimmt, das traditionelle Verständnis von Musik erweitern könne. Vor allem die Integration natürlicher Töne und künstlicher Klangeffekte in musikalische Kompositionen erschien ihm eine Möglichkeit, um eine neue Kunstform zu entwickeln. Diese sollte dem neuartigen Medium Radio gerecht werden. In seiner Abhandlung Die Möglichkeiten der absoluten Radiokunst von 1925 spekulierte der Komponist:
„Nun können wir uns sehr gut vorstellen, dass zu den Tönen und Rhythmen der Musik neue Klänge hinzutreten würden, Klänge aus anderen Sphären: Rufe menschlicher und tierischer Stimmen, Naturstimmen, Rauschen von Winden, Wasser, Bäumen und dann ein Heer neuer, unerhörter Geräusche, die das Mikrophon auf künstlichem Wege erzeugen könnte, wenn Klangwellen erhöht oder vertieft, übereinandergeschichtet oder ineinander verwoben, verweht und neugeboren würden.“
Wovon Weill damals noch träumte, von einem Aufzeichnungsgerät zur Speicherung von akustischen Tönen und von elektronischen Instrumenten zur Erzeugung unerhörter Klänge und Geräusche, sollte bald Wirklichkeit werden, unter anderem durch die Erfindung des Magnettonbands.
Auch nach dessen Erfindung, die sich von 1899 bis 1935 erstreckte, wurde weiter leidenschaftlich experimentiert damit, wie man Radiogeschichten mit Schall, Klang, Geräusch, Musik, Sprache, Lärm, Stille und den diversen Möglichkeiten technologischer Manipulation am besten erzählen kann. Auch wurden die technologischen Möglichkeiten des Mediums Radio für Kompositionen avantgardistischer Musik unablässig erforscht und vorangetrieben.
Dabei spielten unterschiedliche Klanglabore eine wichtige Rolle. Zwischen 1928 und 1935 die Rundfunkversuchsstelle in Berlin, seit Ende der 1940er Jahre die Versuchslabore von Pierre Schaeffer beim französischen Rundfunk in Paris und ab den 1950ern der BBC Radiophonic Workshop in London, wo die Tontechnikerinnen Daphne Oram und Delia Derbyshire wegweisende Arbeit leisteten.
Die interessantesten Ergebnisse der technologischen Forschungen in diesen Klanglaboren griffen progressive Hörspiel- und Radiomacher:innen für die Produktion künstlerischer Werke auf.
Zum Beispiel zeigte das kurze Hörspiel Fünf Mann Menschen des Wiener Schriftstellerpaares Ernst Jandl und Friederike Mayröcker 1968, wie die technologischen Innovationen künstlerisch genutzt werden konnten. Jandl hatte im Radiophonic Workshop der BBC in London die Arbeit mit neuartigen Klangmaschinen kennengelernt. Sein deutscher Redakteur Hansjörg Schmitthenner ermunterte ihn ein Stück zu schreiben, das diese Möglichkeiten künstlerisch umsetzt. Fünf Mann Menschen nutzte die neuartige Stereophonie für die Verteilung der Stimmen im räumlichen Spektrum. Damit ließ sich auf abstrakte, nicht allein sprachlich-inhaltliche Weise, die Gleichschaltung und patriarchale Normierung des Lebens von Männern zeigen, von der Wiege bis zur Bahre.
Künstlerische Forschung nach Viktor Shklovsky und Kurt Weill definierte diese Erkundung von Neuem als Störung von Automatismen. In diese Richtung geht auch eine Definition von künstlerischer Forschung heute, wie sie die Wiener Künstlerinnen Anette Baldauf und Ana Hoffner anbieten:
„Was künstlerische Forschung verheißt, ist eine Verstörung: Kritische künstlerische Forschungen wollen Löcher in die Matrix des Verstehens reißen, irritierende Verbindungen herstellen und konventionelle Nahtstellen trennen.“
Dabei ist künstlerische Forschung immer auch einmalig, sie kann nur an einem konkreten Beispiel beobachtet und nachvollzogen werden. Das unterscheidet sie von der wissenschaftlichen Forschung, deren Ziel eine verallgemeinerbare Erkenntnis und die Abstraktion ist. Wenn Künstlerinnen und Künstler ihre Experimente durchführen, geht es ihnen bei ihrer Forschungstätigkeit nicht darum, dass diese Experimente rational und wiederholbar sind und zu universalgültigen Aussagen führen. Künstlerischer Forschung geht es darum, die Eigengesetzlichkeit eines Mediums in einem konkreten, einmaligen Beispiel zu erforschen.
Automatismen unserer Wahrnehmung und eingefahrene Denkmuster produktiv zu stören ist auch neueren radiokünstlerischen Produktionen gelungen, wenn sie auf je eigene Weise die Möglichkeiten des Podcast in ihre auch für Radio produzierte Audio-Kunst eingebunden haben. Eines dieser Kunstwerke ist Memory Loops von Michaela Melián.
2008 gewann die Künstlerin, Musikerin und Hörspielmacherin mit ihrem Konzept für ein virtuelles Audiodenkmal den Wettbewerb Opfer des Nationalsozialismus – Neue Formen des Erinnerns und Gedenkens der Stadt München.
Das Audiokunstwerk ist eine aus 300 Tonspuren zusammengesetzte Collage von Stimmen und Musik und setzt den Opfern des Nationalsozialismus ein virtuelles Denkmal. Im NS Dokumentationszentrum München heißt es als Projektbeschreibung:
„Die Münchner Künstlerin Michaela Melián hat für ihr Audiokunstwerk authentische Berichte von Verfolgten und Zeitzeug*innen des Nationalsozialismus zusammengestellt und mit konkreten Orten in der Stadt verknüpft. Die Stimmen sind in eine eigens entstandene Musikkomposition eingebettet.
Die Texte zeugen von Diskriminierung, Verfolgung und Ausgrenzung während des nationalsozialistischen Regimes in München.“
Das Projekt wurde in den Jahren 2008 bis 2010 im Auftrag des Kulturreferats der Landeshauptstadt München / Freie Kunst im öffentlichen Raum und in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Rundfunk / Hörspiel und Medienkunst sowie vielen weiteren Mitwirkenden realisiert.
Die produzierten Audiotracks sind auf einem virtuellen Stadtplan Münchens im Internet an den jeweiligen Adressen, auf die sie sich beziehen, hinterlegt. Dort können sie auch heruntergeladen und zu einer individuellen Audiotour auf dem MP3‑Player oder Smartphone zusammengestellt werden. Jeder kann die Tracks unabhängig vom Ort, aber eben auch direkt vor Ort anhören.
Melián löste die Einheit der Stadt München in 100 dezentrale Ort auf, die sie danach zu einer neuen Einheit eines historischen Netzes verband. So entstand ein akustischer Raum, der von der Jury, die Memory Loops zum Hörspiel des Jahres 2010 kürte, als „Echoraum des Terrors“ bezeichnet wurde.
Bereits rund zehn Jahre bevor der Podcast sich auch hierzulande durchsetzte, legte Melián mit dem akustischen Kunstwerk, Hörspiel und Internetprojekt Memory Loops ein beeindruckendes Beispiel für künstlerische Forschung zu den Möglichkeiten des auditiven Erzählens im Digitalzeitalter vor.
Am stärksten trat dabei die Zeitunabhängigkeit der Nutzung ihrer digitalen Audiofiles und ihres als Podcast zur Verfügung stehenden Projektes zu Tage: Memory Loops versendet sich nicht, sondern ist im Internet, auf dem virtuellen Stadtplan und als ein Hörspiel zum Download für die digitale Ewigkeit hinterlegt – ganz, wie es sich für ein Denkmal gehört.
Poetisch gesprochen war es bis ins 21. Jahrhundert hinein gängig, dass ein Hörspiel auf elektromagnetischen Wellen mit Lichtgeschwindigkeit von einem zentralen Sender aus in die Fläche eines Sendegebiets gefunkt wurde. Dort wurde es von entsprechend eingestellten Empfangsgeräten aus der Luft gepflückt, in ein Schallereignis zurückverwandelt und so schließlich im Kopf der Zuhörerschaft zu einer gehörten Geschichte, die im Moment ihres Erklingens allerdings auch schon wieder verklungen war.
Parallel dazu entwickelte sich jedoch eine Praxis von Radiokunst, die man in Anlehnung an die Kunstexperimente der 1960er Jahre auch als Expanded Radio Art bezeichnen kann. Seit den 1990er Jahren kennt man sie in vor allem unter dem Begriff Medienkunst. Bleibt man bei der Vorstellung einer Expanded Radio Art, also einer „erweiterten Radiokunst“, so geraten auch zahlreiche radiokünstlerische Werke in den Blick, die die klassischen Produktions- und Verbreitungswege des Hörspiels längst hinter sich gelassen haben:
Heute gibt es Radiokunstproduktionen, die von freien Sendern produziert und auf Instagram gepostet werden; Audio-Kunstwerke, die aufgezeichnete Radiosendungen auf Kassette remixen; Radio-Ballett-Performances im öffentlichen Raum; Skulpturen, die aus Radioapparaten oder deren Einzelteilen bestehen, die in Installationen verschaltet werden, oder gar Gemälde, in die Antennen integriert sind.
Ein Podcast ist ein digitales Audiofile, das im Internet angehört oder dort zur freien zeitlichen Verfügung heruntergeladen werden kann. Als neuartiges Audiomedium, das sich um das Jahr 2000 herausbildete, beruht der Podcast auf unterschiedlichen technischen Innovationen. Diese sind das digitale Audiofileformat MP3, die dazugehörigen mobilen Abspielgeräte, günstige oder gar kostenlose Audio‑Produktionssoftware, Weblogs als etablierte Veröffentlichungsformen im Internet und das Dateiformat RSS Web-Feed, das es möglich macht, Inhalte im Internet zu abonnieren beziehungsweise automatisch über neue Veröffentlichungen informiert zu werden.
Anfangs wurde dieses neuartige Audio-Phänomen noch ,Amateurradio‘ und ,Audioblogging‘ genannt. Ab 2004 setzte sich dann die Bezeichnung ‚Podcast‘ durch – ein Kofferwort aus den englischen Wörtern ‚pod‘ in der englischen Bedeutung für „Gondel, Kapsel“ und ‚broadcast‘, englisch für „Sendung, Rundfunk“.
Die Silbe ‚pod‘ wurde vom iPod abgeleitet, so hieß der erste MP3-Player der US‑amerikanischen Firma Apple, der 2001 auf den Markt kam.
Der Begriff ‚Podcast‘ wird heute in Deutschland verwendet für Internetangebote von Radiosendungen oder Audioproduktionen privater Anbieter. Darüber hinaus benennt der Begriff ‚Podcast‘ als Audiomedium aber auch generell die digitale Vertriebsform von Audiofiles.
Seinen Durchbruch als neues Audiomedium erlebte der Podcast 2014, als drei weitere Aspekte zusammenkamen: Smartphones verdrängten das klassische Mobiltelefon ohne Internetverbindung; die Firma Apple führte die lila Podcast-App als Standardvoreinstellung auf ihren iPhones ein, mit der Podcasts im Netz gebündelt gefunden werden konnten, was den Zugriff auf und das Hören von Podcasts wesentlich erleichterte; außerdem ging die erste Staffel des US-amerikanischen Podcasts Serial online, der mit seinem packenden Erzählstil und den gut portionierten Episoden der True-Crime-Handlung die User begeisterte und innerhalb kürzester Zeit millionenfach heruntergeladen wurde.
Im deutschsprachigen Raum entwickelte sich der Podcast zeitversetzt zu den Innovationen in den USA. Seinen endgültigen Durchbruch hierzulande erlebte er rund fünf Jahre später, ein Boom aber wurde während der Corona-Pandemie erreicht. Allerdings gibt es regionale Unterschiede hinsichtlich der Stile beim Podcasting, wie in den USA und dem Rest der Welt haben sich aber auch in Europa bestimmte Genres durchgesetzt:
Es gibt Interview-, Storytelling-, Wissensvermittlungs-, Nachrichten- und Corporate‑Podcasts sowie sogenannte „Chumcasts“ als podcastspezifische Form des potenziell ewigen Plauderns über Gott und die Welt, manchmal auch auf Deutsch salopp ‚Labercast‘ genannt.
Besonders intensiv erforscht die kanadische Künstlerin Kaitlin Prest den Podcast als künstlerische Form. Seit 2008, als sie bei einem Collegeradiosender in Montreal begann, begleitet Prest den digitalen Wandel vom Radio zum Podcast mit ihren Experimenten in unterschiedlichen Teams und Projekten. Ihr bekanntestes, schon 2014 begonnenes Podcast-Projekt ist The Heart. The Heart ist ein Audio Art Projekt über Intimität und Menschheit. Darin widmen sich die Autorenpodcasterin und ihre Kolleg:innen der Erforschung des besonderen Potenzials, das Podcasts für Darstellung und Erzeugung von Intimität und Empathie haben.
The Heart verhandelt auf der inhaltlichen Ebene meist weibliche und queere Erfahrungen, die in Audio-Kunstprojekten der Mainstreammedien bislang kaum gesendet wurden. Die Radikalität und Intensität der erzählerischen Experimente von Kaitlin Prest, darunter radikale Verliebtheitsfantasien, Kindesmissbrauchsthemen oder weibliche Genitalverstümmelung, hat The Heart in den vergangenen Jahren zahlreiche Radiokunst- und Podcast-Preise eingebracht.
Podcast-Experten und Autoren des Buches Podcasting. The Audio Media Revolution, Martin Spinelli und Lance Dann, sprechen von der „Hyper-Intimität“ des Podcasts, die auch ein Resultat der besonderen Hörweise über Kopfhörer oder In‑Ear-Kopfhörer ist.
Die Radioforscherin Kate Lacey von der Universität Sussex vertritt die Auffassung, dass die Mitglieder eines Gemeinwesens die Verantwortung hätten, nicht nur zuzuhören, sondern auch gezielt hinzuhören, auf Stimmen zu hören, die sie ansonsten vielleicht überhören oder aus der Öffentlichkeit verdrängen würden.
Diesem Ethos sieht sich The Heart verpflichtet. Der Podcast greift randständige Themen auf und gibt marginalisierten Stimmen das Wort. Zugleich ermöglicht er künstlerische Forschung zu Audiokunst und Empathie und nutzt Audio als hyper‑intime Bewusstseinserweiterung.
Der griechisch-russische Dirigent Teodor Currentzis lud im Jahr 2020 den Industrial- und Elektro-Musiker sowie Hörspielmacher FM Einheit zu einer Artist’s Residency nach St. Petersburg ein. Currentzis, Gründer des musicAeterna Orchesters und Chors, eröffnete FM Einheit die Gelegenheit, in der Abgeschiedenheit des kreativen Labors von musicAeterna seine Ideen für eine „neue Kunst ohne Begrenzungen“ zu entwickeln. Wegen Covid-19 musste FM Einheit jedoch zu Hause bleiben – und erfand sich dabei als Podcaster neu. Anstatt im Petersburger Klanglabor zu forschen, experimentierte er im heimischen. Über ein Jahr hinweg kreierte er – nur über Telefon und Internet verbunden – gemeinsam mit dem Medienarchäologen Siegfried Zielinski und dem Künstler und Programmierer David Link 25 Folgen seines künstlerischen Podcasts Radio FM Module, veröffentlicht auf der Internetseite von musicAeterna, Podcastplattformen und auf YouTube.
FM Einheit verfolgte die Idee, das virtuelle Tonstudio und sein eigenes Audio-Archiv als Laboratorium neu zu begreifen. Während des Lockdowns bat Einheit befreundete Künstlerinnen und Theoretiker um ein Zeichen gegen Missbrauch und Erschöpfung des Planeten, um so die Geschichte im Soundlabor auf neuartige Weise zu erforschen und die Zukunft gemeinsam neu zu definieren. Dafür wurden Texte und Sound-Beiträge zu Themen wie „Radio“, „Virus“ oder „Stille“ kombiniert mit Fundstücken aus FM Einheits Archiv und neuen Musikkompositionen. In den einzelnen Podcastfolgen kommen so Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft immer wieder in einen Dialog. Inspiriert wurde FM Einheit vom Medium Radio als „Raum für Träume und Fantasie“, dem seiner Ansicht nach „idealen Ort, um Geschichten zu erzählen“.
Wie die radiokünstlerischen Beispiele zeigen, eignet sich der Podcast aufgrund der relativ einfach zu beherrschenden und kostengünstigen technologischen Voraussetzungen, die schnelles, wenig hierarchisches Produzieren ermöglichen, vor allem für das schlichte Erzählen sowie für Gespräche. Aufwändigere radiophone Formate wie Features oder kunstvolle Hörspiele hingegen benötigen Zeit, Geld und Know-How.
Liegt eine radiophone Feature- oder Hörspielproduktion allerdings erst einmal als Audiofile vor, spricht nichts dagegen, dieses auch digital zu vertreiben, wie es zum Beispiel die Audiothek-Apps und die Hörspielpools der Sendeanstalten und auch private Anbieter tun.
Wenn heute öffentlich über die Zukunft des Radios nachgedacht wird, ist meist schnell vom Podcast als Form der Zukunft die Rede. Gemeint ist dabei aber nicht der Podcast als künstlerische Idee, der auf besondere Weise den Betrieb des Radioprogramms stören würde. Im Gegenteil: Das Phänomen Podcast zeigt ja, wie reibungslos sie sich einfügen in den automatisierten Alltagsablauf der Hörer:innen, so reibungslos wie wohl kaum ein anderes Massenmedium zuvor. Ob auf dem Weg zur Arbeit oder im Fitness-Studio auf dem Laufband – Podcasts sind das optimal anpassungsfähige Begleitmedium einer neoliberalen Leistungsgesellschaft.
Das bedeutet aber nicht, dass ein Podcast auch auf der inhaltlichen Ebene zwingend reibungslos informieren, unterhalten und zerstreuen muss. Wie die künstlerischen Beispiele gezeigt haben, können Podcasts auch der Störfaktor Kunst sein.
Podcasts sind aber nicht nur als digitales Vertriebsmedium umtriebig, es ist längst ein Markt für viele Firmen, die teils weltweit, teils innerhalb bestimmter Sprachzonen, Formatentwicklung betreiben und zunehmend als Konkurrenz für aus dem Rundfunk stammende Formen angesehen werden.
So schreibt Diemut Roether, verantwortliche Redakteurin des evangelischen Pressedienstes epd medien, dass man sich bei der Entscheidung, welche neuen Stoffe man produzieren wolle, bei den Hörspielproduzenten immer häufiger die Frage stelle, ob diese denn auch „podcastfähig“ seien. Darunter versteht die Szene, dass eine Geschichte oder ein Thema über mehrere Folgen als Serie erzählt werden kann. Diese Überlegung ist das Resultat des boomenden Podcastangebots. Roether warnt davor, dass diese Wahrnehmung dazu führen könne, dass die Sender immer schneller und niedrigschwelliger Onlineangebote produzieren, um mit dem Boom mitzuhalten, anstatt komplexe fiktionale Stoffe in Podcastform umzusetzen.
Was technisch avancierte Hörspiele wie Fünf Mann Menschen und die genannten Beispiele einer Expanded Radio Art gemein haben, ist ihr umfassendes Bewusstsein für die „Eigengesetzlichkeit des Mediums“. Das ist ein Zitat des Künstlers Peter Weibel. Solch ein Bewusstsein, das sich in den Kunstwerken spiegelt, ist ein Resultat der künstlerischen Erforschung der Möglichkeiten der Radiokunst, wie sie Kurt Weill bereits 1925 im Sinn hatte.
Heute, rund 100 Jahre nach Kurt Weills wegweisenden Überlegungen aus der Anfangszeit des künstlerischen Radios, ist nur noch selten von der Radiokunst die Rede, auch wenn das Hörspiel als radioeigene Kunstform in den meisten öffentlich‑rechtlichen Rundfunkhäusern weiterhin gepflegt und auf unterschiedlichen Festivals gehegt wird.
Die radiokünstlerischen Arbeiten aber, die sich der „Eigengesetzlichkeit des Mediums“ bewusst sind, unterscheiden sich von den meisten Hörspielen im massenmedialen Programm der Rundfunkanstalten.
Memory Loops von Michaela Melián erkundet sein Potential der Zeitunabhängigkeit, Kaitlin Prests The Heart experimentiert mit den Möglichkeiten zur Hyperintimität und FM Module von FM Einheit macht sich die Ortsunabhängigkeit des Podcast zu nutze.
Memory Loops, The Heart und FM Module sind unterschiedliche Beispiele für Forschungen zum künstlerischen Potential des digitalen Audiomediums Podcast. Alle drei können als Podcast verstanden werden, sie haben sich nicht von Beginn an so genannt.
Zugleich sind alle drei Projekte nicht ohne die fast 100-jährige Tradition der Radiokunst zu denken: Michaela Melián und FM Einheit haben für ihre Hörspielarbeiten mehrfach Preise erhalten und selbst Kaitlin Prest bezeichnet das, was sie mit The Heart macht, als „Radio“: Einerseits, weil sie sich dezidiert in der langen Tradition des Radiomachens sieht, und andererseits, weil sie nicht jedes Mal indirekt durch die Verwendung des Wortes „Podcast“ auf den iPod der Firma Apple verweisen möchte, wenn sie von ihrer Arbeit spricht. So sehr sie also auch künstlerische Forschung zum digitalen Audioformat betreiben, alle drei Beispiele sind ohne das Radio undenkbar. Auch knapp 100 Jahre nach den ersten Katastrophenhörspielen und in der Hochzeit des Podcastbooms spielen das Radio und die Radiokunst noch immer eine wichtige Rolle für Audiokünstlerinnen und ‑künstler. Um das zu würdigen und anzuerkennen, sollte man solche herausragenden Beispiele für künstlerische Forschungen zur Weiterentwicklung des Radios im Digitalzeitalter wie Memory Loops, The Heart und FM Module darum auch nicht als ‚Podcasts‘ bezeichnen, sondern vielmehr als das, was sie eigentlich sind: Post-Radiokunst.