Archiv

Künstlerische Intervention in der Provinz
"Das Dorf macht einfach Spaß"

Ton Matton, Stadtplaner und Professor für Raum- und Designstrategien an der Kunstuniversität Linz, ist mit seinen Studenten aufs Land gezogen. Jenseits des Vorurteils von "ländlicher Idylle" haben sie in der nordhessischen Provinz versucht, der Entvölkerung des ländlichen Raums zu begegnen.

Ton Matton im Corsogespräch mit Ulrich Biermann |
    Ton Mattons Buch "Dorf machen" vor dem Hintergrund einer Aufnahme eines idyllischen Dorfes. ("Dorf machen" / Ton Matton (Hg) / Jovis Verlag; Imago / Patrick Pleul)
    Ton Mattons Buch "Dorf machen" (Buchcover: "Dorf machen" / Ton Matton (Hg) / Jovis Verlag ; Hintergrund: Imago / Patrick Pleul)
    Biermann: Auf dem Land, auf dem Dorf, da, wo man Ruhe hat, wo Ruhe herrscht – kann da Kunst anders, entspannter entstehen, Ton Matton?
    Matton: Jein, ja, schönes Intro, aber wieso ist das Dorf entspannter als die Stadt? Das ist gleich mal wieder so ein städtisches Vorurteil auf das Dorf, wie wir als Stadtbewohner das gern haben. Aber wenn man mal richtig auf das Land eingeht, dann merkt man, dass die Unterschiede gar nicht so groß mehr sind. Die Leute auf dem Land hören die gleiche Radiosendung, essen das gleiche Essen aus dem gleichen Supermarkt, gehen in den gleichen Klamotten, bestellen die gleichen Sachen im Internet – Amazon ist da groß – und die Post wird viermal am Tag von einem Kleintransporter geliefert.
    "Wir haben Großstadtleben in das Dorf gebracht."
    Biermann: Willkommen zum Corsogespräch: Ton Matton, Stadtplaner und Künstler, Professor für raum & designstrategien an der Kunstuniversität Linz. Und mit ihren Studenten sind Sie ins Dorf eben gegangen vor zwei Jahren nach Gottsbüren bei Kassel – knapp 800, 900 Einwohner, Tendenz abnehmend – und was haben Sie da gemacht? Eine überdimensionale Kuh aus Karton durchs Dorf getragen.
    Matton: Das war erstmal der Anfangsakt, damit wir die Kuh wieder zurück ins Dorf tragen. Was wir da gemacht haben, wir haben – gerade ist das Buch fertig, deswegen auch diese Sendung – und ich habe während des Buchschreibens eigentlich zurückblickend selbst auch nochmal gelernt, was wir eigentlich gemacht haben ist, wir haben Großstadtleben in das Dorf gebracht…
    Biermann: …Nee, nee, jetzt haben Sie mir gerade vorhin gesagt, dass das Großstadtleben schon da ist. Das glaube ich Ihnen jetzt nicht.
    Matton: Genau, ja, ok, es ist schon da, aber wir haben eigentlich gemerkt, dass es da ist, weil wir da waren und das Großstadtleben auch mal gelebt haben, haben die Dorfbewohner erkannt, dass die Unterschiede auch nicht so groß sind, weil genau die Vorurteile, die man von der Stadt über das Dorf hat, hat das Dorf auch über sich selbst. Man merkt, dass die Menschen im Dorf, nicht nur dieses Dorf, ich wohne selbst auch im Dorf, dass man die Neigung hat, dieses Klischee quasi auch zu übernehmen und danach zu handeln. Und wenn wir dann da hinkamen, mit dreißig Studenten, das ist schon viel in so einem kleinen Dorf, und da einen Monat lang in allen leeren Häusern haben wir da gewohnt und gelebt und Kunst gemacht. Und damit haben wir nochmal extra Urbanität im Dorf quasi vorgeführt und damit haben die Dörfler auch erkannt, dass sie gar nicht so anders ticken als die Menschen in der Stadt, die wir als Studenten waren. Und haben sich damit auch vielleicht einen Schritt mehr emanzipiert oder das erkannt und auch das Klischee nochmal erkannt.
    "Das Potemkin'sche Dorf"
    Biermann: Es gibt jetzt ein Buch über Ihr Projekt, Sie haben es erwähnt: "Dorf machen". Aber ist der Titel nicht schon eine Anmaßung, weil Dorf macht man nicht, Dorf entsteht?
    Matton: Dorf entsteht, aber gleichzeitig weil wir das so richtig forciert [haben]. Letztendlich waren wir am Ende vom Jahr, wir haben ein Jahr das erforscht und vorbereitet, waren wir einen Monat da und in diesem einen Monat haben wir das Dorf – aus unserer Sicht – nochmal gemacht. Und klar: Wir haben das Dorf nicht groß geändert, oder nichts dazugebaut, wir haben die leeren Häuser, - da standen schon einige im Dorf, die standen schon Jahrzehnte fast leer und gammelten da vor sich hin - und wir sind da einfach reingezogen und haben, wir haben uns am Anfang auch das Potemkin´sche Dorf genannt, wir haben quasi eigentlich das Klischee von der Stadt auf das Dorf nochmal extra stark nachgespielt. So wir haben uns da wie die Klischee-Dorfbewohner erstmal verhalten und versucht, uns da auch einzubringen…
    Biermann: …das heißt wie?
    Matton: Na, wir haben da zum Beispiel den "Dorfwirt" aufgemacht, das war einer der größten Erfolge. Wir haben in ein leeres Haus - und leer heißt: richtig kaputt, Loch im Dach – da habe ich die Studenten reingeschickt und gesagt: "Hier ist das Haus, da sind wir jetzt diesen Monat. Heute Abend schlafen wir hier." Und das war richtig schon jahrelang leer, das war echt dreckig und eklig. Und dann mussten die erstmal putzen. Nach zehn Stunden im Zug – die wollten eigentlich duschen und standen dann in einem dreckigen Haus und es gibt kein Wasser. "Nee, musst du vielleicht beim Nachbar mal ausborgen". So, dann erstmal zum Nachbarn, ob die Wasser [haben]. Mit dem Schlauch haben wir dann Wasser bekommen, dann haben wir mit der Kabeltrommel Strom geholt und so haben wir das Haus Tag für Tag weiter erobert und daraus einen "Dorfwirt" gemacht – "Dorfwirt Lecker" hieß der. Und dann die Leute vom Dorf erstmal eingeladen zum essen kommen und dann haben die uns zurück eingeladen und für uns gekocht. Und dann Rezepte austauschen und so über das Essen, das ist klar, das funktioniert auch in der Stadt immer sehr gut über das Essen, spielt man sich mit in das Dorf und da haben wir das auch mal selber genossen, also "Dorf" zu sein, dass man sich kennt und sich gegenseitig respektiert. Und wo man sofort sich einig ist: Eine Frau von 75 Jahren im Dorf in ihrem Salatgarten, lädt dann einen Studenten, der barfuß durch das Dorf geht, ungewaschen und unrasiert, weil der war schon vier Wochen da, ein und er kommt dann mit, hilft bei der Ernte und kocht daraus gute Suppe und dann essen sie das gemeinsam wieder auf. Diese Welten prallten da aufeinander, aber haben sich gegenseitig irgendwie respektiert und das hat dann eigentlich sehr gut funktioniert.
    "Langeweile ist eine unglaublich gute Qualität"
    Biermann: Das wäre auch die Zukunft. Das sagen Stadtplaner, das sagen Architektinnen und Architekten: "Städte gehen nicht mehr". Zu wenig Platz, zu wenig Wohnraum, zu teuer – Dorf ist die Zukunft. Aber keiner will hin – warum?
    Matton: Eigentlich sagen Sie es schon, denn das Dorf wird jetzt die Zukunft, aber es ist eine Negativgeschichte von der Stadt. Die Städte werden zu groß, das Ideal von der Stadt, dass alles in der Nähe ist, das ist vorbei. Ich habe Bekannte in Berlin und die Kinder fahren eine Dreiviertelstunde oder eine Stunde zur Schule! So weit fahren meine Kinder noch nicht einmal und ich wohne 30 Kilometer von der Stadt, auf dem Land. Und dann sucht man nach einem besseren Modell. Aber was wir auch in dem Projekt versucht haben ist nicht, das Dorf zu definieren, weil es der Stadt so schlecht geht, aber das Dorf zu definieren, weil das Dorf einfach Spaß macht.
    Biermann: Welchen Spaß könnten die Städter im Dorf entdecken?
    Matton: Platz, vor allem. Platz und wenig Ablenkung. Das könnte man auch als eine Kritik darstellen, aber Langeweile ist eine unglaublich gute Qualität, die wir in der Stadt fast nicht mehr schaffen. Weil da gibt es keinen Platz, man wird ständig von Signalen überfordert in der Stadt. Und auf dem Land kannst du nochmal zur Ruhe kommen und dann kommt man irgendwie, man findet eine Konzentration wo man - wo ich jedenfalls - sehr angenehm denken und arbeiten kann. Wenn dann die Arbeit fertig ist, gerade als Künstler, und man will etwas zeigen, dann braucht man Publikum. Und Publikum gibt es nicht auf dem Land, Publikum findest du in der Stadt weil es gibt viel mehr Leute.
    Biermann: "Dorf machen" – so heißt das Buch über das Projekt von Ton Matton mit seinen Studenten und weiteren Künstlern in Gottsbüren bei Kassel. Erschienen im Jovis Verlag. Herzlichen Dank für das Gespräch!
    Matton: Gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.