Für Erdbeben gilt: Nach dem ersten Schock ist längst nicht alles vorbei. Im Gegenteil. Die Nachbeben können durchaus zerstörerischer sein als das Hauptbeben. Beispiel: Neuseeland.
"Dort ereignete sich 2010 in der Nähe von Christchurch ein Erdbeben der Stärke 7,1. Es gab Schäden, aber die hielten sich in Grenzen. Doch dann bebte die Erde 2011 erneut, und zwar direkt unter der Stadt. Obwohl dieses Nachbeben schwächer war, richtete es große Schäden an."
Es sei deshalb wichtig, die Orte prognostizieren zu können, an denen gefährliche Nachbeben am wahrscheinlichsten sind, erklärt Greg Beroza von der Stanford University. Seine Fachkollegin Phoebe DeVries von der Universität Harvard geht dieses Problem nun mit Künstlicher Intelligenz an.
"Häufigkeit, maximale Stärke und Verteilung von Nachbeben lassen sich recht gut mit Hilfe physikalischer Gesetze berechnen. Die Frage nach dem 'Wo' ist derzeit allerdings sehr viel schwieriger zu beantworten. Doch weil es so viele Daten über Beben gibt, wollten wir herausfinden, ob uns hier Künstliche Intelligenz weiterhilft."
Daten von fast 163.000 Erdbeben
Also konstruierte Phoebe DeVries gemeinsam mit ihrem Kollegen Brendan Meade mit einem neuronalen Netzwerk einen selbstlernenden Computeralgorithmus. Solche Netzwerke funktionieren im Grunde ähnlich wie das menschliche Gehirn. Und anders als ein normaler Computer rechnen sie mit ihren Daten nicht einfach stur drauflos, sondern lernen, die Daten zu gewichten. Die Basis für den Versuch bildeten die Daten von fast 163.000 Erdbeben. Phoebe DeVries:
"Unter unseren Beispielbeben sind 118 schwere Erdbeben, etwa das Kobe-Beben von 1995, das Tohoku-Beben von 2011 und das Sumatra-Beben von 2004. Mit einem Teil dieser Daten haben wir das neuronale Netzwerk trainiert, mit dem anderen dann getestet, wie gut es nach dem Training funktionierte."
Das Netzwerk sollte aus der Datenfülle Muster herausfiltern, an denen sich die wahrscheinlichsten Orte für Nachbeben erkennen lassen, erläutert Brendan Meade:
"Das neuronale Netzwerk hat aus den Beispielen gelernt und konnte den Ort der Nachbeben erstaunlich gut vorhersagen. Die Vorhersagekraft war wesentlich höher als bei klassischen Methoden."
Vielversprechend, aber noch nicht praxistauglich
Von einer praxistauglichen Vorhersage für den Katastrophenschutz sei man jedoch weit entfernt, betont Phoebe DeVries:
"Wir haben uns bei unseren Ansatz bislang auf die von uns berechneten Veränderungen im Spannungsfeld konzentriert, die das Hauptbeben erzeugt hat. Es gibt aber noch eine Menge anderer physikalischer Parameter, die das Verhalten der Nachbeben beeinflussen, etwa das Vorhandensein und die Eigenschaften anderer tektonischer Störung. Es ist also nur ein erster Schritt."
Dem stimmt Stanford-Experte Greg Beroza, der die Arbeit im Fachblatt "Nature" kommentiert, zu: Noch, so urteilt er, blieben viele wichtige Faktoren unberücksichtigt. Doch dass Künstliche Intelligenz die Geophysiker bei dieser Frage weiterbringt, sei nun klar:
"Die Verbesserungen in der Vorhersagefähigkeit durch KI sind faszinierend und motivierend für andere. Es ist ein bahnbrechender Artikel, der andere Wissenschaftler zur Weiterarbeit anregen wird."