Stephanie Rohde: Sag mir, was du gern machst, und eine künstliche Intelligenz verrät dir, welcher Partei du nahestehst. Nach diesem Motto funktioniert eine etwas andere Form der Wählerbefragung, die gerade entwickelt wird. Mit nur 15 Fragen zu Lebenseinstellungen und Wertepräferenz soll eine künstliche Intelligenz die Parteipräferenz sehr gut vorhersagen können. Dieses Verfahren soll genauer sein als konventionelle Wahlumfragen, die ja in der Vergangenheit öfter mal daneben lagen. Was kann künstliche Intelligenz den Parteien verraten, was die noch nicht wissen? Darüber möchte ich jetzt sprechen mit dem Wirtschaftspsychologen Ingo Hamm von der Hochschule Darmstadt, der das Präferenzprojekt leitet. Guten Morgen!
Ingo Hamm: Guten Morgen, Frau Rohde!
"Soziale Gerechtigkeit spielt eine große Rolle bei den Wählern"
Rohde: Lassen Sie uns mal einige der überraschenden Ergebnisse durchgehen. Sie haben zum Beispiel rausgefunden, dass soziale Gerechtigkeit eines der wenigen grundlegenden Themen ist, bei dem alle Parteien punkten können. Heißt das, dass die SPD eigentlich kein Alleinstellungsmerkmal hat und auf ein zu allgemeines Thema gesetzt hat?
Hamm: Ja, das sehe ich fast. Das war das interessante Ergebnis der künstlichen Intelligenz, die ja aus ganz vielen möglichen Werthaltungen und Einstellungen gelernt hat, was eigentlich, egal bei welcher Partei, hilft, eine Aussage zu treffen, wen ich denn jetzt in der Parteienlandschaft sympathisch finde oder nicht. Und eines, was immer wieder aufgefallen ist, eins dieser Themen war die soziale Gerechtigkeit. Ein großes Thema, was die künstliche Intelligenz über alle möglichen Werthaltungen und Einstellungen identifizieren konnte, was quer durch die Parteienlandschaft eine große Rolle bei den Wählern spielt. Und es scheint nicht mehr so zu sein, dass die SPD hier allein das Thema gepachtet hat, sondern auch gerade bei anderen Parteien, der Linken, teilweise auch AfD, im pragmatischen Sinne auch CDU, spielt das eine sehr große Rolle.
Grüne: Fair Trade "wichtiger als soziale Gerechtigkeit im Alltag"
Rohde: Aber man muss ja auch sagen, bei den Grünen spielt es keine so große Rolle, also da ist es nur durchschnittlich relevant. Wie sollten denn die Grünen darauf reagieren?
Hamm: Spannend bei den Grünen war in der Tat, dass offenbar diese Kernwerte der Grünen rund um Natur, Natürlichkeit, auch Fairness, eine sehr fundamentale Rolle spielen für die Klientel dieser Partei. Und Natur und Natürlichkeit meint hier tatsächlich das typisch grüne Thema rund Umwelt. Selbst wenn man hier Fairness anspricht als einen Wert, der Leute hier begeistert, die die Grünen sympathisch finden, dann geht es auch hier so um das, was wir so aus dem Supermarktregal unter Fair Trade kennen. Das ist dann ein fairer Umgang mit naturnahen Produzenten, mit dem Ökobauern in fernen Landen. Das ist dann teilweise, wenn man es mal überspitzt ausdrückt, vielleicht wichtiger als eine soziale Gerechtigkeit in diesem normalen Alltag, den wir kennen.
Frustration und Trotzhaltung bei Wählern von Linke, AfD und FDP
Rohde: Und was spannend war, es gibt auch diese Aussage, es ist egal, wen man wählt, es ändert ja sowieso nichts. Die fand sich bei sehr vielen Anhängerinnen und Anhängern der Linken, der Grünen und auch teilweise der FDP. Wie erklären Sie sich das? Weil so was würde man ja eher bei der AfD im Zweifel verorten, oder?
Hamm: Das ist auch ganz eindeutig der stärkste Wert, der ganz klar in Richtung AfD die Wähler dann treiben kann, die darauf anspringen, auf diese Antwort. Aber eben nicht nur die AfD oder die AfD-Sympathisanten, die hier eine Antwort suchen in der Parteienlandschaft auf Verdrossenheit, auf Frustration, sondern auch bei den Linken. Bei den Linken-Sympathisanten war das genauso stark ausgeprägt, dieses Thema, und interessanterweise sogar bei einigen FDP-Wählern. Das hätte ich selbst noch am wenigsten vermutet. Das mag sicherlich unterschiedliche Gründe haben, aber trotzdem steckt da ja etwas drin, eine Art von Frustration, eine Art von Trotzhaltung, die dann in der Parteienlandschaft auch unterschiedlich bedient wird. Das ist natürlich dann das Spannende, dass hier die Wähler das anders sehen. Dass sie das vielleicht bei der einen Partei wie etwa der AfD radikaler eher unter sozialer Benachteiligung sehen, und bei FDP vielleicht eher mit dem Wunsch nach einem Wechsel des Systems viel mehr in eine liberale, in eine wirtschaftliche Rahmenbedingung.
Junge Wähler "fast schon begeistert" von der CDU
Rohde: Schauen wir noch auf die CDU und deren Wählerinnen- und Wählerpotenzial. Da sind zwei Aussagen, die vor allen Dingen rausstechen: Zum einen, dass man mitten im Leben stehen will und dass man selbstständig sein möchte, und dass es vor allen Dingen junge Leute sind, die sich zur Union hingezogen fühlen. Hat Sie das überrascht?
Hamm: Ja, das hat mich in der Tat überrascht. Das hätte ich nicht gedacht, weil man ja normalerweise so ganz klassische Werte, eher Konservatives eher da vermuten würde, was so gemeinhin ältere Wähler oft präferieren. Und ich selbst habe mich auch gefragt, warum ausgerechnet so junge Menschen, teilweise deutlich unter 18 Jahre alt. Das kann man sich ganz gut erklären mit diesem großen Thema Pragmatismus, der offenbar sehr viele eben auch junge Menschen hier an der CDU fast schon begeistert, mit sehr hohen Ausprägungen. Und vermutlich ist es so, dass gerade jüngere Menschen dann auch im Leben stehen und an übergeordneten Ideologien oder großen Lebensentscheidungen vielleicht noch gar nicht so das Interesse haben, vielleicht auch noch gar nicht diese Erfahrung besitzen, und einfach eine Politik gut finden, die offenbar gerade repräsentiert durch Merkel, durch diesen ausgeprägten Pragmatismus geprägt ist. Heißt: Politik machen, wie es die Alltagsbedürfnisse aktuell erfordern. Nicht großartig geleitet von dahinter wabernden Ideologien, sondern einfach von dem, was gerade notwendig ist, was gerade sinnvoll ist, das fast so wie ein Managementstil einfach und effektiv umgesetzt wird. Und das scheint dann auch gerade jüngere Menschen irgendwie anzusprechen.
"Neuronales Netzwerk dem Statistik-Verfahren oft überlegen"
Rohde: Das ist jetzt auch ein bisschen Ihre Interpretation. Ich würde gern auch einmal verstehen, wie diese künstliche Intelligenz, mit der Sie da arbeiten, funktioniert. Sie sagen ja, dass herkömmliche Wahlbefragungen die falschen Fragen stellen. Was machen Sie denn mit Ihrer lernenden künstlichen Intelligenz da anders?
Hamm: Das Interessante bei einer künstlichen Intelligenz ist, dass sie eigentlich das menschliche Gehirn simuliert. Man geht hin und hat ein Softwaresystem, das, nicht anders auch als ein Gehirn, viele Nervenzellen in Software abbildet, Und dann geht man hin und nimmt sehr viele große Datenmengen – deswegen ist da auch oft das Thema Big Data ein Schlagwort, das im Rahmen der künstlichen Intelligenz oft fällt –, und geht dann hin und füttert dieses künstliche Gehirn mit Daten aus der Realität und versucht, das künstliche Gehirn, dieses sogenannte neuronale Netzwerk, lernen zu lassen aus realen Daten, aus diesen in meinem Fall sehr vielen Einstellungen und Werthaltungen und einer Parteipräferenz, die am Ende dabei rauskommt. Diese künstlichen Intelligenz, dieses neuronale Netzwerk ist dann in der Lage, Muster zu erkennen, das heißt, so dahinter liegende Begründungen, Mechanismen in diesem Antwortverhalten von Menschen. Und dieses neuronale Netzwerk kann das genauer und zuverlässiger machen, als dass normale statistische Verfahren hierzu in der Lage sind. Und das macht es besonders spannend, bei so einer künstlichen Intelligenz, die auch in der Lage ist, mit noch mehr Daten noch mehr zu lernen, also wie ein Mensch eigentlich sich immer weiter zu verbessern, wohingegen bei statistischen Verfahren oft bei einem Input dann erst mal Schluss ist. Das kann dann interpretiert werden. Und da ist eigentlich so eine künstliche Intelligenz, konkret so ein neuronales Netzwerk eigentlich statistischen Verfahren oft überlegen.
"System bezeichnet bestimmte Werthaltungen als besonders relevant"
Rohde: Aber es wurde ja in mehreren Experimenten auch gezeigt, dass so eine künstliche Intelligenz häufig nicht neutral ist, sondern sehr anfällig für Vorurteile und Stereotypen, die eben in diesen Datenmengen dann sozusagen herausgebildet werden in dieser Mustererkennung. Haben Sie das auch da gemerkt in Ihrem Projekt?
Hamm: Bei einer künstlichen Intelligenz ist es tatsächlich so, dass das sehr abhängig davon ist, welche Daten ich reinpacke. Und natürlich, wie auch beim Menschen kann das System nur so gut lernen, wie ich es einigermaßen sinnvoll mit entsprechenden Daten füttere. Und am Ende, nach diesem intensiven Lernprozess, sagt mir letztlich das System, das und das sind die interessanten Variablen, und ich kann mit einer bestimmten großen Wahrscheinlichkeit oder Sicherheit eine Vorhersage liefern. Aber warum diese künstliche Intelligenz das kann, wie genau, das bleibt leider im Dunklen, und das macht es ein bisschen schwierig. Das mag so in technischen Bereichen, in denen solche künstlichen Intelligenzen heutzutage ja sehr oft schon eingesetzt werden, da mag es okay sein. Da ist es auch relativ egal, ob das jetzt beispielsweise bei Bilderkennung oder beim autonom fahrenden Auto, wie genau da der Computer vorgeht. Hauptsache, es funktioniert. Aber in meinem Kontext interessiert mich natürlich mehr, wie kommt eigentlich das System dazu, solche bestimmten Variablen oder Werthaltungen als besonders relevant zu bezeichnen. Und da kommt dann eine große Interpretation rein, die ich als Forscher dann reinlegen muss. Das heißt, ich muss mir dann diese Lernprozesse anschauen, ich gehe verschiedene Durchgänge durch und muss dann wie ein Sozialforscher typischerweise das auch in Interviews macht, muss dann dieses System eigentlich befragen, muss versuchen, dahinterzukommen, wie es im Lernprozess bestimmte Dinge gewichtet oder auch herausfiltert. Und am Ende kann ich dann das ganze lernende System wie einen Menschen dann auch interpretieren und beschreiben, wie das System zu Ergebnissen kommt.
Analyse von "Parteipräferenzen im Sinne von Sympathie"
Rohde: Aber Sie können im Endeffekt nicht vorhersagen, welche Partei man wählen wird, weil Sie nur bestimmte Wertpräferenzen haben. Was dann am Ende in der Wahlkabine passiert, kann ja immer noch etwas ganz anderes sein, oder?
Hamm: Ja, das auf jeden Fall. Das, was diese künstliche Intelligenz gelernt hat, war tatsächlich, Parteipräferenzen im Sinne von Sympathie – welche Partei finde ich gut oder nicht – spannend wird es natürlich, wenn es in die Wahlkabine geht. Sofern Bürger dann überhaupt sagen, ich gehe jetzt tatsächlich wählen. Und wenn sie in der Wahlkabine dann vielleicht doch spontan aufgrund irgendwelcher Images von Politikern oder tagesaktueller Themen sich anders entscheiden – das ist das, was ich zurzeit mit dieser künstlichen Intelligenz noch nicht abdecken kann. Aber da bin ich ganz positiv gestimmt, dass man das auch weiter mit zusätzlichen Daten in Zukunft dann noch in dieses künstliche neuronale Netz reingeben kann und das System einfach daraus weiter dazulernt. Und da bin ich selbst mal gespannt, ob dann zukünftige Wahlprognosen, also was in der Wahlkabine passiert, tatsächlich besser vorhersagbar ist als die herkömmlichen Befragungen, wenn man so aus dem Wahllokal wieder rauskommt.
Rohde: Das sagt der Wirtschaftspsychologe Ingo Hamm von der Hochschule Darmstadt, der mithilfe von Künstlicher Intelligenz Wählerpräferenzen herausfindet. Vielen Dank für das Gespräch!
Hamm: Danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.