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Künstliche Super-Muskeln

Materialforschung. - Kohlenstoff-Nanoröhren gelten seit Jahren als eine Art Wundermaterial. Sehr leicht und dabei rund 100 Mal zugfester als Stahl, lassen sich daraus extrem stabile Fasern herstellen. In der aktuellen Ausgabe des Magazins "Science" berichten Forscher von einem neuen Anwendungsfeld. Mit Wachs gefüllt und zu Garnen verflochten, werden daraus künstliche Muskeln, die nicht nur starke Zieh- sondern auch Drehkräfte entwickeln können.

Von Lucian Haas |
    Es sind geradezu übernatürliche Kräfte, die sich mit den neuartigen künstlichen Muskeln erzielen lassen. Sie heben Lasten, die 100.000 Mal schwerer sind als ihr Eigengewicht. Sie bieten 85 Mal mehr Kraft, als ein gleich großer natürlicher Muskel. Und sie erzeugen ein Drehmoment, das größer ist als das von großen Elektromotoren. Dahinter steckt ein simples Prinzip, wie der Nanotechnologe Ray Baughman von der Universität von Texas erklärt:

    "Der Muskel ist außergewöhnlich einfach. Er besteht aus einem Garn aus hochfesten Kohlenstoff-Nanoröhren, die wir mit Paraffin-Wachs füllen. Um den Muskel arbeiten zu lassen, verbinden wir nur die beiden Enden des Garnes mit einer Batterie und einem Schalter, legen den Schalter um, und schon zieht sich der Muskel zusammen."

    Kohlenstoff-Nanoröhren ähneln von ihrer Struktur her einer Rolle aus Maschendraht. Die hat eine besondere Eigenschaft: Übt man von innen Druck auf die Maschen aus, verändert die Rolle ihre Form. Während sie breiter wird, schrumpft sie zum Ausgleich in der Länge. Genau so funktionieren auch die neuen künstlichen Muskeln: Durch den Stromfluss erwärmen sich die Nanoröhren. Das Wachs als Füllstoff dehnt sich aus, wodurch sich im Gegenzug die Nanoröhren ihrerseits verkürzen. Die so entstehende Muskelkraft verstärken die Forscher noch – mit einem im Wortsinn besonderen Dreh. Baughman:

    "Denken Sie an ein Modellflugzeug mit Gummiband-Antrieb. Wenn man den Propeller dreht, verdrillt sich das Gummiband. Nach einer bestimmten Anzahl von Umdrehungen, fängt das Gummi an sich zusätzlich zu kringeln. Wir haben herausgefunden, dass wir das Zusammenziehen der Muskeln um das Zehnfache steigern können, wenn wir unsere Garne aus Kohlenstoff-Nanoröhren überdrehen und somit kringeln lassen. Das war eine entscheidende Entdeckung."

    Um bis zu neun Prozent können sich die Kohlenstoffgarnmuskeln zusammenziehen. Dabei entwickeln sie enorme Zugkräfte. Ihre Einsatzmöglichkeiten gehen durch das Verdrillen allerdings über das Ziehen und Heben von Lasten hinaus.

    "Die Muskeln können auch eine Drehung übertragen. Sie können einen Quirl auf bis zu 10.000 Umdrehungen pro Minute beschleunigen und dabei die Drehrichtung noch 20 Mal in der Sekunde wechseln."

    Dank der vielseitigen Eigenschaften sieht Ray Baughman ein enormes Einsatzspektrum. Die künstlichen Muskeln könnten als Mikromotoren für Roboter dienen, als Mixer für miniaturisierte Labors im Chipformat, temperaturabhängige Öffnungsmechanismen für Ventile oder Stellelemente in adaptiven Optiken.

    "Langfristig könnten sie auch für Exoskelette genutzt werden, die Soldaten oder Notfallhelfern übermenschliche Kräfte verleihen."

    Bis es soweit ist, wird noch einiges an Entwicklungsarbeit erforderlich sein, vor allem was die Massenherstellung der passenden Garne aus Kohlenstoff-Nanoröhren betrifft. Bisher kann Ray Baughman in seinem Labor nur sehr kleine künstliche Muskeln mit einer Länge von einem bis zehn Zentimetern herstellen – und nur dem Durchmesser eines menschlichen Haares.

    "Sie sind sehr klein. Wir müssen Hunderttausende davon vereinen, um schwere Lasten zu heben. Wir müssen die Produktion der künstlichen Muskelfasern ausweiten und Wege finden, wie wir sie zu größeren Muskeln kombinieren können."

    Derweil erforscht Ray Baughman noch ein weiteres Anwendungsfeld für die wachsgefüllten Nanoröhren-Garne. Im Labor hat er daraus auch smarte Textilien gewoben. Bei Erwärmung ziehen sich die Fäden zusammen und machen dadurch das Gewebe luftdurchlässiger. Aus Stoffen mit Kohlenstoff-Nanoröhren ließe sich vielleicht eines Tages Funktionsbekleidung herstellen, die sich automatisch auf wechselnde Temperaturen einstellt.