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Konstantin Kuhle (FDP)
"Die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts sind zu respektieren"

Die Corona-Notbremse war verfassungsgemäß. Die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts seien zu respektieren, sagte der FDP-Politiker Konstantin Kuhle im Dlf. Es bedeute aber nicht, dass der Gesetzgeber im Dezember 2021 dieselben Maßnahmen einführen muss.

30.11.2021
Konstantin Kuhle bei der Pressekonferenz im Haus der Bundespresse
Der FDP-Innenpolitiker Konstantin Kuhle: "Die 2G-Plus-Regel kommt einem Lockdown sehr nahe" (imago images/Future Image)
Das Bundesverfassungsgericht hat die im letzten Frühjahr im Rahmen der sogenannten Bundesnotbremse verhängten Ausgangssperren und Schulschließungen für verfassungsgemäß befunden. Die Maßnahmen hätten in erheblicher Weise in verschiedene Grundrechte eingegriffen, seien aber "in der äußersten Gefahrenlage der Pandemie" mit dem Grundgesetz vereinbar gewesen. Das teilte das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe am Dienstag (30.11.2021) mit.
Die Bundesnotbremse, die Ende Juni außer Kraft trat, war der einzige Fall in dieser Pandemie, in dem Maßnahmen unmittelbar durch Gesetz angeordnet worden sind. Sie musste seit dem 24. April automatisch gezogen werden, wenn die sogenannte Sieben-Tage-Inzidenz in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt mehrere Tage lang die 100 überschritt. Der Wert gibt an, wie viele Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner es binnen einer Woche gibt. Der Bund wollte damit sicherstellen, dass überall im Land die gleichen Maßnahmen greifen, sobald sich die Corona-Lage in einer Region zuspitzt. Das hatte für eine Klagewelle gesorgt.

Hauptstadkorrespondentin Geuther: Entscheidung ist Sieg für das Parlament

"Die Richter machen auf der einen Seite immer wieder deutlich, wie tief diese Maßnahmen in Grundrechte eingreifen, dass dafür viel kommen muss, an Gefährdungen etwa bei Alleinerziehenden oder Patchworkfamilien, die durch Kontakt-Beschränkungen besonders betroffen sind oder allgemein bei Ausgangsbeschränkungen, die tiefe Eingriffe darstellen. Aber folgt eben immer wieder die Einschätzung der in diesem Verfahren befragten Experten, die unterschiedliches sagen, die aber alle sagen: weniger Kontakte helfen und es kommt der Hinweis auf die schwierige Einschätzbarkeit. Das heißt, es ging darum, was der Gesetzgeber damals wissen konnte und musste", ordnete die Dlf-Hauptstadtkorrespondentin Gudula Geuther die Entscheidung der Karlsruher Richter ein . Nicht entschieden wurde über ganz viele Einzelbeschränkungen - über die Gastronomie, Versammlungen, Hotels, Reisen etc.

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Kuhle (FDP): Nicht nur rechtlich über Corona-Maßnahmen diskutieren

Der FDP-Innenpolitiker Konstantin Kuhle war einer der Beschwerdeführer beim Bundesverfassungsgericht. Er sagte im Deutschlandfunk, die Beschlüsse enthielten auch wichtige Hinweise für das künftige Handeln des Gesetzgebers. "Der Gesetzgeber durfte im April 2021 Ausgangsbeschränkungen und Schulschließungen einführen, Kontaktbeschränkungen ohnehin, aber auch Ausgangsbeschränkungen und Schulschließungen. Das bedeutet aber nicht, dass der Gesetzgeber im Dezember 2021 dieselben Maßnahmen einführen muss", sagte Kuhle. Aber: Man könne über Corona-Maßnahmen nicht alleine rechtlich diskutieren, sondern müsse darüber sprechen, was bringt tatsächlich etwas. "Kontaktbeschränkungen, die bringen tatsächlich etwas, und deswegen braucht es jetzt strenge Kontaktbeschränkungen", sagte Kuhle.

Auch Schulschließungen waren rechtens

Die Richterinnen und Richter wiesen in einem zweiten Verfahren Klagen von Eltern und Schülern gegen damals angeordneten Schulschließungen ab. Gleichzeitig erkannten sie erstmals ein "Recht der Kinder und Jugendlichen gegenüber dem Staat auf schulische Bildung" an (Az. 1 BvR 781/21 u.a.). Zudem bekommt die Politik durch die Entscheidungen des Ersten Senats unter Gerichtspräsident Stephan Harbarth auch Hinweise für ihren Handlungsspielraum in der aktuellen vierten Welle. Die Beschlüsse aus Karlsruhe dürften auch Thema sein, wenn sich die geschäftsführende Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihr designierter Nachfolger Olaf Scholz (SPD) mit den Ministerpräsidentinnen und -präsidenten der Länder zusammenschalten.
Das Interview im Wortlaut:
Stefan Heinlein: Ausgangssperren, Kontaktbeschränkungen, Schulschließungen – alles verfassungsrechtlich okay, sagt Karlsruhe, wir haben kein Problem damit. Muss nun auch Ihre Partei, die FDP akzeptieren, dass viele rechtliche Bedenken gegen die Corona-Beschränkungen juristisch unbegründet waren und auch sind?
Konstantin Kuhle: Die heutigen Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts sind natürlich zu respektieren. Sie enthalten auch wichtige Hinweise für das künftige Handeln des Gesetzgebers. Sie machen aber auch deutlich, dass der Gesetzgeber einen Spielraum hat, bei dem er eine eigene Entscheidung treffen muss und eine eigene Abwägung zwischen dem Schutz des Gesundheitswesens, dem Schutz der Gesundheit und ganz vielen anderen wichtigen Punkten wie den Teilhabechancen für Kinder beispielsweise, aber auch wichtige Fragen wie der Verhinderung von häuslicher Gewalt und psychischen Erkrankungen. Deswegen ist es richtig: Man kann über Corona-Maßnahmen nicht alleine rechtlich diskutieren, sondern muss darüber sprechen, was bringt tatsächlich etwas. Kontaktbeschränkungen, die bringen tatsächlich etwas, und deswegen braucht es jetzt strenge Kontaktbeschränkungen.
Auf der Richterbank im Sitzungssaal im Bundesverfassungsgericht liegen die roten Barette der Bundesverfassungsrichter des ersten Senats.
Die Karlsruher Richter beurteilten die Corona-Notbremse als rechtsmäßig (dpa/picture alliance/Uli Deck)
Heinlein: Aus Ihrer Sicht kein juristischer Persilschein für eine künftige Corona-Politik der Ampel. – Wo sehen Sie dennoch die Grenzen? Was hat Karlsruhe dem Gesetzgeber jetzt noch verboten?
Kuhle: Der Gesetzgeber durfte im April 2021 Ausgangsbeschränkungen und Schulschließungen einführen, Kontaktbeschränkungen ohnehin, aber auch Ausgangsbeschränkungen und Schulschließungen. Das bedeutet aber nicht, dass der Gesetzgeber im Dezember 2021 dieselben Maßnahmen einführen muss.

"Es gibt ganz erhebliche Nachteile eines Lockdowns"

Heinlein: Aber die Corona-Lage ist ja noch schlimmer als vor einem Jahr.
Kuhle: Sie ist schlimmer und gleichzeitig haben wir durch das Instrument des Impfens eine Möglichkeit an der Hand, wie wir mit Blick auf bestimmte Bevölkerungsgruppen schwere Verläufe verhindern können. Eine ganz schnelle Organisation der Booster-Kampagne ist ein wichtiger Punkt, auch eine Diskussion darüber, wie man bei Beschäftigten in den Pflegeheimen jetzt noch schnellere und weitverbreitetere Impfungen hinbekommt ist richtig. Aber der Gesetzgeber muss schon selber eine Entscheidung darüber treffen, in welchen Bereichen die Kollateralschäden eines Lockdowns überwiegen. Wenn man sich anschaut, wie die Situation der Innenstädte ist, wie sich die Entwicklung bei psychischen Erkrankungen dargestellt hat, auch von häuslicher Gewalt, auch von der Selbstbestimmung von Frauen, dann gibt es ganz erhebliche Nachteile eines Lockdowns. Deswegen sind strenge Kontaktbeschränkungen richtig. Es ist richtig, schneller zu impfen. Es ist auch richtig, eine Diskussion darüber zu führen, ob nicht Impfpflichten in bestimmten Bereichen ein milderes Mittel sind als ein flächendeckender Lockdown. Aber ein Persilschein ist das nicht.
Heinlein: Ihre Partei, Herr Kuhle, stellt künftig den Bundesjustizminister. Welche Lehren muss Marco Buschmann aus dem heutigen Karlsruher Urteil ziehen? Ist das für Sie schon klar absehbar?
Kuhle: Es ist das gute Recht eines jeden Bürgers, sich in Karlsruhe vor dem Bundesverfassungsgericht gegen staatliche Maßnahmen zu wehren. Das war ja eine Verfassungsbeschwerde oder mehrere Verfassungsbeschwerden. Da war Marco Buschmann ebenso Beschwerdeführer wie meine Person und viele Kollegen aus der Bundestagsfraktion der Freien Demokraten. Unabhängig davon, ob man mit einer solchen Verfassungsbeschwerde obsiegt oder nicht, kann man natürlich ein guter Bundesjustizminister sein, und das wird Marco Buschmann auch sein.
Marco Buschmann, künftiger Bundesjustizminister
Marco Buschmann, Erster Generalsekretär der FDP-Bundestagsfraktion (picture alliance/Wolfgang Kumm/dpa)
Heinlein: Aber es war eine Niederlage für Marco Buschmann und auch für die anderen Liberalen, die geklagt hatten?
Kuhle: Es ist eine Niederlage, wenn man sich gerichtlich gegen eine staatliche Maßnahme wehrt und das Gericht dann eine andere Rechtsauffassung hat. Das ist aber von einer Rechtsstaatspartei zu akzeptieren. Wenn ich sehe, wie jetzt aus der AfD und den ihr nahestehenden Kreisen gegen das Bundesverfassungsgericht gehetzt und gewettert wird, dann muss man ganz klar sagen, das gehört sich nicht. Wir dürfen die staatlichen Institutionen in Deutschland nicht in dieser Weise in den Schmutz ziehen. Jeder Bürger kann sich wehren in Karlsruhe, aber irgendwann ist dann auch mal entschieden und das muss man dann akzeptieren.

"2G+ im öffentlichen Leben kommt einem Lockdown sehr nahe"

Heinlein: Wird es mit der FDP möglicherweise schon heute einen neuen bundesweiten Lockdown auch für Ungeimpfte geben können?
Kuhle: Wir haben ja in verschiedenen Ländern jetzt schon die Einführung von 2G+ im öffentlichen Leben. Teilweise tritt das erst morgen in Kraft, so beispielsweise in Niedersachsen, wo ich herkomme. 2G+ im öffentlichen Leben ist faktisch eine ganz strenge Maßnahme, die einem Lockdown schon sehr nahekommt für Ungeimpfte. Ich sehe das aber so wie Saskia Esken eben in dem Einspieler, dass man Menschen, die sich jetzt um einen Booster-Termin kümmern, die sich auch schon sehr früh haben impfen lassen, nicht ernsthaft das gleiche Maß an Einschränkungen geben kann. Deswegen strengere Kontaktbeschränkungen, auch eine Überprüfung von den Maßnahmen, die wir einführen, 2G+ in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens, 3G am Arbeitsplatz, das ist der richtige Weg. Wir sehen ja auch, dass der R-Wert glücklicherweise wieder etwas runtergeht. Bei flächendeckenden Ausgangsbeschränkungen bleibt die FDP skeptisch. Bei einem neuen Lockdown bleibt sie auch skeptisch. Aber bei strengeren Kontaktbeschränkungen, da ist sie offen.
Heinlein: Das muss, Herr Kuhle, auch bundeseinheitlich gelten, egal ob Sachsen oder Saarland?
Kuhle: Das ist nicht zwingend. Wir haben ja gerade im Saarland gesehen, dass der Landtag eine epidemische Lage von landesweiter Tragweite festgestellt hat, um damit strengere Maßnahmen möglich zu machen. Auch Markus Söder hätte das längst machen können, um damit strengere Maßnahmen in Bayern auf die Schiene zu setzen. Stattdessen hat er sich darum gekümmert, der Ampel, die noch nicht mal gewählt ist, die Schuld in die Schuhe zu schieben. Das ist jetzt nicht der richtige Weg, sondern die Länder, die besonders scharf betroffen sind, die können auch scharfe Maßnahmen einführen. Wenn das in anderen Ländern dann auch so ist, dann müssen dort auch strenge Maßnahmen folgen, aber wir haben auch gelernt, dass Grundrechtseinschränkungen – und das ist auch eine Lehre dieses Beschlusses – nur für kurze Zeit und nur, wenn sie wirklich gut begründet sind, eingeführt werden dürfen. Deswegen kann eine Maßnahme im Saarland oder in Sachsen auch anders aussehen als in Schleswig-Holstein.

Volles Fußballstadion: Wüst "hätte das längst verbieten können"

Heinlein: Da verstehe ich Sie richtig, Herr Kuhle, ein volles Fußballstadion in Köln – das hatten wir am Wochenende -, das ist auch aus Ihrer Sicht nach wie vor möglich, während in Leipzig vor leeren Rängen gekickt werden muss?
Kuhle: Nee! Ich habe diese Bilder nicht verstanden. Ich habe auch nicht verstanden, warum Hendrik Wüst sich hinstellt und sagt, wir brauchen eine epidemische Lage von nationaler Tragweite im Bund, damit er das verbieten kann. Das Gegenteil ist richtig. Er hätte das längst verbieten können. Ich glaube, wir müssen uns auch klarmachen, es gibt nicht nur den vollen Lockdown auf der einen Seite und das volle Fußballstadion auf der anderen Seite, sondern es gibt auch strengere Kontaktbeschränkungen, die dazu führen, dass wir eine Abnahme der Infektionsdynamik haben. Dann kann kein volles Fußballstadion mehr da sein, aber dann ist es durchaus möglich, mit 2G+ noch einen Kaffee trinken zu gehen.
50.000 Zuschauer verfolgten das rheinische Derby zwischen  dem 1. FC Köln und Borussia Mönchengladbach
50.000 Zuschauer verfolgten das rheinische Derby zwischen dem 1. FC Köln und Borussia Mönchengladbach (Marius Becker/dpa)
Heinlein: Herr Kuhle, lassen sich nach diesem Urteil aus Karlsruhe, über das wir die ganze Zeit geredet haben, auch Rückschlüsse ziehen auf die verfassungsrechtliche Beurteilung der Einführung einer möglichen allgemeinen Impfpflicht? Auch hier ist Ihre Partei, sind die Liberalen bislang sehr, sehr skeptisch.
Kuhle: Es lassen sich indirekt Rückschlüsse daraus ziehen. Die allgemeine Impfpflicht oder auch eine beschränkte Impfpflicht ist nicht Gegenstand des Beschlusses gewesen. Trotzdem können wir sehen, dass Karlsruhe großen Wert darauf legt, dass vor einem Lockdown beziehungsweise vor Ausgangsbeschränkungen mildere Mittel ausgereizt werden. Ein solches milderes Mittel könnten natürlich bei der Verhinderung zukünftiger Lockdowns oder zukünftiger harter Kontaktbeschränkungen bis hin sogar zu Ausgangssperren, wenn man das denn möchte – wir wollen das nicht -, Impfpflichten sein.
Wer aus diesem Teufelskreis ausbrechen will, dass man immer und immer wieder in neue Kontaktbeschränkungen eintritt, der wird sich einer ernsthaften und sorgfältigen Diskussion über Impfpflichten nicht verschließen können. Ich sage ganz bewusst Impfpflichten, weil es einfacher ist, verfassungsrechtlich zu rechtfertigen, eine Impfpflicht einzuführen für Beschäftigte beispielsweise in einem Altenpflegeheim oder für Menschen, die über 60, über 70 sind, als für jemanden, der 19 oder 20 Jahre alt ist. Es ist schlichtweg verfassungsrechtlich einfacher zu rechtfertigen. Deswegen ist es auch verkehrt, einfach in den Raum zu stellen, der Bundestag könnte morgen schon eine allgemeine Impfpflicht einführen. So einfach ist das nicht und wir haben an diesem Urteil gesehen, dass der Gesetzgeber ordentlich arbeiten muss.
Heinlein: Die FDP, Konstantin Kuhle, ist nicht mehr grundsätzlich gegen die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht in Deutschland?
Kuhle: Die FDP ist offen für eine sorgfältige Diskussion über Impfpflichten in Deutschland.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.