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Kuhmo
Finnisches Kammermusikfestival mit Überraschungen

Mitten in der Taiga an der Grenze zu Russland findet seit knapp 50 Jahren in der finnischen Kleinstadt Kuhmo das größte Kammermusikfestival Europas statt. Musiziert wird auf höchstem Niveau, geboten werden einige Überraschungen und verzichtet wird auf eine bestimmte Kleiderordnung.

Von Hildburg Heider |
    Violinist Sergey Malov bei einer Probe
    Violinist Sergey Malov bei einer Probe (Kuhmo Festival/Stefan Bremer)
    Eben noch haben sie im Foyer das Finale der Fußball-WM am Fernsehschirm erlebt, jetzt warten die Besucher im Konzertsaal auf die "Vier Jahreszeiten" von Antonio Vivaldi und Philip Glass. Da betritt der Geigen-Solist Sergej Malov, die Marseillaise fiedelnd, das Podium. Im französischen Nationaltrikot. Kuhmo macht's möglich!
    "Wenn es die Nachspielzeit gegeben hätte, wäre es mit dem Konzert kollidiert, und das wäre sehr schlecht nicht nur für mich, sondern auch für den Großteil des Publikums."
    Malov war 2014 zum ersten Mal hier.
    "Es war für mich ein Märchen, an dem ich plötzlich auch teilnehmen konnte. Diese Scharen von Menschen, die gierig sind, jedem Ton so intensiv wie möglich nachzulauschen, und das zwei Wochen lang - unglaublich, dass diese Intimität der Kammermusik so ein Ausmaß hat."
    Kuhmo ohne Kleiderzwang
    Diesmal herrscht südlicher Sommer, wie in Vivaldis Violinkonzert Opus 8: bei 30 Grad lockt das benachbarte Strandbad, und in der Konzertpause gibt es Wasser für alle. Jeder zieht an, worauf er Lust hat: die junge Besucherin ihr schulterfreies Chiffonkleid, der Cellist kurze Hosen und Badeschlappen.
    In Beethovens Version seiner 2. Sinfonie für Klaviertrio legt das Storioni-Trio unerhörte Nuancen frei, die sonst oft in den sinfonischen Klangmassen untergehen. Neben Originalwerken für Kammermusik stehen besonders viele solcher Bearbeitungen auf dem Programm.
    Musiziert wird in Kuhmo auf höchstem Niveau: internationale Größen wie das Meta4-Quartet, der Pianist Dasol Kim oder die Geigerin Priya Mitchell verstärken die aus jungen Musikern zusammengestellten Ensembles ebenso wie der künstlerische Leiter Vladimir Mendelssohn, der als Bratscher kräftig mitmischt. Er hat dieses Jahr das Motto "Merchants of Dreams" - gewählt. "Traumhändler".
    "Wir sind auch Glückshändler. Wir mit unseren Instrumenten, wir provozieren Luftvibrationen, die gehen in die Ohren in die Seelen der Leute. Zum "Traumhändler" ist es nur ein Schritt gewesen. Komponisten, ausführende Musiker, Sänger, ein bisschen weniger die Kritiker - wir alle kämpfen dafür."
    Auch indem Vladimir Mendelssohn sinfonische Werke neu bearbeitet.
    "Und ich suche nach Lösungen, um diese Orchestermasse in kammermusikalische Strukturen reinzugießen. Und ich habe ein paar Lösungen gefunden. Was wird es? Vielleicht okay? Ein Traum, vielleicht ein Albtraum?"
    Überraschende Metamorphosen
    Die Reduzierung aufs Kleinformat ist Griegs Schauspielmusik zu "Peer Gynt" jedenfalls gut bekommen. Im Kunstzentrum "Kuhmo-Talo", das dieses Jahr sein 25-jähriges Bestehen feiert, dirigiert Sergej Malov ein Ensemble von 21 Musikern und schlüpft im Finale in die Rolle des Titelhelden: bei "Solveigs Wiegenlied" schmiegt er sich mit dem Rücken an die Sängerin Sophie Klußmann und verwandelt so das Konzertpodium in eine Theaterbühne. Wieder eine von Kuhmos überraschenden Metamorphosen!
    Jeder Festspieltag beginnt im Konzertfoyer um 10 mit einer Einstimmung in das Tagesprogramm. Heute präsentiert sich das belgische Danel-Quartett, Spezialist für russische Kammermusik von Schostakowitsch bis Mieczysław Weinberg. Primgeiger Marc Danel hält Weinberg für einen der größten Komponisten des 20. Jahrhunderts.
    "Auf absolut derselben Ebene wie Schostakowitsch, Prokofiew oder Strawinsky, wenn man z.B. guckt auf die russische Seite. Überall wo wir können, wollen wir diese Musik bringen."
    Das Quartett überrascht die Besucher der Morgenveranstaltung mit der finnischen Erstaufführung von Weinbergs "Improvisation und Romanze" von 1950.
    "Weinberg ist der Schubert von Schostakowitsch sozusagen. Diese unheimliche Zärtlichkeit. Man hat den Eindruck zu singen, wenn man das spielt. Diese Musik ist sehr lyrisch, ein bisschen wie der Tag in Finnland. Wir wissen nicht genau, wann die Nacht kommt, wann der Tag kommt."
    "Das sind zwei nicht unschuldige Wochen. Die Abhängigkeit vom Ticketverkauf ist geblieben. Es kann überleben nur mit dieser Ratio von fünf Konzerten pro Tag, und dann müssen wir nicht zu lange um Geld betteln."
    Budget von einer Million Euro
    Intendantin Sari Rusanen verfügt über ein Budget von einer Million Euro. Die Hälfte wird durch den Kartenverkauf gedeckt, weitere 20 Prozent trägt das finnische Ministerium für Kultur und Bildung und zehn Prozent steuert die Kommune bei, den Rest übernehmen die 15 Sponsoren. Sari Rusanen koordiniert die insgesamt 75 Konzerte in und außerhalb Kuhmos und den Raum-und Probenplan für 60 Musiker. Geprobt wird von früh bis spät, überall in Kuhmo. Die Konzerte finden überwiegend in der Holzkirche, im Kunstzentrum und in der Kontio-Schule statt. Der künstlerische Leiter Vladimir Mendelssohn wählte für das Eröffnungskonzert 2018 in der neuen Tuupala-Grundschule Rossinis Oper "La Cenerentola" im Taschenformat, bearbeitet vom Dramaturgen der finnischen Nationaloper Juhani Koivisto.
    Als Koivisto die Reaktionen der Kleinen während der Aufführung sah, fand er den Sinn seiner Arbeit bestätigt: die Zuhörer glücklich zu machen, Kindern etwas zu vermitteln, woran sie sich ein ganzes Leben lang erinnern würden. Denn überall im Kulturbetrieb herrscht Sparzwang, auch in Finnland. Erstaunlich die Gelassenheit der betroffenen Künstler, der Gestaltungswille eines "Traumhändlers" wie Vladimir Mendelssohn.
    "Schwarze Wolken können auch über Kuhmo kommen. Wie viele gute Sachen plötzlich verschwinden - kein Geld, kein Interesse - eine Generation, die nicht mehr mit klassischer Musik in eine ästhetische Ehe rein will. Es ist ein Kampf. Und darum sage ich: Was ich will? Dass es eine Zukunft gibt!"