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Kulissen des Glücks. Streifzüge durch die Event-Kultur

Mit seiner "Erlebnisgesellschaft" ist es dem Bamberger Soziologen Gerhard Schulze vor sieben Jahren gelungen, aus dem Gelehrtenstübchen in die Arena der Feuilletons vorzudringen. Die Erlebnisgesellschaft - der Begriff längst zum Allgemeingut, zum Schlagwort geworden - beschäftigt nicht mehr die Sorge um das Überleben, sondern die Frage "Wie kriege ich das beste vom Leben ab?". Daran knüpft sich natürlich gleich die nächste, was nämlich das beste sei. Eine überaus heikle Frage, denn sie legt, in einer Art Gestaltungsimperativ, das Leben in die eigene Hand. Und das Gebot "Werde glücklich" ist weit schwieriger zu erfüllen als das alte Verbot "Tue dies und jenes nicht".

Martin Ebel |
    Natürlich steht eine ganze Glücksindustrie mit ihren Erlebnispaketen bereit zu helfen. Ein Erlebnis im emphatischen Sinne setzt aber ein erlebnisfähiges, ein erschütterbares Ich voraus - wie etwa Luther, der, beinahe vom Blitz erschlagen, beschloss, sein Leben zu ändern. Solche intensiven Erfahrungen sind aber nicht planbar, nicht käuflich und schon gar nicht beliebig vermehrbar. Kurz: Was sich die Erlebnissüchtigen verschaffen können, sind gerade keine Erlebnisse. Schulzes Erlebnisgesellschaft beruht also auf einem Pakt der Täuschung. Wer dies feststellt, geht indes einen entscheidenden Schritt über das Buch hinaus. Wertende, gar abwertende Äußerungen würden Schulze niemals unterlaufen; er will beschreiben, was ist - basta.

    In seinem neuen Buch "Kulissen des Glücks. Streifzüge durch die Eventkultur", nach dem opus summum ein schmales, gleichwohl gehaltvolles Essaybändchen, fasst Schulze den Erlebnisbegriff noch einmal schärfer und ersetzt ihn durch das neudeutsche "Event". Darunter versteht er ein Erlebnis, das nicht mehr über sich hinausweist. Einst bekräftigte etwa die Teilnahme an einem Gottesdienst auch die Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinschaft, vermittelte etwa das Schauspiel der öffentlichen Hinrichtung den Zuschauern die Logik der herrschenden Rechtsordnung. Die Events unserer Tage - von der Musical-Premiere über den Kauf des neuen Automodells bis zu Rafting und Canyoning - verweisen auf nichts als auf sich selbst und zurück auf ein Subjekt, das sich nur durch die Wahl dieser Events definieren und erfahren kann.

    Glück ist für diese Subjekte identisch mit der "Komposition des Gewählten" - dem richtigen Auto oder Abendkleid, der richtigen Reise oder Musik, wobei unter "richtig" keine allgemeine Geschmacksnorm, sondern der individuelle Stil zu verstehen ist. Bildung haben diese Subjekte ersetzt durch etwas, das Schulze "folkloristische Formensouveränität" nennt, also die Fähigkeit, die gängigen Ereignismuster adäquat zu deuten, sich mit Comedy-Shows genauso auszukennen wie mit der Ästhetik der Love-Parade oder der Choreographie der Boy Groups.

    An den Beispielen der Sexualität, des Lachens und der Medien spielt Schulze Mechanismen und Entwicklungen der Eventkultur im Einzelnen durch. Das Fernsehen etwa steht unter dem Zwang, seine Ausdrucksmittel beständig zu steigern. Es lebt von der Werbung, die Werbung von der Wirtschaft, die Wirtschaft vom Wachstum. Nicht steigerbar ist aber die Gesamtaufnahmefähigkeit der Bevölkerung, also wird konkurriert um den Anteil an dieser Aufmerksamkeit; die drückt sich zahlenmäßig in der Quote aus. Um immer mehr Menschen "anschlussfähig" zu machen (nämlich an das eigene Programm), müssen die Effekete greller, die Inhalte einfacher und die Abläufe schneller werden; was ja auch geschieht. Diese Steigerungslogik, meint Schulze, sei mittlerweile an ihr Ende gekommen, und er postuliert eine "Zeit danach", ohne sich mit sich selbst einig zu werden, wodurch die denn nun gekennzeichnet sein wird: durch zunehmende Gleichgültigkeit, durch die Degradierung des Fernsehens zum "Nebenbei-Medium" oder durch eine Renaissance von Inhalt und Qualität. Wahrscheinlich werden alle genannten Tendenzen gleichzeitig auftreten.

    Irgendwo, so weiß das in den Kulissen des Glücks herumtaumelnde erlebnishungrige Subjekt, muss es noch etwas anderes geben als Shows, Inszenierungen, Simulationen und Eventkonsum. Dieses "andere", das "eigentliche", sucht es vergeblich, weil ihm wie in einem Spiegelkabinett immer nur das eigene Bild begegnet. Schulze meint zu wissen, wo sich das "eigentliche" verbirgt: im Privaten. Das ist nun eine überraschende Wendung. Dem Autor fällt in diesem Zusammenhang ausgerechnet Montaigne ein, der seinen "inneren Bezirk" gegen alle Anfechtungen der Welt zu verteidigen wusste und mit seinen "Essais" das unübertroffene Modell erfüllter und erschriebener Individualität geliefert hat. Aber Montaigne war ein besonderer Mensch in einer besonderen Zeit, die Erlebnisse wie Glaubenskriege, Plünderungen und Pest im Angebot hatte.

    Diesen inneren Bezirk auszubilden und zu kultivieren: Das ist Schulzes Rezept für den avancierten Glückssucher. Es verträgt sich aber nicht mit seinem Befund - sofern man den konsequent zuende denkt. Wenn sich die Individualität heute nur noch in der Wahl der Designermarke ausdrückt, dann kann auch das Innenleben davon nicht unberührt bleiben; dann gehorcht auch das Private den Gesetzen der Erlebnisrationalität. Wer als chronischer Konsument von Events in sich hineinschaut, der findet dort nichts anderes als Spuren vorgegebener Erlebnismodelle. Was er erlebt hat, ist Simulation, was er empfindet, Imitation. Bevor ein Teenager unserer Tage seinen ersten Kuss erlebt, hat er hundertmal im Kino und Fernsehen gesehen, wie ein Kuss nicht nur gegeben, sondern auch empfunden zu werden hat. Dagegen mit Montaigne zu operieren, ist schon rührend.

    Einen Ort freilich weiß Schulze, der vor der Eventkultur geschützt ist, an dem das von Glücksimperativen gejagte Subjekt endlich zu sich selbst kommt. Es ist das Bett. In einem wunderbar melancholischen Schlusskapitel schildert er das Zubettgehen als geistigen Vorgang, als ritualisierten Abschied von der Eventkultur und als Ankunft an einem Ort, der von der Welt vollkommen losgelöst ist. Das Bett ist schließlich auch der beste Ort, um Gerhard Schulzes "Kulissen des Glücks" zu lesen. Es liegt schön leicht in der Hand, und man kann, wenn man es aus derselben gelegt hat, in Ruhe darüber nachdenken, wie viele Menschen weder den Luxus der Eventkultur genießen dürfen noch ihre Zwänge spüren müssen, weil sie entweder mit drängenden Existenzfragen beschäftigt sind oder aber noch ganz unentfremdet genießen können: ein Streichquartett, eine Bergtour oder ein Essen mit Freunden. Vor Schulzes "Kulissen des Glücks" wird also ein Stück gespielt, das nur einen Teil der Wahrheit darstellt. Und mit diesem Gedanken kann man beruhigt einschlafen.