Beatrix Novy: Jetzt entschleunigen wir wieder und nehmen uns untypisch viel Zeit, das haben wir uns für diese erste Woche des Jahres eben vorgenommen: In unserer Reihe "Wir schenken Ihnen Zeit" hören Sie heute Monika Grütters, seit 2005 CDU-Mitglied des Deutschen Bundestages und seit 2009 dort Vorsitzende des Ausschusses für Kultur und Medien. Monika Grütters hat sich seit ihrem Studium im Kulturmanagement bewegt, für Bühne, Verlag und Museum gearbeitet, heute lehrt sie an der Freien Universität, und sie ist überhaupt der seltene Fall einer Kulturpolitikerin und Kulturpraktikerin. Ihr Thema für uns heute ist die veränderte, oder sagen wir es mit den verschiedenen Worten, die es dafür gibt, die bunte, die multi-ethnische, die heterogene Gesellschaft, also für viele das Gespenst, das heute umgeht in Europa. Aber Sie, Frau Grütters, habe ich sie gefragt, Sie wollen ja gar nicht mehr dahinter zurück, oder?
Monika Grütters: Nein. Ich empfinde unsere heutigen Gesellschaften, die eben tatsächlich multi-ethnisch sind, die sehr gemischt sind, international sind, als großen Gewinn. Wir alle erleben ja verschiedene Diasporas: Auf der einen Seite ich als Katholikin in Berlin zum Beispiel, wo es nur neun Prozent meiner Konfession gibt, aber gerade in internationalen Städten wie Paris, London, Berlin geht es ja vielen so, dass sie in ethnisch gemischten Milieus ihre eigenen Heimaten suchen müssen. Und man sieht es ja auch zum Beispiel an den Kirchengebäuden, oder wir haben eine Moschee-Debatte hier in Berlin und woanders auch, dass sich die Gesellschaften und die großen Städte wirklich verändern.
In der globalisierten Welt von heute geht es, finde ich, deshalb um neuartige Kunst- und Kulturerfahrungen, weil ich ganz sicher bin, dass es gerade die Kultur ist, die am ehesten in der Lage ist, Brücken zu bauen. Auf der einen Seite: In einem erweiterten Kulturbegriff spielen ja religiöse Fragen immer eine ganz große Rolle, sind sie auch der Angelpunkt, an dem man merkt, hier verändert sich was. Und dann wiederum umgekehrt sind sie die große Brücke, die die Menschen zusammenführt. Deshalb glaube ich, dass kosmopolitische Städte, dass die Museen dort auch unser aller Zukunft sind und dass wir hier ein großartiges Angebot machen können, wo wir zeigen, dass die Unterschiede kleiner sind als die Gemeinsamkeiten.
Novy: Aber, Frau Grütters, Sie sprechen damit an, dass die Kultur – und Sie haben jetzt die Museen genannt – ein Kitt werden könnte für die Gesellschaft und ihre wiederum verschiedenen Binnenkulturen. Aber gerade die Museen sind ja wie die Theater ein Heimplatz einer, um es mal so zu sagen, hellhäutigen Mittelschicht. Wie kriegt man die Leute da rein, die anderen alle?
Grütters: Sie sprechen ein wichtiges Thema an. Wir sagen dazu politisch immer kulturelle Bildung, wie bringen wir tatsächlich dieses Angebot auch niedrigschwellig herüber, wie bekommen wir die bildungsfernen Schichten in die Häuser. Da gibt es riesengroße Programme, die vom Netz für Kinder, von der Vision Kino, wir stecken unheimlich viel Geld in Theater-, Museums- und auch Schulpädagogik. Das heißt, wir verpflichten staatlich finanzierte Einrichtungen im Bildungsbereich, Schulen auf der einen Seite und Theater, Museen, Orchester auf der anderen Seite, gegenseitig Angebote zu machen. Fast jeder staatlich finanzierte Musiker in einem öffentlichen Orchester gibt Musikunterricht, und zwar unbezahlten an den Schulen, und dasselbe machen die Theater und die Museen ja auch.
Wo ich als Veranstalterin – ich leite ja auch die Stiftung Brandenburger Tor; wir machen große Ausstellungen und wir bieten dreimal im Monat Märchenstunden für Kinder an -, was ich erlebe ist, dass die Schulen sich etwas schwer tun, weil sie für eine, zwei oder drei Stunden dieses jeweiligen Kulturthemas immer gleich einen ganzen Tag, Schultag opfern müssen, weil die Hin- und Rückfahrt ja eine Rolle spielt. Das sind aber mehr organisatorische Fragen. Insgesamt ist es so, dass in Deutschland allein elfmal so viele Menschen ins Museum gehen wie alle Bundesliga-Spiele zusammen Besucher haben, dass in der Kultur- und Kreativwirtschaft heute mehr Menschen beschäftigt sind als in den Banken. Nur noch die Automobilindustrie steckt darüber. Da sieht man doch, dass es inzwischen ein allumfassendes Thema unserer Gesellschaft geworden ist.
Novy: Frau Grütters, nennen Sie doch mal ein Beispiel für eine typische Ausstellung Ihrer Stiftung Brandenburger Tor. Sie haben gerade das nämlich nur so erwähnt; ich wüsste gerne mal Genaueres.
Grütters: Die letzte Ausstellung war eine Kunstausstellung zum Thema Beginn des Expressionismus. Wir sitzen hier im Haus, in dem früher der große Maler und Akademiepräsident Max Liebermann gelebt hat, der deutsche Vertreter des Impressionismus, und der hat selber jungen Künstlern, die in der Nationalgalerie zu seiner Zeit nicht gesammelt wurden, ein Podium und Ausstellungsmöglichkeiten in seiner Akademie geboten. Als er älter wurde, begann das brüchig zu werden. Da mochte er die ganz jungen Leute von Nolde über Heckel über Kirchner, also die, die wir als Expressionisten, Brücke-Künstler wahrgenommen haben, irgendwann nicht mehr. Schmidt-Rottluff hat ganz böse Sprüche darüber gemacht. Und wir haben jetzt gezeigt, wie die Generation nach ihm groß geworden ist, unter anderem durch ihn gefördert, sich dann aber emanzipierte. Davor hatten wir eine riesengroße Ausstellung zum Thema Energie.
Novy: Nun gibt es ja in der bunten Gesellschaft, die jetzt unser Ausgangspunkt gewesen ist, jede Menge Konflikte. Müsste nicht Kultur bei allen ansetzen, also auch bei denen, die dieser Gesellschaftsveränderung besonders ablehnend gegenüberstehen, weil sie sich in der Rolle der Verlierer finden? Mit anderen Worten: Ist das nicht überhaupt eine Sache der sozialen Milieus?
Grütters: Ja. Ich sage immer, die großen gesellschaftlichen Fragen werden nicht in den Ausschüssen für Verkehr oder Verteidigung, auch nicht in dem für Gesundheit oder Sport geklärt, sondern da geht es um gesellschaftliche Zusammenhänge, die eher in dem erweiterten Kulturbegriff zu Hause sind, wenn man bedenkt, dass nationale Identität zu allererst aus dem Kulturleben eines Landes erwächst. Und dann beruft man sich ja nicht nur auf sein eigenes kulturelles Erbe, sondern versucht, die zeitgenössischen Ausdrucksformen irgendwie zu begreifen. Und Deutschland hat seinen Stellenwert in der Welt wieder neu behauptet dadurch, dass wir sehr viel für die Freiheit der Kunst und für die Künstler hier und für die zeitgenössischen Ausdrucksformen geben. Wir sind damit gut gefahren, weil wir kapiert haben, dass Kultur nicht das Ergebnis des Wirtschaftswachstums ist, auch nicht in einem wirtschaftlich erfolgreichen Land wie Deutschland, sondern dass die Kultur letzten Endes die Voraussetzung für ein solches gesundes gesellschaftliches Klima ist. Deshalb sehen wir auch, dass Kulturpolitik an Bedeutung gewinnt, weil es so etwas wie der rote Faden gesellschaftlicher Fragestellung ist, dass kulturelle Existenz eben auch keine Ausstattung ist, die eine Nation sich leistet, oder das, was Sie eben sagten, die hellhäutige Mittelschicht, sondern dass sie eine Vorleistung ist, die allen zugute kommt, weil das Leben hier ein anderes, ein besseres ist. Kultur ist eben nicht nur ein Standortfaktor, sondern das ist vor allen Dingen Ausdruck von Humanität. Deutschland hat zwei große Diktaturen in einem Jahrhundert hinter sich gehabt und hat aus den Abgründen, glaube ich, wirklich gelernt. Bei uns steht im Grundgesetz ganz vorne schon im Artikel fünf drin, Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei, und der Staat schützt die Freiheiten dieser Intellektuellen eben auch. Ich glaube, das ist ganz wichtig.
Novy: Mittlerweile gibt es ja immer mehr junge Menschen aus eingewanderten Familien, die ihre Zugehörigkeit auch offen einfordern. Gerade ist wieder so ein Buch von drei jungen Frauen ganz verschiedener Herkünfte geschrieben worden mit dem Tenor, wir können euch viel bringen, aber ihr wollt uns und diese neue Identität, die wir mitbringen, gar nicht immer.
Grütters: Also das finde ich einen ganz wichtigen Hinweis und auch Appell. Ich werde mir das Buch dann mal besorgen und lesen. Wir haben uns im Kulturausschuss – ich war ja zehn Jahre auf Landesebene tätig; da ist ja die eigentliche Zuständigkeit auch – immer gefragt, gerade in einer Stadt wie Berlin, wo sind eigentlich die Migranten mit ihren Theatern, mit ihrem Tanz, mit ihrer Musik, mit ihrer Kultur und folkloristisch, wo sind die, warum gibt es so relativ wenig Durchmischung, auch in einer Stadt wie Berlin, wo sehr viele, sehr weltoffene junge und auch ältere Menschen leben, die da durchaus neugierig sind und keine Vorbehalte haben. Und dass diese Durchmischung hier in unserem Alltag relativ selten stattfindet, das ist eine Frage, die habe ich ehrlich gesagt auch noch nicht abschließend beantwortet. Wir hatten mal ein Experiment gestartet in Berlin, da haben wir relativ viel Geld in die Hand genommen, um im Sommer, wenn das Sommerloch ist, die türkische Community einzuladen, ihre Kultur hier aufzuführen – ein richtiges Festival. Das hieß "Simdi now" und das war großartig, und da saß die klassische deutsche hellhäutige Mittelschicht – ich zitiere Sie immer – in all diesen großen Kulturveranstaltungen und war hellauf begeistert. Aber es ist bei dieser kurzen Festival-Zeit geblieben.
Ich empfinde das als riesengroße Bereicherung. Wir gehen mit großer Begeisterung in das Ballhaus in der Naunynstraße, was von Shermin Langhoff als postmigrantisches Theater geführt wird, also von einer Einwanderin türkischen Ursprungs, die mit einem Deutschen verheiratet ist und ganz hervorragende Theaterstücke mit jungen Migranten macht, oder ins HAU, Hebbel Am Ufer, wo diese Leute eben von dem dortigen Intendanten Matthias Lilienthal auch jeden Abend eingeladen werden, ihre Ausdrucksformen uns nahezubringen. Das ist toll! Umgekehrt funktioniert das noch nicht so richtig, da müssen wir dran arbeiten.
Novy: Und das tut sie ohne Zweifel mit Herzblut. – Das war Monika Grütters, Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Kultur und Medien, heute unser Gesprächsgast.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Weitere Teile der Serie: "Wir schenken Ihnen Zeit"
Teil I - Der Soziologe Hartmut Rosa über Kunst und die Beschleunigungskultur
Teil II - Der neue Intendant der Berliner Festspiele, Thomas Oberender, Gedanken über die Fotografie und die Zeit
Teil III - Gesine Schwan über Demokratie und Gemeinsinn
Teil IV - Opernsängerin Edda Moser: Ein Loblied auf die deutsche Sprache
Teil VI - Der Philosoph und Schriftsteller Rüdiger Safranski über die Chancen des Philosophierens
Teil VII - Der Schriftsteller Feridun Zaimoglu im Gespräch über das Ruhrgebiet
Teil VIII - Die Schriftstellerin Juli Zeh über Krisenhysterie und Schwangersein
Monika Grütters: Nein. Ich empfinde unsere heutigen Gesellschaften, die eben tatsächlich multi-ethnisch sind, die sehr gemischt sind, international sind, als großen Gewinn. Wir alle erleben ja verschiedene Diasporas: Auf der einen Seite ich als Katholikin in Berlin zum Beispiel, wo es nur neun Prozent meiner Konfession gibt, aber gerade in internationalen Städten wie Paris, London, Berlin geht es ja vielen so, dass sie in ethnisch gemischten Milieus ihre eigenen Heimaten suchen müssen. Und man sieht es ja auch zum Beispiel an den Kirchengebäuden, oder wir haben eine Moschee-Debatte hier in Berlin und woanders auch, dass sich die Gesellschaften und die großen Städte wirklich verändern.
In der globalisierten Welt von heute geht es, finde ich, deshalb um neuartige Kunst- und Kulturerfahrungen, weil ich ganz sicher bin, dass es gerade die Kultur ist, die am ehesten in der Lage ist, Brücken zu bauen. Auf der einen Seite: In einem erweiterten Kulturbegriff spielen ja religiöse Fragen immer eine ganz große Rolle, sind sie auch der Angelpunkt, an dem man merkt, hier verändert sich was. Und dann wiederum umgekehrt sind sie die große Brücke, die die Menschen zusammenführt. Deshalb glaube ich, dass kosmopolitische Städte, dass die Museen dort auch unser aller Zukunft sind und dass wir hier ein großartiges Angebot machen können, wo wir zeigen, dass die Unterschiede kleiner sind als die Gemeinsamkeiten.
Novy: Aber, Frau Grütters, Sie sprechen damit an, dass die Kultur – und Sie haben jetzt die Museen genannt – ein Kitt werden könnte für die Gesellschaft und ihre wiederum verschiedenen Binnenkulturen. Aber gerade die Museen sind ja wie die Theater ein Heimplatz einer, um es mal so zu sagen, hellhäutigen Mittelschicht. Wie kriegt man die Leute da rein, die anderen alle?
Grütters: Sie sprechen ein wichtiges Thema an. Wir sagen dazu politisch immer kulturelle Bildung, wie bringen wir tatsächlich dieses Angebot auch niedrigschwellig herüber, wie bekommen wir die bildungsfernen Schichten in die Häuser. Da gibt es riesengroße Programme, die vom Netz für Kinder, von der Vision Kino, wir stecken unheimlich viel Geld in Theater-, Museums- und auch Schulpädagogik. Das heißt, wir verpflichten staatlich finanzierte Einrichtungen im Bildungsbereich, Schulen auf der einen Seite und Theater, Museen, Orchester auf der anderen Seite, gegenseitig Angebote zu machen. Fast jeder staatlich finanzierte Musiker in einem öffentlichen Orchester gibt Musikunterricht, und zwar unbezahlten an den Schulen, und dasselbe machen die Theater und die Museen ja auch.
Wo ich als Veranstalterin – ich leite ja auch die Stiftung Brandenburger Tor; wir machen große Ausstellungen und wir bieten dreimal im Monat Märchenstunden für Kinder an -, was ich erlebe ist, dass die Schulen sich etwas schwer tun, weil sie für eine, zwei oder drei Stunden dieses jeweiligen Kulturthemas immer gleich einen ganzen Tag, Schultag opfern müssen, weil die Hin- und Rückfahrt ja eine Rolle spielt. Das sind aber mehr organisatorische Fragen. Insgesamt ist es so, dass in Deutschland allein elfmal so viele Menschen ins Museum gehen wie alle Bundesliga-Spiele zusammen Besucher haben, dass in der Kultur- und Kreativwirtschaft heute mehr Menschen beschäftigt sind als in den Banken. Nur noch die Automobilindustrie steckt darüber. Da sieht man doch, dass es inzwischen ein allumfassendes Thema unserer Gesellschaft geworden ist.
Novy: Frau Grütters, nennen Sie doch mal ein Beispiel für eine typische Ausstellung Ihrer Stiftung Brandenburger Tor. Sie haben gerade das nämlich nur so erwähnt; ich wüsste gerne mal Genaueres.
Grütters: Die letzte Ausstellung war eine Kunstausstellung zum Thema Beginn des Expressionismus. Wir sitzen hier im Haus, in dem früher der große Maler und Akademiepräsident Max Liebermann gelebt hat, der deutsche Vertreter des Impressionismus, und der hat selber jungen Künstlern, die in der Nationalgalerie zu seiner Zeit nicht gesammelt wurden, ein Podium und Ausstellungsmöglichkeiten in seiner Akademie geboten. Als er älter wurde, begann das brüchig zu werden. Da mochte er die ganz jungen Leute von Nolde über Heckel über Kirchner, also die, die wir als Expressionisten, Brücke-Künstler wahrgenommen haben, irgendwann nicht mehr. Schmidt-Rottluff hat ganz böse Sprüche darüber gemacht. Und wir haben jetzt gezeigt, wie die Generation nach ihm groß geworden ist, unter anderem durch ihn gefördert, sich dann aber emanzipierte. Davor hatten wir eine riesengroße Ausstellung zum Thema Energie.
Novy: Nun gibt es ja in der bunten Gesellschaft, die jetzt unser Ausgangspunkt gewesen ist, jede Menge Konflikte. Müsste nicht Kultur bei allen ansetzen, also auch bei denen, die dieser Gesellschaftsveränderung besonders ablehnend gegenüberstehen, weil sie sich in der Rolle der Verlierer finden? Mit anderen Worten: Ist das nicht überhaupt eine Sache der sozialen Milieus?
Grütters: Ja. Ich sage immer, die großen gesellschaftlichen Fragen werden nicht in den Ausschüssen für Verkehr oder Verteidigung, auch nicht in dem für Gesundheit oder Sport geklärt, sondern da geht es um gesellschaftliche Zusammenhänge, die eher in dem erweiterten Kulturbegriff zu Hause sind, wenn man bedenkt, dass nationale Identität zu allererst aus dem Kulturleben eines Landes erwächst. Und dann beruft man sich ja nicht nur auf sein eigenes kulturelles Erbe, sondern versucht, die zeitgenössischen Ausdrucksformen irgendwie zu begreifen. Und Deutschland hat seinen Stellenwert in der Welt wieder neu behauptet dadurch, dass wir sehr viel für die Freiheit der Kunst und für die Künstler hier und für die zeitgenössischen Ausdrucksformen geben. Wir sind damit gut gefahren, weil wir kapiert haben, dass Kultur nicht das Ergebnis des Wirtschaftswachstums ist, auch nicht in einem wirtschaftlich erfolgreichen Land wie Deutschland, sondern dass die Kultur letzten Endes die Voraussetzung für ein solches gesundes gesellschaftliches Klima ist. Deshalb sehen wir auch, dass Kulturpolitik an Bedeutung gewinnt, weil es so etwas wie der rote Faden gesellschaftlicher Fragestellung ist, dass kulturelle Existenz eben auch keine Ausstattung ist, die eine Nation sich leistet, oder das, was Sie eben sagten, die hellhäutige Mittelschicht, sondern dass sie eine Vorleistung ist, die allen zugute kommt, weil das Leben hier ein anderes, ein besseres ist. Kultur ist eben nicht nur ein Standortfaktor, sondern das ist vor allen Dingen Ausdruck von Humanität. Deutschland hat zwei große Diktaturen in einem Jahrhundert hinter sich gehabt und hat aus den Abgründen, glaube ich, wirklich gelernt. Bei uns steht im Grundgesetz ganz vorne schon im Artikel fünf drin, Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei, und der Staat schützt die Freiheiten dieser Intellektuellen eben auch. Ich glaube, das ist ganz wichtig.
Novy: Mittlerweile gibt es ja immer mehr junge Menschen aus eingewanderten Familien, die ihre Zugehörigkeit auch offen einfordern. Gerade ist wieder so ein Buch von drei jungen Frauen ganz verschiedener Herkünfte geschrieben worden mit dem Tenor, wir können euch viel bringen, aber ihr wollt uns und diese neue Identität, die wir mitbringen, gar nicht immer.
Grütters: Also das finde ich einen ganz wichtigen Hinweis und auch Appell. Ich werde mir das Buch dann mal besorgen und lesen. Wir haben uns im Kulturausschuss – ich war ja zehn Jahre auf Landesebene tätig; da ist ja die eigentliche Zuständigkeit auch – immer gefragt, gerade in einer Stadt wie Berlin, wo sind eigentlich die Migranten mit ihren Theatern, mit ihrem Tanz, mit ihrer Musik, mit ihrer Kultur und folkloristisch, wo sind die, warum gibt es so relativ wenig Durchmischung, auch in einer Stadt wie Berlin, wo sehr viele, sehr weltoffene junge und auch ältere Menschen leben, die da durchaus neugierig sind und keine Vorbehalte haben. Und dass diese Durchmischung hier in unserem Alltag relativ selten stattfindet, das ist eine Frage, die habe ich ehrlich gesagt auch noch nicht abschließend beantwortet. Wir hatten mal ein Experiment gestartet in Berlin, da haben wir relativ viel Geld in die Hand genommen, um im Sommer, wenn das Sommerloch ist, die türkische Community einzuladen, ihre Kultur hier aufzuführen – ein richtiges Festival. Das hieß "Simdi now" und das war großartig, und da saß die klassische deutsche hellhäutige Mittelschicht – ich zitiere Sie immer – in all diesen großen Kulturveranstaltungen und war hellauf begeistert. Aber es ist bei dieser kurzen Festival-Zeit geblieben.
Ich empfinde das als riesengroße Bereicherung. Wir gehen mit großer Begeisterung in das Ballhaus in der Naunynstraße, was von Shermin Langhoff als postmigrantisches Theater geführt wird, also von einer Einwanderin türkischen Ursprungs, die mit einem Deutschen verheiratet ist und ganz hervorragende Theaterstücke mit jungen Migranten macht, oder ins HAU, Hebbel Am Ufer, wo diese Leute eben von dem dortigen Intendanten Matthias Lilienthal auch jeden Abend eingeladen werden, ihre Ausdrucksformen uns nahezubringen. Das ist toll! Umgekehrt funktioniert das noch nicht so richtig, da müssen wir dran arbeiten.
Novy: Und das tut sie ohne Zweifel mit Herzblut. – Das war Monika Grütters, Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Kultur und Medien, heute unser Gesprächsgast.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Weitere Teile der Serie: "Wir schenken Ihnen Zeit"
Teil I - Der Soziologe Hartmut Rosa über Kunst und die Beschleunigungskultur
Teil II - Der neue Intendant der Berliner Festspiele, Thomas Oberender, Gedanken über die Fotografie und die Zeit
Teil III - Gesine Schwan über Demokratie und Gemeinsinn
Teil IV - Opernsängerin Edda Moser: Ein Loblied auf die deutsche Sprache
Teil VI - Der Philosoph und Schriftsteller Rüdiger Safranski über die Chancen des Philosophierens
Teil VII - Der Schriftsteller Feridun Zaimoglu im Gespräch über das Ruhrgebiet
Teil VIII - Die Schriftstellerin Juli Zeh über Krisenhysterie und Schwangersein