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Kultur zum Perspektivwechsel nutzen

Kunst verbindet Menschen, so heißt auch ein Buch, das die Kulturwissenschaftlerin Tina Jerman herausgegeben hat und das interkulturelle Konzepte vorstellt. In der Reihe zur Demografie und Kultur spricht die Autorin über Interkultur.

Tina Jerman im Gespräch mit Karin Fischer |
    Tina Jerman: Es geht also darum, einen Perspektivwechsel einzunehmen und Kultur als Chance, als Potenzial zu sehen, und damit die Perspektive auf die Gesellschaft und die Gestaltung eines Miteinanders neu zu verhandeln. Kunst sehen wir dabei als einen sogenannten dritten Raum, als Möglichkeitsraum, der Fragen der Existenz, Identität und Wünsche und Visionen thematisiert.

    Karin Fischer: Kunst als dritter Raum, das hört sich interessant an. Muss man diesen Raum schaffen, gibt es den schon, oder wie kommt die eine Kultur mit der Kultur der anderen zusammen, wenn wir dieses Prinzip "Wir und die da" aufbrechen wollen?

    Jerman: Ja, wir gehen überhaupt nicht von dem "Wir und die da" aus, sondern wir müssen sagen: Eben alle zusammen müssen wir ein gemeinsames Wir für die Zukunft gestalten, und das ist eine Aufgabe, die zum Teil an Orten, die Migranten selbst gestalten haben, schon ausprobiert wird, wie zum Beispiel im Ballhaus Naunynstraße, aber es gibt auch ...

    Fischer: In Berlin.

    Jerman: In Berlin, genau. Aber es gibt auch noch ganz viel zu tun, also um Kultureinrichtungen zu sensibilisieren, dass sie auch diese Orte in Zukunft sein müssen - einerseits eben vom Kulturauftrag her, aber auch sein können, von den Potenzialen ihrer Mitarbeiter oder ihres Programms.

    Fischer: Machen Sie es vielleicht bitte mal an einem Beispiel und erklären Sie uns auch, dass es sich dabei um mehr handelt als um türkischsprachiges Theater oder Folkloreveranstaltungen aus den Heimatländern der Migranten, dass nicht ethnische Nischen bedient werden, sondern dass Menschen sozusagen wirklich auch gefordert werden.

    Jerman: Das gibt es in verschiedenen Projekten, also ein Kindermuseum in Dortmund, Mondo Mio, hat sich auf den Weg gemacht, die verschiedenen kulturellen Schätze der Menschen, die in Dortmund leben – das sind etwa Leute aus 170 verschiedenen Nationalitäten, und eben in dem Kinderbereich ist es ein ganz erheblich höherer Anteil als in der Gesamtbevölkerung – zu zeigen: Was sind eigentlich so die kulturellen Hintergründe, was sind Märchen, die erzählt werden, oder was sind andere narrative, würde man vielleicht etwas abstrahiert sagen, andere Geschichten und andere Bilder und andere Gewohnheiten? Und da können Kinder zusammenkommen und das kennenlernen, sodass das dann im Alltag für die Kinder, später in der Schule und auch im weiteren Leben, eine selbstverständlichere Situation ist.

    Fischer: Das Wort "Multikulti" ist ja ziemlich in Verruf geraten und steht heute als Symbolwort für ein Laissez-faire, das zum Beispiel einen schrecklichen Ehrbegriff muslimischer Gesellschaften für die zu berücksichtigende Kultur der Einwanderer rechtfertigt. Wie unterscheiden sich interkulturelle Konzepte von diesem schlechten Multikulti?

    Jerman: Ja, Multikulti ist ja politisch demontiert worden, es ist eigentlich eine richtige Zustandsbeschreibung auf den Alltag in Deutschland, eben mit dem Viertel der Menschen mit Migrationshintergrund, also die politische Destabilisierung von Multikulti ist eigentlich ein Zeichen dafür, dass man politische Schlachten auf dem Rücken von Migrantinnen und Migranten austrägt. Und das hat zur Folge, dass aufgrund dieser beleidigenden Struktur Leute sich auch nicht unbedingt motiviert fühlen, eben am Kulturleben oder am sonstigen Leben teilzunehmen.

    Fischer: Wenn wir beim Kulturleben bleiben: Was für eine Rolle spielt Ihrer Ansicht nach die Hochkultur? Ist das eine elitäre Veranstaltung, in der auch in einigen Jahren und Jahrzehnten nur eine bestimmte Schicht auch von Migrantinnen und Migranten hineinwächst, oder muss sich da auch etwas bewegen?

    Jerman: Das ist eine interessante Frage, weil wir haben jetzt gerade im Rahmen der Kulturhauptstadt Ruhr 2010 einen Arbeitskreis gehabt mit den Leiterinnen und Leitern von renommierten Kultureinrichtungen der Region, die gefragt haben: Was ist eigentlich für uns und unsere Kultureinrichtungen weiterhin wichtig? Und ich könnte jetzt das Beispiel der "Faust"-Inszenierung in Bochum nehmen, da hat man einen türkischen Regisseur gebeten, "Faust" zu inszenieren, und die Feuilletons beschreiben diese Inszenierung als was ganz Neuartiges. Aber wichtig ist vielleicht auch der Hinweis, dass Hochkultur tatsächlich dann auch noch mal neu definiert werden muss, also das Theater Bochum hat zum Beispiel mit dem Renegade Theater aus Herne einen neuen Partner gewonnen, das ist eine Tanzkompanie, die Hip-Hop, Breakdance, Streetart-Formen bedient, da wird die alte Sparte Tanz völlig neu gesehen und auch mit neuen Formen versehen.