Stattdessen richtet Mieke Bal ihre Aufmerksamkeit darauf, was mit den Begriffen geschieht, welche Wege sie zurücklegen, welche Verwandlungen sie dabei durchlaufen, was die Spuren erzählen, die sie hinterlassen und die zu denen führen, die sie verwenden. "Begriffe sind Werkzeuge der Intersubjektivität", erklärt Mieke Bal. Wenn wir verstehen wollen, was Kultur ist, was Kultur macht, wie sie entsteht und sich entwickelt, lohnt es sich zu beobachten, was die Begriffe erzählen, mit der kulturelle Prozesse sich beschreiben. Wie weit so ein Konzept tragen soll, wird deutlich, wenn man Mieke Bals narratologischer Analsys des Audrucks "Vergewaltigung" folgt. Für Mieke Bal ist hier ein "Beispiel für die Metaphorisierung der Grammatik" zu entdecken. Hinter dem Substantiv "Vergewaltigung" steht für sie eine ganze Erzählung: "Die ersetzte, verdrängte und vernebelte Sache ist eine Geschichte mit mehreren Akteuren, einer Vielfalt von Interpretationen und einem Unterschied im Erleben." Das ist eigentlich, demonstriert an einem schrecklichen Gegenstand, banal. Mieke Bal kommt es in diesem Zusammenhang darauf an, dass der Bedeutungskomplex hinter dem Begriff "Vergewaltigung" erst klar wird, wenn man ihn als Metapher sieht. Ihr geht es nicht darum, ob "Vergewaltigung" in einer Kultur akzeptabel ist oder nicht. Ihre Frage lautet: "Welche Subjekte werden von einem solchen Ausdruck unsichtbar gemacht? Welche Diskurse werden von diesen Subjekten heraufbeschworen, sobald wir sie durch Analyse sichtbar machen?"
Diese Frage leitet Mieke Bal durch ihre gesamte Forschung, wie sie von den vorliegenden Aufsätzen repräsentiert wird. Einen Gang durch das naturhistorische Museum in New York formt sie zu einem Lehrstück in Sachen Postkolonialismus - "Menschliche Körper werden als Muster ethnischer Einheiten vorgeführt." Die Geschichte, die von den Exponaten und ihren zugehörigen Beschriftungen erzählt wird, liegt buchstäblich zwischen den Zeilen. Mieke Bal zeigt, wie - koloniale - Geschichte von der Naturgeschichte ausgeschlossen wird, wie das ausgestellte Wissen sich der Fiktion bedient und als Wahrheit geglaubt wird. Hier demonstriert Mieke Bal ihre Interpretationskunst schön und einleuchtend. Ihre Untersuchung zu Proust als Vorläufer der heutigen Gender-Debatten dagegen schwadroniert allzu häufig und nimmt vieles, wie beispielsweise Ina Hartwigs Studie zur "Sexuellen Poetik" bei Proust und anderen, gar nicht erst zur Kenntnis.
Eindrucksvoller sind die Aufsätze, die sich mit Gegenwartskunst befassen. Hier gelingen Mieke Bal spannende Aktualisierungen der altehrwürdigen Rezeptionstheorie, insbesondere im Zusammenhang mit Künstlerinnen wie Kathleen Gilje oder Louise Bourgeois, die sich in ihren Werken jeweils mit Künstlern des Barock eingelassen habe und deren sexualisierenden und philosophischen Subjektivierungen Mieke Bal en detail herausarbeitet. Begriffe der Psychoanalyse, Konzepte, Beschreibungen: in Mieke Bals Kulturanalyse wandert alles ineinander - und immer weiter. Wir, als die Betrachter, Hörer und Leser auf diesem Weg, hinterlassen und verkörpern immer wieder Leerstellen, die wiederum von den Nachfolgenden ausgefüllt werden. Und so weiter.