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Kulturdebatten abseits der Feuilletons
Popkritik auf TikTok

Elitär und abgehoben - so nehmen viele das klassische Feuilleton wahr. Kulturkritik auf der Plattform TikTok erscheint im Vergleich als inklusiv, divers und interaktiv. Dort geäußerte Einschätzungen zu Kunst und Kultur lobt Medienjournalist Marcus Bösch als „komprimiert und sehr dicht“.

200928 -- CULVER, Sept. 28, 2020 -- Photo taken on Aug. 21, 2020 shows a logo of the video-sharing social networking company TikTok s Los Angeles Office in Culver City, Los Angeles County, the United States. A federal judge on Sunday decided to halt the Trump administration s ban on the popular video-sharing app TikTok, just a few hours before the controversial ban is set to take effect. U.S.-FEDERAL JUDGE-TIKTOK BAN-HALTING Xinhua PUBLICATIONxNOTxINxCHN
Mehr als nur Songs nachsingen - auf der Plattform TikTok sind Formate entstanden, die durchaus Feuilletonistisch zu nennen sind (www.imago-images.de)
Die klassische feuilletonistische Kritik stellt man sich vielleicht so vor: In einem Elfenbeinturm sitzt in einem kleinen Büro ein Mann. Auf dem Boden, den Regalen und dem Schreibtisch stapeln sich Bücher. Der Mann runzelt die Stirn, blickt aus dem Fenster über die tosende Stadt, rückt die Brille gerade und formuliert dann einen Satz. Der ist lang, verschachtelt und er klingt sehr gelehrig. Er handelt wahrscheinlich vom Theater, von der Oper, einem klassischen Konzert oder dem bevorstehenden Geburtstag eines bedeutenden Schriftstellers.

Inklusiv, divers und interaktiv

"Klingt elitär und abgehoben? Vielleicht ist das klassische Feuilleton manchmal so", findet Popjournalist Raphael Smarzoch.
Richten wir also den Blick auf mögliche Alternativen für Kulturkritik. Die gibt es beispielweise auch auf der vergleichsweise jungen Plattform TikTok. Im Vergleich zum klassischen Feuilleton scheint sie inklusiv, divers, interaktiv und nicht ausladend. Denn dafür ist hier gar keine Zeit.

Neue Kulturtechniken

Der Medienjournalisten Marcus Bösch beschäftigt sich intensiv mit Phänomenen auf der Plattform. Er macht bei TikTok in erster Linie einen "erweiterter Kulturbegriff" aus.
Für Marcus Bösch gibt es "klassische Feuilleton-Themen: Bücher, Ballet. Aber eben auch das Brokkoli Kasserolle Drama."
Der Hauptunterschied von Tik Tok seien also nicht in erster Linie die Themen, sondern ein anderes Publikum, das mitmache, statt lediglich zu beobachten, ein anderes Umfeld ohne Gatekeeper und andere Kulturtechniken, die hier zum Einsatz kämen.
"Statt mäanderndem sprachverliebtem Vorsich-hin-Textens gibt es hier komprimiert und sehr dicht Einschätzungen zu allem Möglichen", so Marcus Bösch.

"Inside the Songs"

Als Positivbeispiel führt er Blake Robin aka Luxxury an.
Eigentlich Musiker, bei TikTok aber auch Musik-Erklärer. Seine lose Reihe "Inside the song" nimmt alte und neue Popsongs auseinander. Robin klärt die Herkunft von Samples, Inspirationsquellen, liefert umfassendes Hintergrundwissen auf sehr spielerische Art. Gemäß der journalistischen Grundregel "Show don’t tell" montiere er historische Fotos, Videos, Texttafeln und Internetfundstücke zu kleinen Gesamtkunstwerken, erklärt Bösch.
Ein Beispiel: "Blue Monday" von New Order, eine der erfolgreichsten Maxi-Singles der jüngeren Gesichte. Schätzungsweise 10 Millionen mal verkauft. "Dank Robin habe ich erfahren, warum es überhaupt zu diesem Song kam. New Order hatten nämlich keine Lust auf Zugaben und schrieben daher 1983 einen sich selbst spielenden Song, für den sie gar nicht mehr auf die Bühne mussten."
"Blue Monday" ist beeinflusst von Donna Summer, man erfährt in Blakes Analyse, welche Elemente der Song noch so aufweist, von Ennio Morricones Gitarrenriff aus "Für eine Handvoll Dollar", über Sylvester James "Mighty Real" bis hin zum Kraftwerk-Sample - Das Video weise für Bösch alles auf, was das Feuilleton leisten sollte: Zu informieren, Zu unterhalten und im Besten Fall zum Weiterrecherchieren verleiten und das in einem hohen Tempo.

#BookTok

Für Raphael Smarzoch funktioniere so eine Vermittlung, "die Menschen einschließt, statt sie außen vor zu lassen."Etwa im Bezug auf die klassischen Feuilleton-Themen Ballet und Literataur.
TikTok sei, so Bösch, eine im Moment eher junge Plattform mit den meisten Nutzer:innen unter 25. "Dementsprechend sind viele der Bücher die im Bereich der App, den man BookTok, nennt auf diese Zielgruppe zugeschnitten."
Die Abteilung ist übrigens alles andere als klein. Das hashtag #BookTok hat derzeit mehr als 4.4 Milliarden Views. Die bisweilen sehr dichten Videos würden häufiger auch von derselben Person angeklickt und thematisieren vor allem die Genres Young Adult Fiction, romantische Romane und dystopische Fantasiebücher. "Dinge", so Markus Bösch, "die man im klassischen Feuilleton so nicht unbedingt täglich findet."
Im Vordergrund stehe auch hier eine Community, die sich austauscht, diskutiert und bisweilen im so genannten IRL, also im realen Leben, zu Lesezirkeln trifft, einmal die Woche über Zoom diskutiert oder sich gegenseitig Bücher schickt.

Algorhythmus statt Gatekeeper

Junge Autor:innen sind auch selbst auf TikTok. "Ein eher angenehmer Ort", findet Marcus Bösch, "Auf Augenhöhe. Ohne Gatekeeper." Hier entscheide nicht akademische Bildung, Kontakte, Zugänge und Karriereglück, sondern lediglich der Algorithmus und das Interesse der Peer Group. Jedes einzelne Video könne ein viraler Hit werden. Followerzahlen seien sekundär.
Unter #BalletTok macht Marcus Bösch keine feuilletonistische Betrachtung aus. "Vielmehr sind es junge Akteur:innen die sich hier intensiv und im Gegensatz zur klassischen Kulturvermittlung nicht nur aus der Beobachterperspektive heraus mit dem Thema Tanz auseinandersetzen." Auf TikTok würden auch vermeintliche Körpernormen, Konformität und die Themen Sex und Gender verhandelt.

Brauchen wir dann überhaupt noch das klassische Feuilleton? Oder gehen wir alle einfach zu TikTok?

Trotz seiner Begeisterung für TikTok misst Marcus Bösch auch dem klassischen Feuilleton einen großen Wert zu: "Ohne die tägliche Lektüre des Feuilletons wäre mein Leben zumindest ärmer."
Dennoch, das eine tun heiße ja nicht, das andere zu lassen. "Es wäre schön, wenn im klassischen Feuilleton eine größere digital literacy vorherrschen würde, wenn hier Akteur:innen mit diverseren Hintergründen schreiben würden und dies eben auch über Themen, die nicht einer imaginierten Hochkultur angehören", formuliert der Medienjournalist einen Wunsch an seine Kolleg*innen.
"Mehr Alltagskultur, mehr Diversität, mehr vielgestaltige Stimmen und ein Verhandeln von internetspezifischen Kulturthemen auf Augenhöhe."