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Kulturdebatten abseits des Feuilletons
Machtdynamiken von Kritik

Debatten und Gespräche über Kultur finden schon länger nicht mehr nur im Feuilleton der etablierten Medien statt, sondern entwickeln in den sozialen Medien eine ganz neue Dynamik. Hier könne man "dem kulturellen Kapital bei der Entwertung zusehen", sagte Autorin und Journalistin Berit Glanz im Dlf.

Berit Glanz im Gespräch mit Ina Plodroch |
Porträt der Literaturwissenschaftlerin Berit Glanz.
Autorin und Journalistin Berit Glanz setzt sich für eine digitale Form der Literaturvermittlung ein (Berit Glanz)
Ob wir Bücher als Literatur oder als wertvoll erachten, das hat viel damit zu tun, welches intellektuelles Standing sie haben und das wiederum, wenn man der Autorin und Journalistin Berit Glanz folgt, ob sie "schwer" zu lesen sind. Anfang Februar warf sie im Zusammenhang mit der Absage der Leipziger Buchmesse, auf Twitter die Frage auf, wessen Wertungskriterien eigentlich dazu geführt hätten, dass "schwierige" Bücher als Literatur gelten und andere nicht.
Wertungskriterien bezögen sich in diesem Kontext auf die Kriterien, nach denen "gute" Literatur definiert wird, so Glanz. Welche Genres in einem größeren Zusammenhang beispielsweise als reine Unterhaltung gelten und welche als hohe Kunst. In der Wertung von Literatur würden immer auch bestimmte Hierarchisierungen reproduziert, von Schreibweisen, von formalen oder inhaltlichen Kriterien.
Diese Trennung von ernster und unterhaltender Kunst sei zwar schon älter aber mit dem Aufstieg des Bürgertums zu einer schichtspezifisch Abgrenzung geworden. "Die Kriterien guter Literatur reproduzieren dann in der folgenden Zeit all die gesellschaftlichen Ausschließungsmechanismen, mit denen wir uns aktuell kritisch auseinandersetzen. In der Tradition der Aufklärung wird dabei auch der Verstand dem Gefühl übergeordnet. Das bedeutet emotional überwältigende, zugängliche Literatur, Pageturner, die man immersiv liest, werden in Folge als weniger wertvoll und als reine Unterhaltung betrachtet", so Berit Glanz.

Kanonbildung als System

Dabei ginge es nicht lediglich um Geschmacksfragen: "Die Entscheidung, was gute Literatur ist, welche Referenzen man beherrschen muss, welchen Kanon man kennen muss, ist natürlich mit Macht verbunden. Bourdieu nennt das kulturelles Kapital, also das Prestige und den Einfluss, den man gewinnt, wenn man sich mit einer bestimmten Form von Literatur sehr gut auskennt. Mit einem so feinjustierten Geschmack kann man sich dann gegen andere abgrenzen, die eben über dieses kulturelle Kapital nicht verfügen."
Seit mehreren Jahrzehnten verliere dieser Kanon als kulturelles Distinktionsinstrument an Bedeutung. Hinterfragt man nun diese etablierten Kriterien ganz grundsätzlich, so Berit Glanz, werde auch dieses erworbene kulturelle Kapital, über das sich auch das Feuilleton stark identifiziert, wertlos. "Diese Aufhebung etablierter Kriterien passiert in den sozialen Medien ganz stark, man kann quasi dem kulturellen Kapital bei der Entwertung zusehen."

Neue soziale Hierarchien

Auch die Art der Kritik verändere sich durch die sozialen Medien: dadurch, dass Lesende öffentlich zurückmelden können, was und wie sie lesen. Dadurch verändere sich auch die Art wie Kritik geübt werde. Es gebe zum einen extrem ausführliche Spezialdiskurse in einzelnen Fangemeinschaften, so Glanz. "Das heißt beispielsweise die Fans von Liebesromanen diskutieren Werke in ihrem Genre in ihrer jeweiligen Nische sehr ausführlich und kenntnisreich. Man kann für jedes noch so abseitige Interesse online andere Interessierte finden und mit denen ins Gespräch kommen."
Auf diese Weisen etablierten sich nicht nur neue soziale Hierarchien sondern auch eigene Formen des Feierns und Lobens von Büchern in Verbindung mit ganz eigenen ästhetischen Wertungskriterien, beispielsweise das ritualisierte Auspacken von Neuerscheinungen in Videos.
Menschen definierten sich natürlich auch weiterhin über ästhetische Texte, also beispielsweise Bücher, die ihnen gefallen. Es gebe also durchaus Bücher, die in bestimmten Gruppen kollektiv als gut bewertet werden und es etabliert sich eben eine Vielzahl an Kanones, also an Büchern, die für wichtig oder gut innerhalb einer bestimmten Gruppe befunden werden. Das kann dann auch sehr verwirrend sein, wenn man es von außen betrachtet. Diese Etablierung neuer Stilgemeinschaften könne dann dazu führen, dass eben etablierte Orte des Sprechens über Literatur ihre Relevanz verlören.

Das "digitale Feuilleton"

Auf der Plattform 54-books schreibt auch Berit Glanz. Das "digitale Feuilleton", wie sich die Seite nennt, könnte eine Scharnierfunktion zwischen Online-Gruppen und klassischem Feuilleton einnehmen.
"Wir versuchen als Redaktion immer wieder Themen und Debatten abzubilden, auf die wir in den sozialen Medien stoßen", sagte Berit Glanz im Deutschlandfunk. Das schlösse Beiträge zu Sitcoms, historischen Romanen, Reality TV, Netzphänomene, oder Lyrik auf Twitter ein. "Uns interessiert, wie man sich kulturjournalistisch auch mit sehr populären Genres auseinandersetzen kann, von Krimis bis zur Fanfiction. Wir finden auch immer wieder interessante Stimmen online, die wir dann bitten ihre Gedanken, die vielleicht in einem Tweet kurz formuliert wurden, für uns ausführlich aufzuschreiben." Das unterscheide sich aber gar nicht so sehr von der Arbeit der etablierten Feuilletons, so die Kulturjournalistin.

Prosumer gesucht

Von diesen grenzen sie sich ab, indem sie "Beiträge, gerne auch lange Essays" beispielsweise zu Fragen nach queeren Themen im Literaturbetrieb, Literaturen aus kleinen Sprachen oder zum Thema Sorgearbeit produzieren. Viele Texte seien politisch, manche analysierten das Feuilleton aus einer Meta-Perspektive, fragten also beispielsweise nach Misogynie in der Literaturkritik oder sie beteiligten sich an aktuellen Debatten.
Darüber hinaus versuchten Berit Glanz und ihre Kolleginnen und Kollegen bei 54 books auch das Gespräch über die veröffentlichten Texte online weiterzuführen: "Es geht nicht allein um den Text", so die Autorin, "sondern auch um die Gemeinschaft an Lesenden, die darüber dann diskutiert. Was wir suchen, sind aktive Leserinnen und Leser, das, was die Medienwissenschaft "Prosumer" nennt, die die Inhalte auf 54books durch ihren Input im Gespräch erweitern."