Ungefähr zu der Zeit, als sich die Bäckereien hierzulande in "Brot-Boutique" oder "Back-Point" umbenannten, kamen auch seltsame neue Brotsorten auf, die jemanden, der nicht mit den spezifischen Gepflogenheiten eines bestimmten Ladens vertraut ist, beim Bestellen an der Theke ganz schön alt aussehen lassen. Denn was ist eine "Joggerstange" oder was ein "Fitness-Brot"? Man kannte sich bis dahin mit den klassischen Brotarten und einigen regionaltypischen Bezeichnungen aus, man wusste Weißbrot von Roggenbrot und Pumpernickel zu unterscheiden, aber aus welchen drei Körnern besteht Dreikornbrot? Auch "Hausbrot" und "Hochzeitsbrot" sind Fantasienamen, die sich dem modernen Marketing verdanken. Gebacken wird kein einziges dieser Brote mehr an dem Ort, wo man sie kauft, sondern alles kommt aus Brotfabriken, weshalb es ziemlich problematisch ist, überhaupt noch vom Bäckerhandwerk zu sprechen.
Trotzdem stimmt es nach wie vor: Deutschland ist Brotland, und zwar Sauerteigbrotland. Wenn Deutsche längere Zeit im Ausland leben, dann bauen sie fast automatisch private Nachschublinien auf, um per Postpaket oder Reisegepäck immer wieder an ihr gewohntes dunkles Heimatbrot zu kommen. Oder sie eröffnen in Kanada, den USA oder Australien gleich selber eine deutsche Bäckerei, was oft zu einer Erfolgsgeschichte führt. Denn wahrhaftig: Gutes deutsches Sauerteigbrot, grobporig mit krosser Kruste, ist eine auch fremde Genießer überzeugende Köstlichkeit.
Allerdings ist Deutschland nicht das Brotland schlechthin. Sowohl die russische als auch die französische Kultur haben eine ebenso große Verbundenheit mit dem Brot, und es ist geradezu erstaunlich, dass es bei uns trotz aller handwerklichen Könnerschaft und renommierter Bäcker-Akademien kein dem französischen Original auch nur entfernt nahekommendes Stangenweißbrot gibt. Viel zu weich und zu süß ist der Teig meist, und auch die Form - flûte, baguette oder ficelle - stimmt in der Regel nicht.
Dafür staunen ausländische Gäste oft über die Brot-Unkultur in Deutschland. Die besteht beispielsweise darin, dass es bei allem Bohei ums Brot als Kulturerbe in den meisten deutschen Restaurants erst mal gar kein Brot gibt, wenn man sich an den Tisch setzt. Diese Grundgeste der Versorgungsfreundlichkeit, die in gastlicheren Zivilisationen selbstverständlich ist, hat mit der Heiligkeit des Brotes zu tun. An dieser Front müsste die hiesige UNESCO-Kommission also noch ein bisschen arbeiten. Und die in Plastikfolie eingeschweißten Schnitten, die man in deutschen Speisewagen und anderswo zum Frühstück gereicht bekommt, wären ein Grund, das deutsche Brot, wenn es denn auf die Weltkulturerbeliste käme, sofort wieder davon zu streichen.