Kulturgeschichte einer Metapher
Von Schattenseiten, Schattenbanken und Schattenrissen

Sinnbildlich taucht er oft in unserer Sprache auf: der Schatten. Wir sehen die Schattenseiten des Lebens. Jemand steht im Schatten von jemandem. Bedeutende Ereignisse werfen ihren Schatten voraus: Was macht die Metapher des Schattens so bedeutsam?

Von Sabine Appel | 23.06.2024
Reisende werfen im Abendlicht malerische Schatten.
Licht und Schatten - sie gehören untrennbar zusammen. (IMAGO / Rolf Poss)
Da der Schatten immer in Beziehung zum Licht gedacht wird, ohne dieses gar nicht existieren würde, haftet ihm immer etwas Minderwertiges an, etwas Dubioses, Dunkles. Wir sprechen von Schattenkabinetten und Schattenbanken. Und nicht selten bezeichnen die mit dem Wort "Schatten" kombinierten Orte oder Begriffe Einflusssphären, in denen heimlich agiert wird, intransparent, hinter verschlossenen Türen.
Schattenbilder selbst gelten oft als Trugbilder. Platon beschreibt diesen Tatbestand in seinem Höhlengleichnis. Hier liegt der Ursprung aller komplexen Bedeutungsassoziationen in Bezug auf den Schatten als etwas Unwahrem, das uns aber eine vermeintliche Wirklichkeit vorgaukelt. In der antiken Mythologie wurden zudem die Toten in der Unterwelt als Schatten bezeichnet.

Der Aufstieg zum reinen Licht

Die Aufklärung wollte die Schattenbilder vertreiben und überwinden wie alles Irrationale, das den Aufstieg zum reinen Licht, zur Mündigkeit und geistigen Freiheit vereitelt. Zugleich aber regten im 18. Jahrhundert die Schattenrisse im Halbprofil, die allenthalben erstellt wurden, zu einer eifrig betriebenen Charakterdeutung an.
Lavaters Physiognomik ist ein entsprechendes Phänomen dieser Zeit. Fast hat es den Eindruck, als wohne dem Schatten wie dem Licht eine erkenntnisstiftende Kraft inne. Es ist offenbar höchste Zeit, den Schatten einmal ins Licht unserer Aufmerksamkeit zu rücken.
Sabine Appel, geboren 1967, promovierte 1995 an der Universität Heidelberg. Sie ist freie Buchautorin mit Schwerpunkt Europäische Ideengeschichte. 13 Publikationen, u.a. über Goethe, Nietzsche und Schopenhauer, Luther und Heinrich VIII., Katharina von Medici und Madame de Staël. Zuletzt erschienen: Unser Rousseau. Wie ein Genfer Uhrmachersohn die Aufklärung überwand und sie damit vollendete (Berlin 2021).

Was wären wir ohne unseren Schatten? Er ist die Blaupause unseres Ich und er begleitet uns, wo wir auch gehen und stehen. Auf allen Wegen sind Schatten. Dort, wo das Sonnenlicht trügerisch, gleißend und manchmal auch gnadenlos ist, schaffen die Schatten Vertiefung, Konturen und Sicherheit. Erst mit ihm, mit dem Schatten, zeichnen sich alle Umrisse ab. Vielleicht ist der Schatten eine Quelle der Wahrheit. In unserem alltäglichen Sprachgebrauch ist gleichwohl wenig bis gar nichts von dieser erhellenden Funktion des Schattens zu spüren.
Wir sehen die Schattenseiten des Lebens oder der Globalisierung. Bedeutende Ereignisse werfen ihren Schatten voraus. Jemand ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Eine andere jagt einem Schatten nach oder fühlt sich veranlasst, jemanden permanent in den Schatten zu stellen. Ein eigentlich gutes Projekt, das sich nicht durchsetzen konnte, oder ein glänzendes, aber kommerziell nicht erfolgreiches Buch führt zu Unrecht ein Schattendasein. Die charismatische und erfolgreiche Herrscherin eines fernen Jahrhunderts oder der Denkpionier einer Wissenschaftsdisziplin hat einen langen Schatten geworfen. Niemand, so scheint es, kann diesen ausfüllen oder hinterlässt eine vergleichbare Spur. – Und wenn die Sonne der Kultur tief steht – hat Karl Kraus einmal gesagt – werfen selbst Zwerge lange Schatten.
Wenn es uns gelingt, über unseren eigenen Schatten zu springen, haben wir nicht nur eine große individuelle Leistung erbracht, sondern uns regelrecht selbst überwunden – so wird es jedenfalls suggeriert in dem eigentlich gar nicht stimmigen Bild, denn wir wissen, dass es physisch unmöglich ist, über den eigenen Schatten zu springen. Aber gleichwohl. Die Überwindung des eigenen Schattens markiert ein Gelingen besonderer Qualität, und es ist nahezu eine Grenzüberschreitung, da es über die eigenen subjektiven Möglichkeiten hinausführt, sie regelrecht transzendiert. Wer dies erklärtermaßen nicht kann, über seinen und ihren Schatten springen, kapituliert vor den eigenen Unzulänglichkeiten und Grenzen, aber tut dies möglicherweise bewusst, da bestimmte Handlungen sich nicht gut anfühlen würden oder im Widerspruch zur Persönlichkeit und ihren Überzeugungen stehen. Der Schatten wäre somit das Unbewusste; auch die Tiefenpsychologie arbeitet mit dem Symbol. Wer sich hingegen vor seinem eigenen Schatten fürchten muss, um dessen und deren Seelenheil ist es nicht gerade zum Besten bestellt. Anders gesagt: Er oder sie hat Leichen im Keller.
Wir sprechen von Schattenregierungen, Schattenkabinetten, Schattenwirtschaft und Schattenbanken. Nicht selten bezeichnen mit dem Schatten verbundene Orte oder Begriffe Einflusssphären, in denen heimlich agiert wird, inoffiziell, intransparent, hinter verschlossenen Türen, eventuell auch nicht regelbasiert – zum Teil mit erheblichen Auswirkungen, etwa auf dem globalen Finanzmarkt.
Offen und sichtbar zu wirken, da man bei dem, was man tut, nichts zu verbergen hat, entspricht zweifelsohne weit eher dem allgemeinen Gesellschaftskonsens – jedenfalls nach dem Selbstverständnis liberaler Demokratien. Transparenz ist hier ein Grundwert gesellschaftspolitischer Identität und ihrer öffentlichen Debatten.
Wer auf der Schattenseite des Lebens steht, steht im Abseits, im Mangel, im Leid. Er oder sie kämpft – und vielleicht von jeher – mit sozialer Benachteiligung oder einer Aneinanderreihung von Schicksalsschlägen, hat die guten und gangbaren Wege verlassen und verfügt eben nicht über die entsprechenden Ressourcen und Fähigkeiten, um das eigene Leben erfolgreich zu steuern.
Ein Schatten fliegt über sein Gesicht, als er ihren Namen hört und sich an seine verlorene Liebe erinnert. Das Familienfest wurde von der Todesnachricht eines fernen Angehörigen überschattet. Und auch die Schatten der Vergangenheit sind nichts, was man freiwillig, gerne oder bewusst aus dem Erinnerungsfundus hervorholt, sondern es ist ein Ballast, eine Hypothek, eine elegische Hintergrundmusik, die man zum eigenen Schaden nicht abstellen kann, Ereignisse, die das weitere Leben nachhaltig prägen und ihm eine kaum zu überwindende Schwere verleihen, etwas, das aufgearbeitet und integriert werden muss, wenn man nicht will, dass es auch noch das restliche Leben verdüstert. Selten, so scheint es, ist der Schatten im allgemeinen Sprachgebrauch positiv assoziiert.
Da er in einer Polaritätsbeziehung zum Licht steht und ohne dieses ja nicht existieren würde, haftet dem Schatten immer etwas Minderwertiges an, etwas Dubioses, Dunkles im übertragenen Sinn. Im Schatten steht, wer das Licht scheut oder wer von anderen in eine untergeordnete Rolle gedrängt wurde. Da unser eigener Schatten – je nach Lichteinfall – überlebensgroß sein kann, fürchten wir ihn vielleicht wie nichts anderes sonst. Er ist ein Doppelgänger, ein Spiegelbild unserer selbst und damit ein Abbild der menschlichen Seele; das jedenfalls ist eine althergebrachte und kulturübergreifende Vorstellung.
In vielen Kosmologien werden die Schatten als Seelen der Toten verstanden, sinnfällig in ihrer körperlosen Ungreifbarkeit, und einige Sprachen bezeichnen Bild, Seele und Schatten mit ein- und demselben Wort. Schon in der nacheiszeitlichen Felsbildkunst gab es Schattenbilder in Form von silhouettenartigen Darstellungen von Menschen, die stark in die Länge gezogen waren wie Schatten bei tiefem Sonnenstand. Möglicherweise hatten diese Schattendarstellungen mit Jenseitsvorstellungen zu tun oder damit, dass die Abbildung der Menschen selbst sakrosankt war. Die einzige Möglichkeit, ihre Spur festzuhalten, also das heißt, sie zu bannen im Bild, wäre die Verewigung ihrer Schatten. Was bleibt, ist der Umriss des Menschen, nicht mehr, gezeichnet vom Lichtkegel menschlicher Existenz auf ihrer zeitlich bemessenen Wegstrecke. Im Angesicht des Universums oder der Erdzeitalter bleibt ja das menschliche Leben, auch der gesamten Menschheit, ein Gastspiel. Die Ewigkeit muss man dafür gar nicht bemühen.
Die Schattenseele ist im Volksglauben allgegenwärtig, sei es bei den Azteken oder in Polynesien, in der altiranischen Seelenlehre, im zentral- und nordasiatischen Volksglauben oder in schwarzafrikanischen Glaubensvorstellungen. Sie ist eine Freiseele, die nach dem physischen Tod weiterlebt. Vor diesem Hintergrund ist der Schatten eines Menschen häufig mit einem Tabu behaftet. Ihn zu verletzen, also in den Schatten eines Menschen zu treten, bedeutet in vielen Kulturen einen Angriff auf die Seele und damit auf den Menschen. Hinzu kommt die Angst, den eigenen Schatten dauerhaft zu verlieren. In Äquatornähe auf verschiedenen polynesischen Inseln ist es traditionell geboten, in der Mittagszeit das Haus nicht zu verlassen, weil dann die Sonne senkrecht am Himmel steht und keine Schatten wirft. Die Schattenseele entfaltet auch hier, gleichsam als Tiefendimension der Person mit transzendentem Verweis, ihre heimliche Wirkung.
Aber auch in unserem Kulturkreis gab es derartige Vorstellungen, in denen der Schatten etwas Bedrohliches ist. So wurde es etwa vermieden, vom Schatten gefürchteter Menschen getroffen zu werden, zum Beispiel von „Hexen“, um nicht in deren Gewalt zu gelangen. In der griechischen Mythologie wurden die Toten in der Unterwelt als Schatten bezeichnet. Der Hades, das Totenreich, ist das Reich der Schatten. Während bei den Germanen noch die Seele als Schatten bezeichnet wird, ist der Schatten im Christentum häufig ein Synonym für den Teufel.
Dass die Schattenbilder Trugbilder sind, die auf ein originales Urbild verweisen, diese Auffassung aus der antiken Philosophie wird in Europa konstitutiv. In Platons Höhlengleichnis hat die Vorstellung zeitlosen Ausdruck gefunden, die auch den Menschen als Wesen zweier Welten bestimmt. Was wir sehen und was wir für die Wirklichkeit halten, so erklärt Sokrates es im platonischen Dialog gleichnishaft seinen Gesprächspartnern, sind nur Abbilder auf einer Höhlenwand, vorbeiziehende Schatten von bewegten Gegenständen, die ein äußeres Feuer an die Wand projiziert. Würden wir, die wir, bildlich gesprochen, Gefangene in einer Höhle sind, gefesselt und mit dem Rücken zur Lichtquelle sitzend, von unseren Fesseln befreit und nach draußen gelangen, so würde uns dort der ungeheure Glanz des Sonnenlichts blenden. Dieses aber bezeichnet die geistige Welt, die Welt der Ideen, und damit die Urbilder aller Dinge.
In einem Stufenweg der Erkenntnis ist der menschlichen Seele eine Aufwärtsbewegung und Steigerung bis hin zu diesem lichtreichen Endziel beschieden. Ein solcher Aufstieg, so Sokrates, kann aber nur dem Philosophen gelingen. Alle anderen bleiben im Reich der Schatten. Es ist kein Totenreich, aber eine Sphäre der Unwahrheit und des Trugs in der unvollkommenen Welt der Erscheinungen. In der platonischen Lehre bezeichnen die Schatten die Phänomene, also die sichtbare Ding-Welt, doch in der Bedeutung einer schlechten Kopie. Immanuel Kant hat die Auffassung neuzeitlich kanonisiert, aber nicht einmal die Philosophen kommen bei ihm in den Genuss der Urbilder in der Welt der Ideen. Das „Ding an sich“ ist nicht erkennbar.
Solange das Licht für den Geist der Erkenntnis steht, bleibt seinem Gegenpol nur ein untergeordnetes Dasein. Dennoch kann er vielerlei sein, der Schatten: Dunkel und Dämmerung, eine visionäre Erscheinung, eine schemenhafte Gestalt, ein schlechtes Omen oder ein flüchtiger Gedanke, die häufig destruktive Wirkungskraft einer Person oder auch einer Macht, Sinnbild für Sorge, Kummer und Leid, für Unheil, für gesellschaftliches Abseits, für mangelnde Wahrnehmung und Anerkennung, für Intransparenz. Er bedeutet Tod oder bezeichnet Tote und Todgeweihte, die Freiseele, den Wiedergänger, mein anderes Ich, meine Zwillingsseele, das Unbewusste, ungeliebte Seelenanteile.
Wenn es nicht den Schatten eines Beweises gibt oder eines Verdachts, ist der Schatten ein feines, aber bedeutsames Anzeichen, eine Spur, die zu etwas führt, die auf etwas verweist – oder eben auch nicht. Er kann eine Sinnestäuschung sein, eine Schimäre, eine Welt hinter der Welt oder die Welt als Vorstellung. Dass er wohltuende Kühle spendet an heißen Sommertagen, ist, scheint es, seine einzige positive Assoziation.
Mit zunehmender Individualisierung seit der Frühen Neuzeit wird der Schatten vermehrt mit düsteren Gemütszuständen in Verbindung gebracht und in Beziehung gesetzt mit dem leiblichen und geistigen Tod – aber mit einer sublimen Durchlässigkeit in die Welt der Lebendigen. So ganz endgültig ist dieser Tod nicht, und er transportiert immer Botschaften hin und her, so dass die Lebendigen von ihm profitieren.
Die Renaissance liebte den Götterhimmel und so auch die Schattenwelten der alten Griechen, und auch die Klassik holte sie wieder hervor – zum Beispiel die Geschichte von Orpheus, dem thrakischen Sänger, der in die Schattenwelt des Hades hinabsteigt, um mit Hilfe seiner Sangeskunst die Furien zu besänftigen und seine geliebte Eurydike zurückzuholen in die Welt der Lebendigen. Die Bedingung ist nur: Er darf sich auf dem Rückweg nach oben nie umdrehen, auch nicht, wenn Eurydike ihn ruft.
Außer dem Hades, der Unterwelt, gibt es bei den Griechen aber als Ort der Toten auch noch das Elysium, also die Insel der Seligen, den Ort der „glücklichen Schatten“, an den die Helden entrückt werden, die von den Göttern geliebt wurden oder denen sie Unsterblichkeit schenkten. Die Schattenwelten der Alten – sie sind transparent und beherbergen sogar selige Geister, die keinen Tod kennen. Wenn die Götterlieblinge, auch die neuzeitlichen, mit dem Tod konfrontiert werden, mit Leid und Verstrickung in allen Niederungen des Lebens, das heißt mit dem Schattenreich, dann führt dies nie zu einem vorzeitigen Abbruch und Ende, sondern immer zu höherem Leben. Doch die Schattenwelt steht bei Goethe niemals für sich. Sie ist Teil der Dynamik der Polarität, der Dualität der Erscheinung als Gegensatz: Wir und die Gegenstände, Licht und Finsternis, Leib und Seele, zwei Seelen, Geist und Materie, Gott und die Welt, Sein und Sehnsucht. Und welche Gegensätze es sonst noch geben kann. Nach Goethes Weltanschauung einer „Dauer im Wechsel“ ist es das Lebensgesetz des steigerungsfähigen Menschen, die dunklen Erlebnisse als Steigerungsmöglichkeiten zu erfahren und aus der Spannung heraus, die die Steigerung möglich machen, sich selbst einem individuellen Gesetz nach auf Dauer zu erhalten. Ein Ende aber, das gibt es nicht. Nicht für Goethe. Leben ist immer Steigerung.
Die Aufklärung, also das Lichtzeitalter – im Französischen „siècle de lumière“, in der englischen Sprache „enlightenment“ -, wollte die Schattenbilder eigentlich gern vertreiben und überwinden wie alles Dunkle und Irrationale, das den Aufstieg zum Licht, zur Mündigkeit und zur geistigen Freiheit behindert. In der Romantik aber, die sich abwandte von dieser, so meinten sie, rationalistischen Einseitigkeit, fanden sie ausgiebig Raum. Es gibt wunderbare poetische Schattenbilder bei Heinrich Heine, bei Ludwig Uhland oder bei Hölderlin. Zum Sonnenschein gehört auch der Schatten der Erde samt seiner Abbilder mit Verweis auf die Seelenkräfte und auch die nächtlichen Anteile in der Menschennatur. Mit der anbrechenden frühen Moderne wurde der Schatten aufgewertet, so scheint es.
Licht und Schatten, sie gehören natürlich untrennbar zusammen. Beide ergeben erst das volle Bild. Dass das Leben nur der Schatten eines Traumes sei, schrieb bereits Pindar, und William Shakespeare, der Welt- und Menschenkenner mit seinem nahezu kosmischen Blick, bezog diese Worte auf den Ehrgeiz des Menschen. Also noch nicht einmal ein Traum ist das Leben, sondern nur der Schatten, also der Traum eines Traums? Eine doppelt gebrochene Simulation? Flüchtig wie Luft und Rauch, transitorisch, nicht greifbar, ein Schemen, unwirklich und damit nicht einmal wert, große und kleine Projekte darauf zu gründen? Sie sind ja so wenig von Dauer wie wir. Alles fließt, und was wir schaffen, auch mit vermeintlichem Ewigkeitswert, ist so vergänglich wie Spuren im Sand. Das Leben – ein Traum, und wir sind die Schatten, flüchtige Episoden im All.
Ein Schattenmärchen, das viele Nachahmer fand, ist Peter Schlemihls wundersame Geschichte, geschaffen 1813 von dem Deutschfranzosen Adelbert von Chamisso. Der Titelheld verkauft einem sonderbaren grauen Herrn, den er auf einem Gartenfest trifft, seinen Schatten, im Tausch für ein nie versiegendes Goldsäckel. Es ist ein Handel, auf dem ein Fluch liegt, wie dem Teufelsbündner umgehend klar wird, denn ein Mensch, der keinen Schatten wirft, wird von der Gesellschaft gemieden und ausgegrenzt; er ist geradezu ein Paria. So bleibt dem Schattenlosen nur ein Leben im Schutz der Nacht oder der sonnen- und lichtlosen Tage, und all sein Reichtum ist gar nichts wert.
Nach Jahresfrist taucht der graue Herr wieder auf und will sich auf die Rückgabe des Schattens nur einlassen, wenn Schlemihl ihm dafür, mit Blut unterschrieben, seine Seele verkauft. Darauf aber geht dieser nicht ein. Von seinem letzten Geld kauft er sich auf dem Trödelmarkt ein Paar alte Stiefel, die sich als Siebenmeilenstiefel entpuppen. Mit diesen durchwandert er in Riesenschritten die Welt, einsam in ihr bis zum Schluss, und betätigt sich als Naturforscher. Die Heilkraft der Natur muss ihm das kompensieren, was er als Mensch in der Welt der Menschen verlor.
In der Erzählung Der Schatten von Hans Christian Andersen, einem Kunstmärchen wie die Geschichte von Peter Schlemihl, löst sich der Schatten von seinem Herrn und führt statt seiner ein Eigenleben. Am Ende heiratet der Schatten des Protagonisten sogar eine Königstochter und der Schatten bringt seinen Urheber um.
Da ich selbst in einer Welt, die manchmal so schemenhaft ist, dass ich zuweilen gar nicht wissen kann, ob sie denn überhaupt existiert oder nicht vielmehr ein Traumgespinst ist – oder schlimmer noch: nur der Traum eines Traums –, auch von der eigenen Existenz keine Sicherheit habe, ist die einzige Form der Selbstvergewisserung, bei einstrahlendem Licht meinen Schatten zu sehen. Nur dann weiß ich eigentlich, dass ich bin. Mein Schatten sagt es mir: „Ja, du bist.“
Auch im Werk Friedrich Nietzsches finden sich faszinierende Schattenbilder, die seine taghelle Philosophie nicht verdunkeln, sondern vertiefen. Der Wanderer und sein Schatten, eine Aphorismensammlung, die 1880 auch als Einzelveröffentlichung erschien, wird von zwei Dialogen umrahmt, die der Wanderer in hoher Gebirgslandschaft mit seinem Schatten führt.
Es ist ein äußerst spezieller Gesprächspartner dieses einsamen Wanderers, an dem er aber doch nicht vorbeikommt. Ohne Frage: Er muss sich mit diesem anderen „Ich“ oder was immer es ist, konfrontieren, muss sich den Fragen stellen, die die Schattenwelt an ihn richtet – ist sie doch ebenso Teil des Ganzen wie das Licht, und zusammen produzieren beide alles, was lieb und wert ist: Schönheit des Gesichts, Deutlichkeit der Rede, Güte und Festigkeit des Charakters; alles, was dasteht, Konturen und Gegenwart hat. „Jener Schatten, welchen alle Dinge zeigen, wenn der Sonnenschein der Erkenntnis auf sie fällt, – jener Schatten bin ich auch.“, sagt der geheimnisvolle Gesprächspartner zu dem einsamen Wanderer. Der Schatten hat auch bei Nietzsche eine ambivalente Bedeutung. Er hat etwas Abgelebtes, das gleichsam nach Wiederkehr drängt. Von der Hadeswelt und der Schattenwerdung des Menschen schwebt etwas in ihm.
Dieser Wiedergänger tritt damit als Abglanz auf, als verblasstes und nicht mehr berechtigtes Leben, das seine Zeit als erkenntnisdienliches Hilfsmittel einmal gehabt hat, jedoch längst überwunden ist. Seine Schattenbilder sind die metaphysischen „Hinterwelten“, die Glaubenssätze und trügerischen Sicherheiten des Denkens, die der freie Geist, der Philosoph der Zukunft, notfalls mit Gewalt abschütteln muss. „An das Ideal“ richtet Nietzsche 1882 einmal das Wort an seinen Schatten, und es heißt: „Wen liebt ich so wie dich, geliebter Schatten!/ Ich zog dich an mich, in mich – und seitdem/ Ward ich beinahe zum Schatten, du zum Leibe.“
Doch Nietzsches Wendung und der Umgang mit seinem Schatten ist antiplatonisch. Während in Platons Höhlengleichnis die Schatten an der Höhlenwand, die die unkundigen Menschen an sich vorbeiziehen sehen und für das Wahre halten, nur die mängelbehafteten schlechten Kopien der lichten Welt sind mit ihren wirklichen Dingen, gibt es bei Nietzsche kein Originales, worauf die Schatten verweisen und an dem man seine Wahrnehmung ausrichten soll. Vielleicht sind sie Übergangsstadien, vielleicht verkörpern sie auch das Beste in uns, unser Streben, Trachten und Drängen, den Trieb zur Erkenntnis und die Ideen, die wir erhöhen zum „Ideal“. Doch sie sind Täuschungen. Der „freie Geist“ nutzt die Schatten zu seiner eigenen Loslösung.
Eingefleischte Ideen über Jahrhunderte, so akzentuiert es der Philosoph Friedrich Nietzsche, werfen lange und zähe Schatten, zum Beispiel das Christentum. Aber da sie uns folgen, unsere Schatten, müssen wir uns auch mit ihnen bereden. In seiner Entlarvungspsychologie, die sich in Menschliches, Allzumenschliches im Rahmen der verschiedenen Lebens- und Gesellschaftsbereiche entfaltet, stellt Nietzsche fest, dass alle Wertvorstellungen und Ideale ausnahmslos aus den so genannten niederen Seelenanteilen, Begierden und Trieben hervorgehen und die vermeintlich überzeitlichen Werte kreieren. Wo also haben die Schatten ihre geringste verderbliche Macht? Dort, wo die Sonne am höchsten steht und kurze Schatten wirft, die nicht den Blick trüben.
Im Schlussdialog berät sich der Wanderer ein weiteres Mal mit seinem Schatten. Er beginnt Händel mit ihm, da dieser ihm seine Dienste anbietet, woraufhin der Wanderer fürchtet, dass der Diener sich damit unvermutet zum Herrn machen könnte oder aber sein Sklave bliebe, jedoch als Verächter seines Herrn ein Leben der Erniedrigung neben ihm führte, was ihm, dem Freigeist, genauso zuwider wäre wie der Fall der Beherrschung. Nur in einer Form, meint der Wanderer, könne er einen „hündischen“ Schatten gebrauchen – und er verweist damit auf den „Kyniker“ Diogenes von Sinope, der die Bedürfnislosigkeit predigte, völlige Unabhängigkeit des Menschen von der Außenwelt und allen konventionellen Verhältnissen, den Philosophen als „enfant terrible“, autark und sich selbst genug, der den großen Alexander gebeten haben soll, ihm aus der Sonne zu gehen. „Gehe mir ein wenig aus der Sonne“, sagt der Schatten zum Wanderer, „es wird mir zu kalt.“ Der Wanderer fragt: „Was soll ich tun?“, und der Schatten antwortet: „Tritt unter diese Fichten und schaue dich nach den Bergen um; die Sonne sinkt.“, woraufhin der Wanderer nur noch fragen kann: „- Wo bist du? Wo bist du?“ Es ist der längste Tag im Jahr, und die Sonne erreicht ihren höchsten Stand zu dieser Stunde der Unterredung, in der der Schatten am Ende nicht mehr zu sehen ist.
Viele Masken trägt er, der Wanderer im Gebirge, in luftigen Höhen, auf unwegsamen und mühsamen Pfaden, an Schluchten und Abgründen. Und Diogenes, von dem es hieß, er habe mittags auf dem Markt von Athen mit der Laterne nach „Menschen“ gesucht, wird in abgewandelter Form noch einmal bei Nietzsche auftauchen: als „toller Mensch“ in der Fröhlichen Wissenschaft, der Gott mit der Laterne sucht, um dann zu erklären, dass Gott tot ist. Aber braucht nicht der Tiefsinn die Maske? Freie Geister, so scheint es, verfügen über ein endloses Arsenal schillernder Masken, um in jeden verborgenen Winkel mit ihrer Laterne hineinleuchten zu können und um die unausweichlichen Schatten, die auch sie werfen, in ihre Wanderschaft einzubeziehen. Soweit Nietzsche, der weltliche Pilger, der aber doch auch ein Gottsucher war. Gott war sein Schatten auf allen Wegen.
Im 20. Jahrhundert lag der Schatten dann auch auf der Couch. In der Tiefenpsychologie symbolisiert er die unbewussten Schichten der Persönlichkeit, die, häufig verdrängt, erst in einem komplexen Prozess der Selbstwerdung in positive Energien verwandelt und in das Erleben integriert werden können. Als Archetyp des kollektiven Unbewussten hat der Schatten in der Analytischen Psychologie Carl Gustav Jungs aber auch eine kollektive Bedeutung. Er manifestiert sich in der Erfahrung des Bösen als dunkler Hälfte der menschlichen Identität. In der Menschheitsgeschichte kennen wir die monströsesten Formen davon, vor denen letztlich auch die Psychologie kapituliert. C. G. Jung sieht den archetypischen Schatten – nicht zuletzt im Angesicht der Unfassbarkeit und Unerklärbarkeit des Grauens, das Menschen Menschen anzutun fähig sind – als ein genuin religiöses Problem. In der biblischen Überlieferung wäre der Antichrist, also die endzeitliche Gegenmacht Christi vor dessen Wiederkunft, wie sie etwa in den Johannesbriefen des Neuen Testaments auftritt, ein archetypischer Schatten Christi.
Keine Frage, wir müssen uns mit unserem Schatten bereden, uns ins Verhältnis setzen mit ihm – wie Faust mit Mephisto und Dr. Jekyll mit Mr. Hyde.
In der Mythologie, in den Heiligenlegenden des Christentums, in Märchen und Sagen, in den Epen des Mittelalters und ihren zahlreichen Nachdichtungen kämpfen wackere Ritter und Helden gegen Drachen und andere Ungetüme, um am Ende den Sieg über die dunklen Mächte für sich reklamieren zu können und als Lichtgestalt einzugehen. Bei den weiblichen Gegenspielern ist es die böse Stiefmutter, die habsüchtige Schwester, die Pechmarie, die falsche Königin oder die böse Hexe, die überwunden wird. Doch was überwunden, gebannt wird, nachdem es aus den tiefsten Regionen der Seele hervorgeholt wurde, ist vielleicht nur das Alter Ego, die dunkle Seite im eigenen Ich.
Sie geben dem Leben Tiefe, die Schatten, Konturen und Gegenwart. Und ohne Schatten gibt es kein Licht.