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Kulturhauptstadt
Matera, ein Ort zum "Begreifen"

Das süditalienische Matera ist für seine Höhlenwohnungen, die Sassi, berühmt. Dort haben die Menschen bis Mitte des 20. Jahrhunderts noch zusammen mit ihrem Vieh in Höhlen gelebt. Aus vielen Elendshöhlen wurden mittlerweile Restaurants, Hotels und Wohnhäuser. Doch Matera will seinen Charme bewahren.

Von Hildburg Heider |
    Sassi von Matera, Europaeische Kulturhauptstadt 2019, Italien, Basilikata, Matera Sassi di Matera, European Cultural Capital 2019, Italy, Basilikata, Matera BLWS476606 Copyright: xblickwinkel/K.xThomasx
    Die Sassi von Matera, der europäischen Kulturhauptstadt 2019 (imago stock&people)
    Vor vielen Jahren fuhr ich zum ersten Mal nach Süditalien, ins Blaue hinein. Ich wollte mit meinem Mann Sonne und Meer genießen. Daraus wurde nichts. Es schüttete wie aus Eimern. Am Wege entwurzelte Bäume. Ein Tornado, erfahren wir später. Wir weichen aus in die benachbarte Basilicata. Eine Autostunde brauchen wir von Bari bis Matera. Dahin wollte ich immer schon mal, seit ich Carlo Levis Roman "Christus kam nur bis Eboli" gelesen hatte. Levis Schwester kommt darin zu Wort:
    "Ich kam in Matera gegen elf Uhr vormittags an", erzählte sie mir. "Ich hatte gelesen, dass es eine malerische Stadt ist. Dass es dort merkwürdige Höhlenwohnungen gibt. Aber als ich aus dem modernen Bahnhof kam, suchte ich vergebens die Stadt. Ich stand auf einer Art öder Hochebene, ringsum kahle Hügelchen aus grauer, mit Geröll besäter Erde. In dieser Wüste erhoben sich hier und dort verstreut acht bis zehn große Marmorpaläste: die Quästur, die Präfektur die Post, das Gemeindehaus, die Carabinierikaserne und so weiter. Aber wo war die Stadt?"
    Auch wir kommen in der Oberstadt an. Ein paar Palazzi, Post, Geschäfte, Bars. Wir suchen die berühmte Höhlenstadt, die hier irgendwo sein muss. Da, ein Wegweiser: "Sassi". Rechts führt ein Sträßchen nach unten. Weiter geht es nur noch zu Fuß. Wir treten ein in eine andere Welt.
    Ein sandfarbenes Steingebirge, ein Gewirr von Dächern, Treppchen, Gassen, alles krumm und schräg. Darüber ein Himmel, grau wie der Stein. Wir steigen glitschige Stufen hinab und gelangen zur Kirche San Pietro Barisano. Da, ein Schild "Residence, Ristorante". Ein Hotel? Fünf Türen öffnen sich zu einem kleinen Platz.
    "Das waren verlassene Höhlen, kaum Spuren von menschlicher Behausung. Und ich habe mich in diesen Ort verliebt."
    Vincenzo De Bonis hat als einer der ersten diese Grotten in Appartements verwandelt und sie nach griechischen Musen benannt. Wir beziehen bei "Terpsichore" Quartier. Ein Fensterchen oberhalb der Eingangstür, eine Stufe hinunter, dann ein Gang, der sich zu einem Schlafraum weitet. Tuffstein-Wände ohne Ecken und Kanten
    "Ihr Zimmer war früher einmal die Küche und der Stall der Wohnung nebenan. Die Tür habe ich eingebaut. Am Kopfende Ihres Betts war die Futterkrippe. Und vorn, wo jetzt die Kochnische ist, befand sich auch damals die Küche."
    Eine der ältesten Städte der Welt
    Es riecht muffig. Ein elektrischer Entfeuchter arbeitet Tag und Nacht.
    "Das Problem ist die Luftzirkulation. Die Zimmer haben nur eine Tür, daher müssen wir sie künstlich belüften. Man hat ein Gefühl von Feuchtigkeit, von Kondenswasser, von geschlossenem Raum."
    Umso köstlicher die frische Morgenluft draußen auf der Terrasse. Gegenüber die grüne Hochebene der Murgia, tief unten die Schlucht der Gravina. An den Steilhang klammern sich Nussbäume und Agaven.
    "Der Falke fliegt in die Luft, wo wird er landen? Siehst du, wie er entschwindet?
    Wären da nicht die gelblichen Laternen an den Häuserecken - man könnte sich fühlen wie in biblischen Zeiten.
    "Matera ist eine der ältesten existierenden Städte der Welt.
    Der 83jährige Raffaello de Ruggieri ist Bürgermeister von Matera.
    "Es ist 8000 Jahre alt und hat überlebt, indem es immer wieder seine Geschichte erneuert hat."
    Matera so voller Widersprüche
    Griechen, Römer, Langobarden siedelten hier. Nach der Invasion von Sarazenen, Normannen und Franzosen. So ging es vielen Städten des Mittelmeerraums. Keine hat sich jedoch eine so archaische Struktur bewahrt wie Matera - die ideale Kulisse für Filmemacher! Zwei Kostüme aus Mel Gibsons Werk "Die Passion Christi" hängen im Büro des Bürgermeisters. Daneben das Seidenbanner mit dem Stadtwappen: auf leuchtend blauem Grund ein gekrönter weißer Ochse mit drei Weizenähren im Maul. Darunter der lateinische Spruch: "Bos lassus firmius figit pedem."
    "Ein müder Ochs tritt mit dem Fuße fester auf."
    "Der geduldige Ochse hat den Bauern täglich auf den Feldern begleitet. Er ist ein Symbol für Sturheit, Ausdauer und fleißiger Arbeit. Arbeit, die Reichtum schafft und der Stadt ein Überleben ermöglicht. Und somit Hoffnung für die Zukunft."
    "So hart wie der Ochse ist auch die Landschaft. Das beeinflusst den Charakter der Gesellschaft. Doch hinter dem Stein verbirgt sich das Meer, denn dieser Stein entstammt dem Meer. Durch ihre versteinerten Muscheln erzählt unsere Stadt auch von ihrer geologischen Evolution. Daher ist Matera so voller Widersprüche, Überraschungen und Anachronismen, so einzigartig, so unverwechselbar."
    Pfade schlängeln sich hinunter zum Gravina-Bach, der den Canyon durchschneidet. Außerhalb der Stadt nur Macchia und Wiesen. Es duftet nach Salbei und Rosmarin.
    "Die Murgia: rauh, nackt und roh wie sie ist, scheint armselig zu sein. Doch in Wirklichkeit ist sie sehr reich."
    Der Wanderführer Raffaele Stifano stammt aus Matera.
    "Da sind die Höhlen aus der Altsteinzeit; da sind die Dörfer aus der Jungsteinzeit – eine solche Anzahl von Siedlungen findet man nirgends auf der Welt. Und schließlich die Höhlenkirchen, mehr als 150. Einige sind unversehrt, einige wurden in einen Unterschlupf für die Hirten verwandelt und dienten als Schafstall. Man hat sie umgebaut und beschädigt, um zu überleben."
    In Sassis wohnten Hirten
    Raffaele Stifano führt uns zur Höhlenkirche San Falcione, die noch im vorigen Jahrhundert als Schafstall diente. Draußen lehnt ein Flechtzaun, doch der ist jüngeren Datums: Rest einer Filmkulisse des Ben Hur-Remakes von 2016. Die zweischiffige Kirche mit Fresken des Heiligen Nikolaus hat eine waagerechte Decke. Eine Mauer mit Heiligenbildern trennte das Volk vom Priester. Wie alle Details der Höhlenbauten ist auch diese Ikonostase aus dem Stein gehöhlt. Da muss man vor dem Graben eine klare Vorstellung haben, wie der Raum aussehen soll, denn hinterher lässt sich kaum etwas korrigieren.
    Gegenüber sehen wir die Höhlen von Matera: aus zwei Trichtern wachsen die beiden sogenannten Sassi empor bis zum Hügel, auf dem der Dom steht.
    "Sie sind so geformt, wie wir uns in der Schule Dantes "Hölle" vorgestellt haben." Dort wohnten die Bauern und Hirten, nicht etwa in Dörfern oder Gehöften.
    "Die Sassi wurden nicht von Päpsten oder Kaisern erbaut, sondern vom Volk. Sie sind ein Gemeinschaftswerk, geschaffen von Baumeistern über Tausende von Jahren mit dem Wissen und dem Können der einfachen Leute."
    Neues Leben in einem Sassi
    Bürgermeister de Ruggieri wohnt heute wie Raffaele Stifano in den Sassi.
    "Die Sassi kreisen im Blut. Man braucht hier auf nichts zu verzichten. Sondern man erhält so viel zurück! Du öffnest die Tür und siehst Sonne, Himmel, Erde, Tiere. Die moderne Welt - Autos, Chaos, Kummer und Stress - ist weit weg. Leben in den Sassi heißt die Uhr zurückzudrehen."
    "Ich sah in das Innere der Höhlen, die Licht und Luft nur durch die Türe empfangen."
    So zitiert Carlo Levi seine Schwester.
    "Auf dem Boden lagen Hunde, Schafe, Ziegen und Schweine. Im Allgemeinen verfügt jede Familie nur über eine solche Höhle, und darin schlafen alle zusammen: Männer, Frauen, Kinder und Tiere. So leben zwanzigtausend Menschen."
    Unter ihnen der Volksmusiker Eustachio de Cecca. Mit sechs half er bereits in den Sommerferien auf dem Feld. Mit 11 war seine Kindheit vorbei.
    "Wir schufteten. Und schufteten. Und der Herr stand dabei mit den Händen hinter dem Rücken und gab Befehle."
    Noch in der Dämmerung ging er mit den Eltern zur Arbeit. Ihr Morgengebet schallte über die Sassi: "Am Schluss dieses Lieds trieb man das Maultier zur Eile an, um schneller zur Arbeit zu kommen."
    Denkmalschutz und historisches Material
    Matera - ein windumtostes Geschachtele aus Höhlen, Häuschen, Treppen. Wie eine Theaterkulisse. Unter mir Dächer, Stufen, ausgeweidete Häuschen. Krumme Linien, schräg und rund. Neben den Höhlen gibt es gemauerte Häuschen mit geraden Wänden. Frisch verputzt und mit Ziegeln gedeckt. Die Dachgiebel immer in Stufenform, sie scheinen die Stege und Treppen bis zum Himmel fortzusetzen. Der Denkmalschutz verpflichtet die Bewohner, nur historische Materialien zu verwenden: die Mauern im Sandton zu verputzen, die Türen dunkelgrün zu streichen.
    Sechs bis acht Höhlen öffnen sich auf einen kleinen Hof. Sie bilden das Vicinato, eine Nachbarschaft über den Familienverbund hinaus. Alles fand unter den Augen der Nachbarn statt. Hilfsbereitschaft, Frömmigkeit, Sittsamkeit waren oberste Tugenden. Wer da ausscherte, hatte keine Überlebenschance.
    "Man ließ die Türen offen, es gab keine Diebe. Die Kleinkinder ließ man in der Obhut der Nachbarin, wenn die eigene Mutter aufs Feld musste."
    An der einzigen befahrbaren Straße der Sassi sehe ich ein Schild: "Das alte Matera aus Tuffstein", das Lebenswerk von Eustachio Rizzi: er hat die Sassi in Miniatur nachgebaut und mit bemalten Püppchen bevölkert. Da, dort hinten ist sein Elternhaus. Frauen hängen Wäsche auf. Daneben das beladene Maultier. Rizzi ist Jahrgang 1936. Bis Mitte der 50er Jahre lebte er mit den Eltern und sechs Geschwistern in einer 45 Quadratmeter großen Höhle.
    "Wir hatten einen kleinen Nebenraum, wo der Esel schlief. Das war ein Glück! Wir lebten in völliger Armut, liefen barfuß, in Hemd und kurzen Hosen. Wir aßen, was es so gab: Brot mit Wasser und etwas Öl. Oder Suppe. Heute läuft die Mama hinter dem Kind her mit dem Löffel in der Hand. Für sowas hatten wir keine Zeit.. Das Essen kam auf einen großen Teller, und daraus aßen alle. Also: da musste man zulangen. Wer nichts abkriegte, musste bis zum Abendessen warten."
    Entdeckung im Schafstall
    20 Jahre lang lebte Rizzi in den Sassi. An seinem Modell zeigt er die Stelle, wo der offene Abwasserkanal verlief und wo man morgens den Nachttopf leerte.
    Carlo Levis Roman "Christus kam nur bis Eboli" erschien 1945 und schlug wie eine Bombe ein. Auf einmal galt Matera als Schande der Nation, und die Bewohner mussen ihre Höhlen verlassen. Schwarze Löcher klafften jahrzehntelang in dem Steinlabyrinth. Die Politiker diskutierten zwei Lösungen:
    "Eine sah vor, die Sassi unter Zement zu begraben. Damit wäre ich einverstanden gewesen, falls sie selbst darin einbetoniert worden wären. Die zweite Idee war noch zynischer und böser, noch perverser: aus den Sassi das Pompeji der Bauernzivilisation zu machen. Also eine tote Stadt zu konservieren."
    Jugendliche Enthusiasten, unter ihnen der jetzige Bürgermeister, gründeten 1959 die Kulturinitiative "La Scaletta", um die Sassi zu retten. Sie forschten nach Dokumenten, Fotos, archäologischen Zeugnissen.
    Im Mai 1963 machte Raffaello de Ruggieri an der alten Via Appia in einem Schafstall eine sensationelle Entdeckung:
    "Unsere Augen waren noch geblendet von der gleißenden Sonne, als wir ins Dunkel der Grotte traten. Aber wir spürten, dass von den Wänden etwas Besonderes ausging. Als wir uns dann an die Dunkelheit gewöhnt hatten, traten 100 Heilige aus den Wänden."
    "Vor Wegwerftourismus bewahren"
    Biblische Bilder von Adam und Eva bis zu den Erzengeln, übersät mit flammendroten Cystus-Blüten. Die Entdecker nannten die Höhle "Krypta des Sündenfalls".
    30 Jahre später erhielt Matera das UNESCO-Siegel als Weltkulturerbe. Immer seltener sieht man Häuser ohne Dächer, verrammelte Türen, zerborstene Stufen. Aus vielen Elendshöhlen wurden elfenbeinfarbene Schmuckstücke: Restaurants, Hotels, Ateliers, Museen und Wohnhäuser für inzwischen 3000 Einwohner. Doch wie lässt sich der zerbrechliche Charme Materas bewahren? Der Bürgermeister von Matera hat eine Vision:
    Sprecher "Matera wird zum Bildungszentrum und nicht zum Vergnügungspark. Es wird wieder ein Ort für Kultur und Spiritualität. So hat diese Stadt eine Zukunft, wenn wir sie vor der Masseninvasion bewahren wollen, vor dem Wegwerftourismus, der nicht zu uns passt und nicht in unserem Interesse liegt. Matera ist kein Ort zum Besichtigen. Sondern zum Begreifen."