Barbara Schäfer: Heute begrüße ich die Literaturwissenschaftlerin, Publizistin und Essayistin Hannelore Schlaffer zum Gespräch in "Essay & Diskurs", am Mikrofon ist Barbara Schäfer. Vor einem Jahr kam ihr Essay "Die City. Straßenleben in der geplanten Stadt" heraus, im Verlag zu Klampen!. Der 170 Seiten lange Text wurde viel besprochen und viel gelobt, als essayistische, kulturkritische Ortsbegehung der Stadt, aber genauer der Innenstadt, der City, wie der Titel auch verrät. Sie beschreiben die City als einen Ort, der sich auf dem Areal der ehemaligen Innenstädte erstreckt und die ehemaligen städtischen Zeichen - Marktplatz, Kirche, Rathaus - unter den Fassaden möglichst großer Einkaufscenter begraben hat. Welche City hatten Sie im Kopf, als Sie die Idee zu diesem Buch geboren haben?
Hannelore Schlaffer: Eigentlich die Großstädte Deutschlands. Ich muss sagen, man kann natürlich nicht die Metropolen der Welt - Paris, New York - unter dieses Modell, das ich da beobachte, fassen, obwohl auch in den Großstädten zig solche City-Strukturen, würde ich mal sagen, herausentwickeln. Also, eigentlich ist es Stuttgart, Frankfurt, Düsseldorf, Hamburg, Köln, das sind so die Beispiele, wo am deutlichsten sich dieses Modell City entwickelt, und ich finde wirklich: unausweichlich und in jeder Stadt gleich.
Das Areal, wo alle U-Bahn-Linien zusammenlaufen
Schäfer: Sie sind ja selber bekennende Großstadtbewohnerin und auch langjährige Großstadtbeobachterin und Sie gehen mit der städtischen Kultur hart ins Gericht in diesem Essay. Insbesondere mit der City, so wie Sie sie eben eingegrenzt und beschrieben haben, mit der Stadt als Arbeitsplatz. Das ist einer der ersten Faktoren, der Ihnen wichtig ist. Sie schreiben, die City, das ist die Innenstadt als gut geführtes Unternehmen. Was spricht aus Ihrer Sicht gegen den zunehmenden Konsum in der Innenstadt, was nimmt er der Stadt, anstatt zu geben?
Schlaffer: Da müsste man erst mal sagen, was war früher die Stadt. Natürlich habe ich als Folie die traditionelle Innenstadt, die bestand aus natürlich auch Geschäften. Das ist ja klar, man ging ja in die Stadt, um dort einzukaufen. Aber in der ein großer Teil und nicht nur diese paar Tausend Wohnungen, wo es heute bei jedem Neubau pflichtgemäß heißt, wir machen auch Wohnungen, wo ein großer Teil der Menschen, der in der Innenstadt war, auch in der Innenstadt lebte, wo also diese Leute sich kannten, sich trafen, wo kleine Geschäfte waren, Bäcker, Metzger, Schuster und so weiter, was man eben brauchte, wo man ums Eck ging und einen bekannten Sitzplatz fand und so weiter. Also, das war ein Biotop, in dem eine Vielfalt von Leben stattfand. Und das, was ich jetzt der City, ich würde gar nicht sagen vorwerfen, sondern was ich einfach beobachte und melancholisch miterlebe, das ist, dass Einwohner aus dieser City schon mal vollkommen vertrieben sind. Der Grund und Boden in der City ist ja ungeheuer teuer und er muss ja auch genutzt werden und deshalb gibt es nur Bürohochhäuser von gewinnbringenden Firmen und entsprechende Einkaufszonen, in denen auch wieder Geld umgesetzt wird, also meistens in jeder City auch die gleichen, das kennt jeder jetzt in der Zwischenzeit, die Ketten H&M und New Yorker und Zara und so weiter. Also, es ist in jeder City das Gleiche, der Boden wird genutzt und das verarmt natürlich schon die City. Und was ich vielleicht wirklich eben kritisieren wollte: Dass es nicht mehr die Stadt der Leute ist, die in dieser Stadt wohnen. Dass also man versucht, um auch die Geschäfte, die im unteren Sockel der Bürohochhäuser sind, damit auch die gewinnträchtig sind, müssen ja sehr viele Leute in die Stadt hereingeführt werden. Und City ist für mich auch ein geografisches Areal. Nämlich exakt das, in dem alle U-Bahnen zusammenlaufen, alle U- und S-Bahnen. Und in diesen Bereich werden also aus dem Untergrund sozusagen eine Unmenge an Menschen herausgespuckt, die aber mit der Stadt eigentlich nichts zu tun haben. Die nicht die Städter sind, sondern die das Umland sind. Und das ist für eine Stadt oder für einen Städter, den eine Identität mit der Stadt verbindet, ist natürlich schon ein bisschen traurig, wenn lauter fremde Menschen so schnurstracks dann ja auch diese Stammstrecke der S-Bahn, die dann oben eine Stammstraße des Konsums ist, entlangtrotten und wieder verschwinden.
Schäfer: Und trotzdem sagen Sie, in den deutschen Städten, deren Citys Sie eben aufgezählt haben oder beschrieben haben, sei nicht alleine die Zerstörung des Zweiten Weltkriegs schuld an der Entwicklung, die wir genommen haben?
Schlaffer: Nein, das glaube ich nicht. Also, es ist ja erstens mal schon auch ziemlich früh in den 50er Jahren viel noch abgerissen worden in diesem Innenstadtareal, was gar nicht zerstört gewesen ist. Und was das wirklich Zerstörende ist, sind die Bodenpreise. Also, das ist nicht der Krieg gewesen. Natürlich können Sie sagen, in Paris zum Beispiel, das nicht in diesem Maße zerstört war, gibt es natürlich schon noch alte, sozusagen einen alten Besitz, wo auch die Bourgeoisie noch drin ist, die sehen Sie dann auch in der Stadt, wenn man nicht im Sommer reist, sondern im Winter, wie ich das immer tue. Dann sehen Sie auch in Paris noch in den Cafés die Pariser und Sie haben genau das Gespür, der wohnt da oben, in dieser Etage mit diesen wackeligen Fenstern und so. Also, vielleicht hat der Krieg nicht die Städte … nicht nur zerstört, sondern er hat uns auch ein Bewusstsein beschert von unentwegter Renovierung, Neuaufbau, Neugestaltung. Es wird ja jetzt - zumindest ist das in Stuttgart und eigentlich auch in Frankfurt und so -, Sie stolpern ja nur noch über Baustellen, die Städte werden ja quasi schon wieder zum zweiten Mal aufgebaut. Also, zum Teil werden diese Häuser eingerissen und angeblich ökonomischer, funktionaler wiederaufgebaut. Also, dieses Bewusstsein, man kann schnell aufbauen, ich glaube, das hat man durch den Wiederaufbau gelernt. Und das zerstört die Städte ebenso wie die Kriegszerstörung selbst.
"Truppale" Existenzen
Schäfer: Sie haben in Ihrem Buch einen Begriff geprägt, das ist der Begriff der truppalen Existenz. Sie haben eben gesagt, die Leute, die auf den Straßen herumgehen, sind Menschen aus dem Umland, die dort in Truppen unterwegs sind, die Cafés bevölkern. Wo unterscheiden Sie, wo ziehen Sie die Linie zwischen einem in der Stadt zu Hause seienden Bevölkerungsmitglied, das die Straße bevölkert, und einem, der aus dem Umland kommt? Wem gehört die Straße?
Schlaffer: Ja, heute gehört sie den Leuten aus dem Umland. Also, wir …
Schäfer: Ausschließlich?
Schlaffer: Ja. Wir sind nicht mehr im Mittelpunkt einer Stadt, wir sind im Mittelpunkt einer Region. Also nicht zufällig bildet sich dieser Begriff Metropolregion für diese großen Städte Deutschlands.
Schäfer: Zum Beispiel für Stuttgart.
Schlaffer: Stuttgart und Frankfurt und so. Und die werden ja jetzt auch nicht mehr definiert als Stadt, sondern von den Unternehmern, die sich in dieser City niederlassen, die interessieren sich nicht für die Stadt, sondern die interessieren sich für die Metropolregion. Das heißt, wie viele Leute wohnen in einem Radius, der in einem relativ schnellen Rhythmus, also, sagen wir mal von einer Stunde in diese Stadt hineingeführt werden kann? Das interessiert die. Und da, die Größe dieser Bevölkerungsschicht, weil die ja auch kauft, interessiert sie. Nicht das, was in der Stadt wohnt. Also, wenn ich pointiert rede, dann kann ich sagen, heute gilt für den Bewohner der Stadt, dass er nicht in der Stadt ist. Es gibt einen Ausdruck, der ist schon relativ alt, also, der ist schon aus der Zeit, wo es so anfing, dass diese City sich entwickelte, über Stuttgart: Stuttgart liegt am Bodensee. Das heißt also, die Leute, die Stuttgarter sind, sind nicht in Stuttgart. Darf ich eine Anekdote erzählen?
Schäfer: Natürlich!
Schlaffer: Zum Beispiel, also, Münchener haben schon mal die Eigenschaft, sie reden einen immer an. Das ist aber kein Anmachen oder so, sondern die Münchener schwätzen gern. Und da saß ich vor der Kulisse, also vor den Kammerspielen, hinter mir ein Münchener mit seinem Münchener "No, hoamt's …" und so. Und dann habe ich auch so ein bisschen nach hinten gesprochen. Und dann kam, am Rinnstein lief dann ein Hündchen entlang. Und da sagte der hinter mir: "Ah, guckn's, schaun's, da kommt der Hund vom Mooshammer!" Also, das heißt, in einer Stadt kennt man auch den Hund von dem und dem. Und eine Stadt muss Namen haben, wo man sagt, der und der ist da und da.
Schäfer: Namen wie Mooshammer auf der Maximilianstraße.
Schlaffer: Ja. Oder sagen wir mal, ich bin aus Würzburg und in Würzburg waren auch die Geschäftsleute Namen. "Da gehst du zum Seiser, und der Seiser läuft jeden Sonntag in die Kirche mit dem Gebetbuch, nur damit man …" Es braucht sozusagen Kristallisationspunkte des Bewusstseins: Ich gehöre zu diesem Kollektiv.
"Uns gefällt ja die Gleichheit nicht"
Schäfer: Aber das ist auch genau etwas, was Sie in dem Buch ja beklagen, die Entindividualisierung der Stadt. Das heißt, alle auf der Straße sind gleich, die Pendler aus dem Umland, die Konsumpendler aus dem Umland. Ist das nicht auch eine Errungenschaft, ist das nicht eine Errungenschaft, die angestrebt war, dass allen die städtische Straße gehört, dass allen die Stadt gehört?
Schlaffer: Wissen Sie, das ist so ambivalent. Erstens gefällt uns ja die Gleichheit nicht. Also, dass es überall gleich ist und dass Sie nirgends mehr hinfahren können, um irgendwas Apartes zu kaufen oder zu finden, das ist schon mal nicht schön. Wir hängen immer noch - vielleicht ist das altmodisch - am Begriff der Individualität, der Originalität, das sind natürlich Begriffe aus dem 19. Jahrhundert. Und von denen geht natürlich schon ein bisschen meine Perspektive aus. Andererseits können Sie sagen, Sie wenden da ja jetzt ein, das ist doch eigentlich gar nicht so schlimm: Der Vorteil ist, dass alle das Gleiche, die gleichen Rechte, die gleichen Möglichkeiten haben, dass es nicht mehr eine Oberschicht gibt, das, was ich sagte mit den Namen, war ja eigentlich die Stadt, ihre Oberschicht, und alle guckten nach oben. Dass es das nicht mehr gibt, sondern dass wir eine schöne, demokratische Gleichheit haben. Also, insofern wehre ich mich dann auch immer dagegen, dass das, was ich schreibe, kritisch ist, weil ich gar nicht wüsste, wie man es anders machen sollte. Weil es ja einen sehr demokratischen Tenor auch hat. Andererseits kann man natürlich wieder sagen: Die Leute, die da in die Stadt hereingelenkt werden und durch viele Schnäppchen man ihnen das Geld abzieht, sind natürlich auch ein bisschen übers Ohr gehauen! Also, ich weiß nicht, ob ich das kritisieren soll oder ob ich das positiv finden soll, ich weiß es wirklich nicht.
Schäfer: Aber Sie vermissen etwas. Und Sie haben schon sehr kritisch sich, oder sagen wir, sehr wenig optimistisch gezeigt über die Entwicklung der Innenstädte heute. Sie haben gesagt, Geist und Geld sei fortgezogen. Ich frage mich, ob das jetzt, ein Jahr nach dem Erscheinen Ihres Buches, noch genauso stimmt, denn es lassen sich zwei Bewegungen beobachten: Die eine ist ein deutlicher Zuzug in die Stadt, das Modell für junge Familien im Grünen ist vielleicht nicht out, aber es wird ein wenig aufgeweicht, wenn nicht sogar abgelöst von einer bürgerlichen Schicht, die wieder in die Städte zurückzieht. In allen Städten werden offen gelassene Gelände von der Post, von der Bahn inzwischen umgebaut zu Wohnquartieren mit sehr, sehr hohen qualitativen Ansprüchen, 4.000 Euro der Quadratmeter Minimum.
Schlaffer: Ja, da können Sie sich vorstellen, wie viele Leute da hinziehen!
Schäfer: Aber Bürger ziehen, eine bürgerliche Schicht zieht zurück in die Stadt. Was unterscheidet diese bürgerliche Schicht von der, die Sie sich dort wünschen?
Schlaffer: Ich glaube nicht, dass diese Schicht ein Verhältnis zu dem bekommt, was früher Stadt war. Ich glaube nicht zum Beispiel, dass diese Leute miteinander kommunizieren. Zur Stadt gehörte ja auch, dass die Leute also nicht nur jetzt sich am Namen, wie ich gerade sagte, orientierten, das ist unser großer Geschäftsmann, das ist unser Herr Pfarrer, das ist so, aber es gehörte ja auch Nachbarschaftlichkeit dazu. Und in diesen Appartements für 4.000 Euro.
Schäfer: Minimum.
Schlaffer: Ja, ist erstens mal eine ganz auserlesene Oberschicht drin. Und da muss ich gestehen, das verärgert mich auch ein bisschen. Denn diese Wohnungen in diesem Niveau sind für die Leute, die da unten arbeiten und die höchsten Posten haben. Dass die ein großes Interesse an der Stadt haben, das ist also ein Scheingerede. Und wenn dann sitzen die da oben und fahren direkt hinunter ins Parkhaus und setzen sich in ihr Auto und schon sind sie wieder beim nächsten Geschäft. Die werden sich nicht sagen, ich gehe jetzt mal da in die Altstadt und setze mich bequem und gemütlich und dann kommt mein Freund von da und der kommt von da und die wohnen da alle in der Nähe. Das ist doch vollkommen lächerlich, das zu meinen!
Schäfer: Ja, es gibt ja sogar das Phänomen der "Gated Communities", die sich in der Stadt wieder eine Dorfstruktur schaffen und niemanden reinlassen.
Schlaffer: Na ja, das ist amerikanisch, das haben wir in Deutschland noch nicht.
Schäfer: Ja, es kommt vielleicht. Aber es gibt definitiv wieder ein Interesse an der gesellschaftlichen Teilhabe, an der Mitbestimmung über die Stadtentwicklung. Es gab im Mai diesen Jahres den Volksentscheid über die Zukunft des Tempelhofer Feldes in Berlin, es gibt eine Kooperationsvereinbarung der Hansestadt Hamburg mit dem Verein Gängeviertel e.V., wo es darum geht, einen historischen Stadtteil vor Investorenzugriff zu schützen - nur mal zwei Beispiele aus einer größeren Menge, wo Bürger tatsächlich in den Städten wieder die politische Mitbestimmungsrolle fordern und übernehmen. Stimmt Sie das optimistisch?
Schlaffer: Das ist ja kein Problem dessen, was ich jetzt als Stadt mir denke, was ich im Kopf habe aus Lebenserfahrung, und auch nicht, was mit der Stadt gemacht wird. Sondern das ist ein generelles politisches Problem. Das gilt ja dann für ganz Deutschland, dass man sagt in der Politik, die Demokratie soll nicht nur eine Wahldemokratie sein, sondern eine Demokratie, die auch aktuell mitsprechen kann. Und das ist so ein bisschen eine Überlegung, wie kommt man von dem reinen Wahlmoment der Demokratie weg zur Bürgerbeteiligung. Und da ist natürlich die Stadt, weil sie dem Bürger am nächsten ist, das beste Experimentierfeld. Also, man kann jetzt mal ausprobieren, wie geht das denn, wenn der Bürger mitsprechen darf? Wie ist das denn, wenn er sagen darf, so und so planen wir das? Ehrlich gestanden, finde ich es nicht sehr großartig, was da dabei herauskommt und was der Bürger dabei machen darf.
"Ach, wollen Sie nicht sitzen wie beim Militär?"
Schäfer: Es scheint so zu sein, als gäbe es unter Stadtbewohnern der Großstädte sehr, sehr unterschiedliche Vorstellungen davon, was ihre Stadt jeweils sein soll, von der Gated Community bis zur Innenstadt mit ihren kulturellen Einrichtungen, Museen, Opern, Konzerthäusern, Theatern, wie Sie sie beschreiben. Sie beklagen aber in Ihrem Buch, dass ein Typus des Großstadtbewohners heute in der Regel verschwunden sei, nämlich der schreibende Intellektuelle im Café und der lesende Bürger am Nachbartisch, die Sie als zusammengehöriges Paar porträtieren. Der eine beobachtet und der andere liest.
Schlaffer: Ja, ist natürlich auch ein Ideal des 19., frühen 20. Jahrhunderts.
Schäfer: Genau. Ich wollte sagen: Vor genau 50 Jahren, 1964, erschien das Buch Die gemordete Stadt von Wolf Jobst Siedler, das ja sich gegen den Abriss von Gründerzeithäusern und die Fällung alter Bäume wendete und alle Resultate der modernen Stadtplanung verspottete. Und dann erschien ein Jahr später Alexander Mitscherlichs Die Unwirklichkeit unserer Städte, der vielleicht Ähnliches kritisierte, aber ganz anders damit umging und nicht den Altbau bewohnte, sondern sagte, er setzt jetzt ein Zeichen, er zieht in ein Hochhaus in Frankfurt-Höchst, damit auch diese Art von Stadtviertel tatsächlich eine Durchmischung von bürgerlicher und vielleicht etwas proletarischer Struktur hat. Sehen Sie, dass ein neuer Diskurs stattfindet?
Schlaffer: Also, es gibt sehr, sehr viel Aufmerksamkeit eigentlich auf das Thema Stadt. Und Stadtgestaltung und Leben in der Stadt. Also, ein Buch geht ja eigentlich meistens nur, wenn es irgendwie ein aktuelles Thema antippt, und von der Reaktion auf das Buch her gesehen muss ich sagen. Ich würde sagen, ich habe Glück gehabt, dass ich das, es war nichts als eine Beobachtung, weil ich eben unentwegt in Städten sitze, und weil ich Städte eigentlich einstmals geliebt habe und sie auch noch jetzt liebe, ich kann gar nicht anders als in die Stadt zu gehen. Aber es ist ein Zufall, dass das zusammengetroffen ist. Und ich würde sagen, der Beginn dieses Diskurses, der jetzt einsetzt, zeigt doch, dass in dieser Innenstadt - also, ich meine jetzt, in meiner City-Zone, nicht in den Quartieren -, dass da etwas passiert ist, was nicht allen gefällt. Also, dass da eine Art von Lebensstil auch oktroyiert wird. Auch den Leuten, die jetzt nicht mehr die Städter sind, sondern die aus der Region kommen, wird ein Lebensstil oktroyiert, der ihnen nicht so ganz gefällt. Also sagen wir mal zum Beispiel die Art, wie man in dieser Stadt sitzen muss: Diese Aufreihung eben wie in der Kantine, oder letzthin kam ich und guckte so missmutig auf diesen Stuhl, diesen Tisch und man muss sich so ausrichten.
Schäfer: Im Café?
Schlaffer: Ja, das war so ein Bistro, so eine Bar. Und da sagte die: Ach, wollen Sie nicht sitzen wie beim Militär? Also, so ist es ja eigentlich! Wir werden ja alle aufgereiht und eng aufeinandergesetzt, weil der Platz muss ja genutzt werden. Und dann hört man das, was die da nebendran sich erzählen, man muss frontal auf seinen Partner zureden, das ist eine Art von Ungemütlichkeit, dass ich nicht begreife, dass das die Leute nicht aufregt.
Schäfer: Welche Sitzanordnung wäre Ihnen die liebste?
Schlaffer: Na, die wie im Café. Man hat einen Stuhl, man kann ihn hin- und herschieben. Man kriegt auch Platz für seine Beine. Wenn Sie einen Stuhl haben, so einen Sesselstuhl, da brauchen Sie viel mehr Platz als wenn Sie auf so einem kleinen Stühlchen sitzen. In der Zwischenzeit ist ja noch besonders beliebt dieser Hochtisch mit dem hohen Stuhl, dann sind Sie noch kleiner. Wenn Sie auf dem Stuhl sitzen, haben Sie immerhin noch die Beine vorne auszustrecken und der Stuhl muss hin- und hergerutscht werden; auf diesem Hochstühlchen stehen Sie ja quasi. Das heißt, Sie brauchen nicht mehr als Ihren … Also, die Rundung Ihres Popos. Die Füße hängen runter … Also, es ist der kleinstmögliche Platz …
Schäfer: Sie nehmen keinen Raum ein.
Schlaffer: Nicht weil wir so gern schick sitzen wie an einer Bar wird das eingerichtet jetzt überall, sondern weil wir den aller-, aller-, allerkleinsten Platz brauchen! Und dann können Sie sich nicht mehr bewegen. Dann sitzen Sie nur noch da und haben den Mund auf- und zuzumachen und wegzugehen.
Schäfer: Vom Kaffeehaus, wo Sie am liebsten säßen mit einem etwas weit ausschwingenderen Stuhl, ist es ja nicht weit zur Literatur. Das ist mir jetzt noch eine ganz wichtige Fragestellung: Als Literaturwissenschaftlerin haben Sie bemängelt, dass kein literarischer Funke mehr der Stadt entströme, der City, so wie Sie sie beschrieben haben, die die Straße zum literarischen Akteur macht. Das heißt, die traditionelle Stadtbeschreibung geht damit unter. Gibt es noch Flaneure in der Gegenwartsliteratur?
Schlaffer: Nee.
Schäfer: Sie sehen keine?
Schlaffer: Nein, wirklich nicht. Es gibt den Stadtkrimi. Aber es ist nicht das, was früher die Beschreibung der Stadt war. Also, wir lieben ja eigentlich und verehren Paris so ungemein vor allen Städten, weil es eigentlich die am meisten erzählte Stadt ist, die es gibt. Also, von Hugo, Les Misérables, bis zu Zola ist Paris unentwegt durchgearbeitet worden literarisch. Und zum Beispiel Balzac begann seine Karriere als Zeitungsjournalist, der, wie man sagt, "physiologies" beschrieb, Physiologien, das heißt also Charaktere, die er auf der Straße gesehen hat. Das war damals in den Zeitungen, die ja neu aufkamen, ein beliebtes Genre. Es sind so in der Mitte des 19. Jahrhunderts jährlich etwa 40 Physiologien entstanden, also Physiologie des Rentiers bei Balzac, Physiologien der Ehe und so weiter. Und die entstehen also aus seiner Zeitungstätigkeit, indem er Figuren - den Sänger, den Studienrat … nee, Studienrat gab es noch nicht, aber den Lehrer.
Schäfer: Den "professeur".
Schlaffer: Den "professeur" und so weiter, den Rentier - in kleinen Szenen beschreibt, manchmal gab es da eine Illustrationen dazu und dann gab es auch das Original, das man gern beschrieb. Und das hat natürlich herausgefordert zur Beschreibung. Wenn Sie heute im Café sitzen, hat man es einigermaßen schwer, eine auffällige Figur zu sehen, wo man sich denkt, Mensch, was hat der denn eigentlich für eine Biografie!
Schäfer: Da sind wir wieder bei der Entindividualisierung.
Schlaffer: Ja.
Vom Flaneur zum Schnäppchenjäger
Schäfer: Also, der Begriff des Flaneurs, der ja aus dem Adel kam und dann den Müßiggänger in der Stadt, also eben in Paris beschrieb, der Begriff des Flaneurs ist durchaus noch da, der wird werbewirksam eingesetzt und bedeutet heute: kaufkräftig.
Schlaffer: Ja, ja. Also, man flaniert von Schnäppchen zu Schnäppchen.
Schäfer: Von Einkaufsmeile zu Einkaufsmeile.
Schlaffer: Ja, ja.
Schäfer: Dafür ist der Begriff. Und es gibt so ein Zitat bei Walter Benjamin, das fast vermuten lässt, er hätte das schon geahnt, weil er sagt: "Alles ist im Begriff, sich als Ware auf den Markt zu begeben." Und er als großer Kenner des Flanierens könnte das geahnt haben, dass es so kommt. Wir haben es vorhin gestreift, letzte Frage: München und Paris schließen Sie aus von Ihrer Kritik an der City, Sie haben München schon beschrieben als eine Stadt, in der immer noch ein innerstädtisches Stadtleben geführt wird. Was ist mit Berlin, der deutschen Hauptstadt? Arm und sexy und von Millionen von Touristen und Zugezogenen verehrt als die kulturelle Weltmetropole mit vielen Zentren, das muss man sagen. Wie passt das in Ihr essayistisches kulturkritisches Bild?
Schlaffer: Wenn ich City beschreibe, dann gibt es in Berlin natürlich mindestens zwei. Also, dieses Gebiet um den Potsdamer Platz und das Gebiet um den Alexanderplatz. Also, diese Stadt ist eigentlich zu groß, als dass man sagen könnte, man kann sie auf einem Punkt zusammenfassen, das ist klar. Und sie hat eine zu hohe gewichtige Tradition. Das ist ja auch zum Beispiel bei Paris so: Also, wenn ich das von der Stammstrecke her sage, geht das aus von einem neu angelegten U-Bahn-System. In Paris hat man, als man die Metro anlegte, ganz anders gedacht, da hat man kreisförmig gedacht. Deshalb ist Paris vollkommen kreisförmig die Metro angelegt, mit ein oder zwei Linien, die die dann schneiden und dann kann man durch Umsteigen überall hinkommen. Die U-Bahn ist bei uns sozusagen ein Polyp, der einen Leib hat, diesen Stammleib, und dann greifen die Arme ins Umland, also in die Region aus und ziehen die Leute rein. Das hat man in einer alten Stadt, mit der Anlage einer alten Untergrundbahn nicht, die sind nach anderen Gesichtspunkten eingerichtet, deshalb kann man sie nicht so zentrieren und so eindeutig beschreiben. In Berlin ist es dann halt so, also, erstens mal gibt es diese City-Struktur ganz deutlich am Potsdamer Platz, da habe ich ja das Beispiel mit diesen Eis essenden Managern, nicht mal Mittagessen, trifft sich die Region Deutschland … Also, Berlin ist das Zentrum nicht einer Region, sondern der Gesamtregion Deutschlands, also kommen dorthin auf diesen Potsdamer Platz in dieses Einkaufscenter viele, viele Bundesbürger. Und um zwölf ziehen dann aber wirklich die Herren in ihren dunkelgrauen, graubraunen, schwarzen Anzügen durch und essen dort sehr gut. Und ich finde, in diesem Potsdamer Platz gibt es sehr gute Bistros, also so Fast Food, weil diese Herren wollen ja gut essen. Und dann hinterher ist in Berlin üblich, dass dieser Manager da mit einem Eis durch diese Halle schleckt. In der Zwischenzeit habe ich festgestellt, das ist auch in Stuttgart üblich geworden. Also, zwölf essen sie, eins schlecken sie das Eis, laufen sie auch in Stuttgart in der Innenstadt herum.
Schäfer: Jahreszeitenunabhängig?
Schlaffer: Nein, natürlich im Sommer. Sie dürfen sich doch nicht verkühlen, die dürfen doch nicht irgendeinen Arbeitstag ausfallen lassen!
Schäfer: Das ist nicht die Innenstadt Ihrer Träume! Allerletzte Frage: Die Innenstadt Ihrer Träume, wie sieht die aus, Ihre persönliche Utopie?
Schlaffer: Na ja, die alte Innenstadt. Es gibt sie noch, könnte ich sagen: Das letzte schöne Innenstadterlebnis hatte ich in Vicenza vor der Basilika des Palladio. Da ist ein großes Café und eben noch relativ … Also, eine Terrasse, relativ altmodisch eingerichtet. Und da sitzen die Italiener. Und da merkt man genau, die kennen sich und die ziehen sich an, weil sie wissen, da unten kommt der und der und vor dem will ich gut ausschauen und so. Die reden dann auch miteinander. Und es ist … Man spürt das, es ist also wie ein Fingerspitzengefühl, dass man merkt, die Leute gehören daher. Und das finde ich eigentlich ganz schön. Oder sagen wir mal, Paris im Winter. Ich verreise eigentlich immer im Winter, weil man da keine Touristen hat. Und wenn Sie dann im Winter ins Deux Magots gehen, dann sitzen da ein ururalter Mann mit Millionen Falten im Gesicht und auch eine ziemlich alte Frau, wo man sagt, Paris soll die Stadt der Kosmetik sein, wie kann man denn mit so viel Kosmetik so verrunzelt werden? Aber die sehen so intelligent und lebendig und bewegt aus, und dann kommen da auch wieder Leute, die sie begrüßen und die sie … Man spürt, hier ist man unter der eigenen Bevölkerung, die Einwohner sind und eingesessen sind und die seit 40 Jahren an dieser Stelle leben und zu der gehören, und jetzt darf man ein bisschen teilnehmen daran. Also, das finde ich das Schöne.
Schäfer: Ganz herzlichen Dank! Hannelore Schlaffer, vor einem Jahr erschien ihr Essay Die City. Straßenleben in der geplanten Stadt, und wir haben sie gefragt, was sich seitdem entwickelt hat durch dieses Buch und mit diesem Buch und mit den Texten, die dieses Buch verehrt. Vielen herzlichen Dank!
Schlaffer: Ja, ich danke auch!
Die Literaturwissenschaftlerin Hannelore Schlaffer, geboren 1939, lebt als freie Schriftstellerin und Publizistin in Stuttgart.
Urheberrechtlicher Hinweis:
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig.