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Kultursymposium Weimar 2016 "teilen und tauschen"
Beim Lausen fängt die Freundschaft an

Teilen und Tauschen sind Grundlagen menschlicher Kulturpraktiken. Auch in der Welt der Tiere gehören Teilen und Tauschen zu den relevanten sozialen Verhaltensweisen. So gilt unter Schimpansen Fleisch für Sex: "Ein Weibchen ist eher bereit, sich mit einem Männchen zu paaren, das schon vorher mit ihr Fleisch geteilt hat", sagte der Verhaltensforscher Christophe Boesch.

Christophe Boesch im Gespräch mit Florian Fricke |
    Drei Schimpansen sitzen nebeneinander.
    Drei Schimpansen sitzen nebeneinander. (imago / Sience Photo Library)
    Auf dem "Kultursymposium Weimar", einer Veranstaltung des Goethe-Instituts, die vom 1. bis 3. Juni 2016 stattfand, traf Florian Fricke den in Leipzig lehrenden Verhaltensforscher Christophe Boesch zum Gespräch für Essay & Diskurs.
    Boesch erforscht das Verhalten und die Lebensumstände der Schimpansen im Nationalpark Taï mit dem Ziel, die Evolution des Menschen - insbesondere das Entstehen von dessen kognitiven und kulturellen Fähigkeiten - besser zu verstehen.

    Das vollständige Gespräch:
    Florian Fricke: Christophe Boesch, vielleicht erst einmal eine praktische Frage: Wie viele Monate im Jahr verbringen Sie mit Ihren Schimpansen in Afrika?
    Christophe Boesch: Zuerst sind das nicht meine Schimpansen. Ich arbeite mit unterschiedlichen wilden Populationen in Afrika und habe dort ständige Projekte mit Studenten und Mitarbeitern, die das ganze Jahr dort sind. Ich besuche sie in der Regel jetzt nur noch zweimal pro Jahr ungefähr für einen Monat.
    Fricke: Aber diese Schimpansenfamilien, die Sie beobachten, kennen Sie seit 35 Jahren, glaube ich?
    Boesch: In unserem Projekt im Taï-Nationalpark in der Elfenbeinküste haben wir vor 37 Jahren angefangen. Das Projekt war bis auf einige politische Probleme kontinuierlich.
    Fricke: Kann man denn bei Schimpansen altruistisches Verhalten beobachten? Wird da geteilt und in welcher Form?
    Der Leipziger Verhaltensforscher Christophe Boesch erforscht das Verhalten und die Lebensumstände der Schimpansen im Nationalpark Taï.
    Der Leipziger Verhaltensforscher Christophe Boesch erforscht das Verhalten und die Lebensumstände der Schimpansen im Nationalpark Taï. (MPI für evolutionäre Anthropologie, Leipzig)
    Boesch: Ob Teilen jetzt ein Verhalten ist, das unter Altruismus zu klassifizieren ist oder nicht, hängt davon ab, was man darunter versteht. Biologisch gesehen würde man meinen, Altruismus ist, wenn ich mich auf eine bestimmte Weise verhalte, bringt dieses Verhalten Vorteile für das andere Individuum, aber nur Kosten für mich. Evolutionär gesehen sollte man eigentlich Altruismus in der Natur nicht sehen, weil man kann nicht erklären, wie ein Tier ein Vorteil haben kann von einem Verhalten, das ihm nur schadet.
    Der Schaden kann klein sein. Wenn ich meine Orange mit Ihnen teile, habe ich eine Orange weniger, aber das ist nicht unbedingt das Ende der Welt für mich, aber wenn ich das ständig mache, dann wird es langsam ein bisschen zu einem Problem. Evolutionär gesehen soll es das eben nicht geben. Die einzige klare Antwort ist: Wenn ich die Orange mit Ihnen teile mit der Annahme, sie würden das nächste Mal auch eine Orange mit mir teilen, dann sind wir sozusagen gleich und dann hat es sich gelohnt. Und so kann man viele altruistische Verhalten erklären, wenn man einfach die Zeitskala vergrößert. Aber wenn etwas mir nur schadet, dann ist es ein Problem. Es gibt viele Leute, die meinen, solche typischen voll altruistischen Verhalten kann man nur beim Menschen sehen und bei Tieren nicht.
    In diesem Rahmen ist es sehr schwer zu beweisen, ob ein Verhalten in der Natur rein altruistisch ist, oder ob das Individuum das gemacht hat, weil es vermutet hat, im nächsten späteren Zeitraum wird das Individuum, dem ich jetzt geholfen habe, mir diese Leistung zurückgeben. Ist das jetzt reziproker Altruismus oder echter Altruismus?
    Ein Beispiel aber, wo eben dieser Altruismus sehr stark ist, ist die Adoption von Waisenkindern. Das haben wir in unserer Schimpansenpopulation in der Elfenbeinküste sehr gut gesehen. Leider ist die Sterblichkeit von Müttern relativ hoch in diesem Wald.
    Hälfte der Adoptionen wird von erwachsenen Männchen gemacht
    Fricke: Wieso?
    Boesch: Es gibt Räuber, Leoparden attackieren erwachsene Tiere, und es gibt leider auch Krankheiten. Und dann haben wir relativ viele Waisenkinder gesehen. Die Hälfte davon wird relativ schnell von Erwachsenen adoptiert. Und diese Adoption rettet das Leben dieser Kinder. Die Kinder sind von ihren Müttern die ersten fünf Jahre komplett abhängig. Wenn die Mutter stirbt, bevor sie fünf Jahre sind, haben sie eigentlich ohne Adoption keine Überlebenschance.
    Was uns sehr stark überrascht hat, ist, dass diese Adoption nicht nur von älteren Geschwistern gemacht wird, sondern auch von erwachsenen Weibchen. Bei Schimpansen sind es die Weibchen, die zwischen den Gruppen wandern, wenn sie erwachsen werden. Wir nehmen an, dass viele dieser Weibchen nicht miteinander verwandt sind. Das heißt, wenn ein erwachsenes Weibchen ein Kind adoptiert, hat es wahrscheinlich wenig Verwandtschaftsgrad mit diesem Kind. Dann ist das ein altruistisches Verhalten.
    Und noch überraschender war, dass die Hälfte dieser Adoptionen von erwachsenen Männchen gemacht werden. Aus einem rein egoistischen Gesichtspunkt macht es für ein Männchen keinen Sinn, ein Kind zu adoptieren, wenn er nicht selbst der Vater ist.
    Fricke: Nur zur Erklärung: Es müssen Vollwaisen sein, also die Eltern müssen beide tot sein?
    Boesch: Nein, die Frage ist richtig, Entschuldigung, aber bei Schimpansen gibt es kein Paar von Eltern, die immer zusammen bleiben. Die Familie besteht aus einer Mutter und ihren Kindern. In der Regel, wenn alles gut geht, hat sei drei Kinder, also sie, Adoleszent, Juvenil und das Kleinkind.
    Fricke: Also die Väter haben nie eine Bindung zu ihren Kindern?
    Boesch: Die Väter zeigen ein sehr subtiles Verhalten gegenüber ihrem eigenen Kind oder den Müttern ihrer Kinder. Also sie scheinen schon auf irgendeine Weise zu wissen, dass sie der Vater von diesem Kind sind. Sie sind weniger aggressiv zur Mutter am Anfang, sie spielen auch relativ häufiger mit ihren eigenen Kindern als mit anderen Kindern gleichen Alters. Man sieht schon ein gewisses Verhalten. Aber es ist schon richtig zu sagen, dass erwachsene Männchen hauptsächlich daran interessiert sind, neue Weibchen zu gewinnen, um sich weiter fortzupflanzen, als in frühere Kinder zu investieren. So ist die Adoption in diesem Sinne ein totaler Widerspruch zur reproduktiven Strategie eines Schimpansenmännchens.
    Wir konnten die genetische Verwandtschaft einiger dieser Waisenkinder untersuchen, und nur in einem Fall konnten wir beweisen, dass das adoptierende Männchen auch der Vater war. Alle anderen waren nicht verwandt mit diesem Kind und haben es trotzdem adoptiert. Adoption ist auch sehr kostspielig für das Männchen. Er trägt das Kind, er teilt mit ihm Nahrung, er unterstützt es in Konflikten und teilt auch sein Nachtnest zum Schlafen.
    Fricke: Da schwingt ja auch viel Mitleid mit. Man sieht ein Kind, ein elternloses Kind und kann nicht anders, als ihm zu helfen.
    Boesch: Jetzt fangen wir an, ein bisschen zu philosophieren. Das Problem ist, in der Wissenschaft werden wir sehr stark attackiert von anderen Wissenschaftlern, wir, damit meine ich die Primatologen, weil wir diese Tendenz haben, menschliche Begriffe für andere Lebewesen zu benutzen. Es ist wahr, dieser Anthropomorphismus ist gefährlich, weil man beweisen muss, dass es überhaupt so ist, nicht nur einfach, weil es uns so scheint, dass es so ist, dass es wirklich der Fall ist. So kann ich nicht jetzt behaupten, das dieses erwachsene Männchen, das das Kind adoptiert, das aus Mitleid macht, oder weil es ihm bewusst ist, dass, wenn keiner ihm hilft, dass es dann stirbt, und reagiert darauf. Aber es ist schon klar, wie Sie sagen: Es sieht aber sehr ähnlich aus. Man stellt schon die Frage: Was denkt er, warum macht er das?
    "So ein Waisenkind wird sofort zum Prügelknaben in einer Gruppe"
    Fricke: Wie verhält sich denn das Kind? Klagt es, schreit es? Es sendet ja wahrscheinlich Zeichen aus, dass es in Not ist.
    Boesch: Das ist kompliziert und das ist auch wieder eine Gefahr von Anthropomorphisation da. Wenn ein Kind in diesem jungen Alter seine Mutter verliert, sieht man die Veränderung vom Kind sehr schnell. Mit einem menschlichen Begriff würden wir sagen, der ist total deprimiert. Er hat keine Lust mehr zu essen, oft folgt er auch kaum der Gruppe der anderen Schimpansen. Und dann entsteht auf irgendeine Weise die Beziehung zwischen einem Erwachsenen und diesem Waisenkind. Dieses Waisenkind erhofft sich anfangs wahrscheinlich irgendwas von dieser komischen Beziehung, und dann bleibt es einfach ständig dabei. Aber als Waisenkind ist er ohne Schutz. Die Mutter ist nicht mehr da. Die Mutter spielt eine ständige Schutzrolle in so einer Gruppe. Sie können sich das auf einem Spielplatz hier in Deutschland anschauen: Wenn ein Kleiner ein Problem mit einem anderen Kleinen hat, dann schreit das Baby sofort und die Mutter kommt. So ist es auch bei Schimpansen genau gleich und die Mutter kommt zur Unterstützung, und diese Unterstützung fehlt jetzt. Und so ein Waisenkind wird sofort zum Prügelknaben in einer Gruppe, weil die andern Kinder das ausnutzen.
    Wenn man so ein Kind adoptiert, muss man es auch unterstützen. Und das ist schon auch eine Investition. Ein Teil der Adoptionen wurde auch von Männchen gemacht, die eigentlich sozial nicht sicher genug waren, um eben diese Zeit darein zu investieren. Das soziale Leben der Erwachsenen geht weiter, sie haben untereinander eine Konkurrenz um die höchste Rangposition. Und wenn einer merkt, dass plötzlich sein direkter Konkurrent nun viel mit diesem Kind zu tun hat, dann kann er diese Gelegenheit benutzen. Dann wird er von seinem Rivalen provoziert. Und oft attackiert der Rivale dann das Waisenkind.
    Überraschend ist es zu sehen, dass wir sogar einige Adoptionen von dem ranghöchsten Männchen hatten, das eigentlich für die Kohäsion, Verteidigung der ganzen Gruppe verantwortlich ist. Aber sie fühlen sich vielleicht zum Teil so sicher, dass sie sich diese zusätzliche Investition auch leisten können.
    Nahrungsteilen als soziale Währung
    Fricke: Und ansonsten ist jede Gruppe sehr stark hierarchisch geordnet?
    Boesch: Ja, die Hierarchie spielt eine große Rolle und ist wichtig für sehr viele Aspekte. Die Wissenschaftler haben immer gemeint, dass sie bei Männchen eine wichtigere Rolle spielt als bei Weibchen, das ist sehr sichtbar, speziell bei Schimpansen. Schimpansen haben ein sehr extrovertiertes Verhalten, sind sehr laut, sehr aktiv. Sie vermeiden diese ständige Konfrontation durch ganz klare submissive Signale, durch Rufe und Verhalten. Das erlaubt dieses ganz friedliche Zusammensein zwischen hoch konkurrierenden Männchen und das geht eben durch dieses ständige Grüßen.
    Bei vielen Tierarten wird es jetzt klar, wenn man das genau und oft auch über längere Zeiträume anschaut, dass die Dominanz bei Weibchen auch eine Rolle spielt. Bei Weibchen ist es sehr wichtig einen Zugang zu guten Nahrungsquellen zu haben. Und oft kann man sehen, dass die Weibchen, wenn es um Futter geht, auch eine ganz klare Dominanz haben. Entweder um einen temporären guten Stehplatz unter einem Baum mit Früchten zu haben zum essen oder um sich ein reiches, gutes Revier als sein eigenes zu sichern.
    Fricke: Und was haben Sie beim Essenteilen beobachtet? Spielt da die Hierarchie nicht auch eine Rolle? Würde ein unterrangiges Männchen ein höherrangiges nicht zufriedenstellen wollen, indem es ihm zum Beispiel eine Orange anbietet?
    Boesch: Das Spannende beim Nahrungsteilen ist, dass die Schimpansen das auch als soziale Währung benützen. Ein typisches Beispiel, das sich bei unserer Schimpansenpopulation gezeigt hat, ist, dass ein Weibchen eher dazu bereit ist, sich mit einem Männchen zu paaren, das schon vorher mit ihr Fleisch geteilt hat - Fleisch für Sex sozusagen. Wenn ich als Männchen ein guter Jäger bin und mir ein gutes Stück Fleisch sichern kann, kann ich das Teilen meines Fleischstücks strategisch einsetzen in dem Sinne, dass ich auch vorausplanen, vorausdenken kann, dass dieses Weibchen bald in eine sexuell aktive Phase kommt und ich mich gerne mit ihr paaren würde - deswegen gebe ich ihr mehr Fleisch.
    Fleisch kann man auch mit Männchen teilen, aber dann würde ich das nicht mit irgendeinem Männchen teilen, sondern mit einem, dass mich in einem Konflikt unterstützen wird. Wir haben also auf der einen Seite Fleisch für Sex, auf der anderen Fleisch für soziale Unterstützung. Dieses Tauschen zwischen Individuen kann man sehr schön verfolgen, es wird zwischen oder innerhalb der Geschlechter gemacht.
    Fricke: Also hat doch alles seinen Wert?
    Boesch: Wenn man das erste Mal in eine Schimpansengruppe kommt - ich kann mich erinnern, als ich angefangen habe, da gab es 80 Schimpansen in dieser Gruppe. Da waren neun erwachsene Männchen, und wie gesagt, die sind extrovertiert. Die schreien, sie machen Display - es gibt Perioden in diesem Wald, da geht alles durcheinander. Aber wenn man dann wirklich die Zeit genutzt hat, um alle Tiere zu identifizieren und um ihr Verhalten zu verstehen - warum rennt ein Tier von dem nach dort, warum schreit einer. Wenn man diese Dynamik, die da passiert, ein bisschen versteht, warum der eine zum anderen geht und dieses Grußverhalten macht - dann gibt es plötzlich Ordnung in dem, was wie Chaos ausgesehen hat.
    Und wenn man das alles kennt, sieht man, die rennen überhaupt nicht zufällig gegeneinander, das sind alles soziale Taktiken, Sozialpolitik, hat Frans de Waal gesagt. Die Tiere kennen sich perfekt, sie kennen ihre Stimme und sie haben eine Geschichte zusammen. Man hat vielleicht am Anfang gedacht, dass die Tiere das ganz anders machen als wir, wo alles Taktik und Politik ist. Aber je länger wir sie beobachten und auch eine gewisse Intuition erlangen, was in so einer sozialen Gruppe passiert, erkennt man viel mehr Politik, die da stattfindet.
    Die älteren Tiere sind "sehr akzeptiert"
    Fricke: Gibt es so etwas wie Altenpflege? Wie wird mit den alten Tieren umgegangen?
    Boesch: Altenpflege würde ich nicht sagen, aber was interessant ist: Die älteren Tiere sind auch die Individuen in einer Gruppe, die am meisten Erfahrung haben, und das ist auch wieder ein Aspekt, wo wir die Tiere total unterschätzt haben. Wenn wir jetzt eine Pavian- oder Schimpansengruppe für zwei Jahre beobachten und unsere Doktorarbeit darüber schreiben, dann hat man ein Bild über diese zwei Jahre. Aber das Leben dieser Tiere ist viel länger, 20 bis 50 oder mehr Jahre. Doch die älteren Tiere haben dann eine unglaublich lange Erfahrung hinter sich. Man konnte zum Beispiel bei einigen Tieren, auch bei Elefanten und Pavianen, Folgendes beobachten: Durch den Klimawandel gibt es jetzt Dürrephasen, die unglaublich lang dauern. Und in dem angestammten Revier der Tiere gibt es nichts mehr zu essen, nichts mehr zu trinken. Und plötzlich spielen in solch einer Situation die älteren Tiere einer Gruppe eine unglaublich große Rolle, weil sie sich möglicherweise an ähnliche Phasen erinnern und ihre Gruppe dorthin führen können, wo man normalerweise nicht hingeht, aber wo es in solch extremen Fällen noch Nahrung oder Wasser gibt. Und das hat man eben beobachtet. Und das weiß man nur, weil man die Paviane 40 Jahre beobachtet hat. Und so hat man gemerkt, dass es Umstände gibt, in denen den Älteren eine unglaublich wichtige Rolle zukommt. Und das erklärt vielleicht teilweise, warum man keine spezielle Aggression gegen ältere Tiere sieht.
    Die Älteren verlieren natürlich ihren sozialen Rang und steigen in der sozialen Hierarchie ab, aber sie sind eigentlich sehr akzeptiert. Und weil sie den ganzen Stress um den sozialen Kampf und die soziale Position nicht mehr haben, spielen sie auch viel mit den Kindern. Das hat man auch gedacht, dass das Spielen von Erwachsenen nur bei Menschen vorkommt und nicht bei Tieren, aber das stimmt überhaupt nicht. Die älteren Erwachsenen haben diese ganzen Konflikte nicht mehr, die sie ständig beherrschen müssen, sie haben dann Zeit. Und wenn man Zeit hat, dann spielt man.
    Fricke: Wie lernen die Kinder, miteinander umzugehen? Gibt es eine Art Kindergarten?
    Boesch: Ja, Crash nennt man das offiziell, so einen Kindergarten. Das hat man in mehreren Schimpansenpopulationen gesehen. Diese Kinder sind wie ihre Eltern sehr aktiv. Es gibt Kinder, die können sechs bis acht Stunden pro Tag spielen und fast ununterbrochen. Das heißt, wenn man alleine ist mit dem Kind, dann muss die Mutter mitspielen, sonst wird es sehr laut, was man nicht unbedingt in einem Wald haben möchte. Dann hat man beobachtet, dass die Weibchen mit Kindern ähnlichen Alters viel häufiger als erwartet zusammenbleiben. Sie bilden einen natürlichen Kindergarten sozusagen, und wenn die kleinen Kinder miteinander spielen, dann kann die Mutter ruhen oder essen. Und so gewinnt sie, indem sie sich mit gleichaltrigen Kindern und Müttern zusammenschließt.
    Hierarchiestruktur basiert auf gewissen Kampffähigkeiten und sozialer Intelligenz
    Fricke: Gibt es sonst Anhaltspunkte, wie Primaten, Schimpansen Vertrauen gewinnen außerhalb dieser Hierarchiestruktur?
    Boesch: Die Hierarchiestruktur basiert auf gewissen Kampffähigkeiten, einer gewissen sozialen Intelligenz, wie man den anderen manipuliert. Ich habe gesagt, dass diese Hierarchie eigentlich sehr linear ist, aber man gleichzeitig bei Schimpansen sieht, dass auch sehr viele Koalitionen entstehen zwischen den Männchen.
    Fricke: Freundschaften?
    Boesch: Freundschaften gehen noch eine Stufe weiter, wir kommen noch dazu. Wenn sich zwei Männchen zusammentun, die beide rangniedriger sind als ein Drittes, und gegen den Ranghöchsten vorgehen, dann sind sie überlegen. Durch diese Koalitionsfähigkeiten kann man einen Rang erreichen, den man allein als Individuum nicht erreichen kann. Diese Koalition hat aber nur Vorteile, wenn sie auch zuverlässig ist. Der Ranghöchste merkt sofort, wenn es nicht zuverlässig ist, und wird dann einen aus der Koalition attackieren und ihm überlegen sein, wenn der andere nicht reagiert. Wenn aber die Koalition systematisch zusammen funktioniert, wenn eben die Zuverlässigkeit da ist, dann ist diese Koalition sehr wirksam. Und das ist schon eine Art Vertrauen, weil man weiß, der andere kommt mit, und dann muss man diese Beziehung auch pflegen.
    Beim Lausen fängt die Freundschaft an
    Fricke: Und wie?
    Boesch: Das wichtigste Verhalten, das man bei Schimpansen beobachtet hat, ist das Lausen, die Haarpflege beim anderen Individuum, womit die Schimpansen Stunden verbringen. Es hat den direkten Vorteil, dass man die Haut säubert von Parasiten wie Läusen, Zecken und solchen Tieren, aber sie verbringen sicher viel mehr Zeit als notwendig damit. Es ist auch wieder eine soziale Komponente, und ein vertrauensvoller Koalitionspartner ist jemand, den man auch oft laust. Dazu kommt, dass man die Koalition auch pflegt, indem man Futter teilt. Wie ich gesagt habe, wenn ich die Wahl habe, dann teile ich mein Fleisch eher mit einem anderen Männchen, das mein Koalitionspartner ist, als mit einem anderen. So bilden sich diese Vertrauenspaare, und wenn wir beobachten, dass sie sich unterstützen, dass sie Nahrung miteinander teilen, dass sie zusammen lausen und überhaupt viel zusammen sind, dann fangen wir an, über Freundschaften zu sprechen, weil diese Vertrauensbasis von beiden Seiten gepflegt wird.
    Vier Schimpansen im Pongoland im Zoologischen Garten in Leipzig.
    Das Lausen ist das wichtigste Verhalten, das man bei Schimpansen beobachtet hat. (imago / Meike Engels)
    Fricke: Und kann man so etwas wie Liebe beobachten außerhalb des Paarens?
    Boesch: Das ist jetzt eine unglaublich anthropomorphige Frage.
    Fricke: Ich sage mal Zärtlichkeiten. Das Lausen kann schon sehr zärtliche Formen annehmen, oder? Also Körperkontakt, der sehr wichtig ist.
    Boesch: Ja, lausen kann man an unterschiedlichen Orten vom Körper. Wenn man mich an der Mitte vom Rücken laust, dann ist das eigentlich okay und am Arm, aber gerade an meine Augen oder Geschlechtsteile zum Beispiel würde ich nicht jeden heranlassen, das ist auch etwas, was man bei Tieren beobachtet.
    Liebe - ich möchte den Vergleich nicht scheuen. Man muss bloß aufpassen, was man da sagt, weil man möchte nicht unbedingt anthropomorphig sein. Aber wenn ich sehe, dass ein Männchen, und ich habe ein bestimmtes vor Augen, ständig mit einem bestimmten Weibchen bleibt, obwohl er nicht der Ranghöchste und dieses Weibchen sehr beliebt ist, und er nicht oft zum Paaren kommt, aber er bleibt bei ihr, unterstützt sie und teilt Nahrung mit ihr, dann kann man schon fragen, ist da nicht etwas Spezielles dabei. Weil das habe ich über Jahre beobachtet, dass eine Vorliebe für dieses Weibchen da ist, und man kann sich dann schon Fragen stellen.
    Fricke: Und wie groß ist die Hilfsbereitschaft ausgeprägt, wenn ein Tier in Not gerät?
    Boesch: Da haben wir auch unglaubliches Verhalten gesehen. Es gab einmal eine Situation, in der ein erwachsenes Weibchen, die nur einen Arm hatte, das heißt, sie war physisch stark behindert.
    Fricke: Das heißt ja viel für einen Schimpansen.
    Boesch: Ja, klar. Sie hat gut gelebt und auch Kinder gehabt, aber das ist trotzdem ein sehr starkes Handicap. Sie wurde gefangen genommen von drei erwachsenen Männchen von einer Nachbargruppe. Es gab ein Riesengeschrei. Eine meiner Studentinnen war mit einem einzelnen Männchen von der Gruppe des behinderten Weibchens. Er hat diese Schreie gehört und ohne Zögern, ohne einen Laut ist er allein in Richtung dieser Schreie losgerannt. Als er ihnen nahe kam, hat er auch geschrien und ist weiter, bis es visuellen Kontakt gab.
    Klar, die Anderen waren überrascht, hatten auch keine Ahnung, weil in diesem dichten Wald sieht man nicht weit, keine Ahnung, ob jetzt zehn Männchen oder ein Männchen kommt. Sie haben sich also vorbereitet auf diese Konfrontation, und den Moment hat das Weibchen genützt und ist geflohen. Das Männchen ist auch weg, klar, er war allein, aber er hat alleine ein sehr hohes Risiko genommen, ohne Zögern, und das hat möglicherweise dieses Weibchen vor einigen schweren Verletzungen geschützt.
    Fricke: Wird denn auch die Trauer geteilt, wenn ein Tier stirbt?
    Boesch: Trauer ist auch wieder so ein Wort. Trauern Elefanten oder Schimpansen, das weiß ich jetzt nicht. Was wir wissen ist, dass wir sehen bei Elefanten und bei Schimpansen auch ein ganz einzigartiges Verhalten gegenüber einem toten Individuum, was man sonst nicht sieht. Bei Schimpansen ist das das Gleiche. Wenn ein erwachsenes Männchen von einem Leopard attackiert wird - erstens kommt sofort die Gruppe zur Unterstützung, um den Leoparden zu verjagen, aber wenn sie zu spät kommen oder wenn der Leopard seinen Überraschungsangriff erfolgreich geführt hat, dann hat er den Schimpansen mit einem Biss in den Nacken oder in die Brust getötet. Das kann blitzartig gehen. Und dann werden die Schimpansen bei dem Toten bleiben bis zu sechs Stunden lang. Was dann sehr überraschend ist, ist, dass sie sehr viel ruhiger sind. Sie verlangen auch die Ruhe, das heißt, wenn ein neues Mitglied der Gemeinschaft dem Toten zu nahe kommt, wird er vom Ranghöchsten weggejagt. Wenn ein Baby zu nahe kommt, Babys wollen mit allem spielen, wird es auch von dem Toten weggejagt. Als würden sie denken, da sei was besonderes, muss man Ruhe wahren.
    Und in einigen Fällen haben sie auch den Körper bedeckt mit Ästen und Blättern. Mehr kann ich nicht sagen, das wäre wieder ein Anthropomorphismus. Ob sie absichtlich den Körper bedecken oder ob sie im Gegenteil die Reaktion vom Körper testen, indem sie Blätter oder Äste drauf werfen, weiß ich jetzt nicht. Aber es war einfach sehr auffallend, solch ein Verhalten in diesem Kontext zu sehen, das man normalerweise nie sieht.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.