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Kulturwissenschaftler Manfred Osten
"Gedächtnisinhalte können wir nicht herunterladen"

Digitale Medien verändern unser Verhältnis zu Information und Gedächtnis. Das Internet bringe uns Wissen in einer Menge, "für die wir in unserer neuronalen Architektur gar keine Kategorien haben", sagte der Kulturwissenschaftler Manfred Osten im Dlf. Er sieht drei große Chancen, dieser Überlastung zu trotzen.

Manfred Osten im Gespräch mit Manfred Götzke |
    Der Kulturhistoriker und Autor Manfred Osten, aufgenommen während der Aufzeichnung der ZDF-Talksendung "Nachtstudio.
    Der Kulturhistoriker und Autor Manfred Osten (picture alliance / ZB / Karlheinz Schindler)
    Manfred Götzke: Wir wollen jetzt über das Erinnern und Nicht-mehr-Erinnern, das Vergessen, sprechen. Ein Sujet, das auch schon Homer in seiner Odyssee beschäftigt hat:
    "Wer nun die Honigsüße der Lotosfrüchte gekostet, / Dieser dachte nicht mehr an Kundschaft oder an Heimkehr . . . / Aber ich zog mit Gewalt die Weinenden wieder ans Ufer, / Warf sie unter die Bänke der Schiff' und band sie mit Seilen. / . . . Dass man nicht, vom Lotos gereizt, die Heimat vergäße."
    Bei Homer sind es die Lotosfrüchte, die den Gefährten in einem kollektiven Drogenrausch fast das Gedächtnis kosten. Die Lotusfrüchte unserer Zeit, die tragen wir den ganzen Tag mit uns herum, unsere Smartphones die uns fast alles sagen können, an das wir uns nicht mehr erinnern, oder was wir nie selbst abgespeichert haben. Was macht diese Auslagerung unseres Gedächtnisses ins Netz mit uns, was bedeutet es für unsere Kulturelle Identität, für unser Kulturelles Erbe, das wir anders erinnern? Darüber hat sich der Kulturwissenschaftler Manfred Osten in seinem Essay "Das geraubte Gedächtnis" Gedanken gemacht und mit ihm möchte ich sprechen im Rahmen unserer Adventsreihe "Unsere Wurzeln, unser Erbe". - Herr Osten, was ist ihre erste Erinnerung?
    Manfred Osten: Meine erste Erinnerung ist eine Erinnerung, die zusammenhängt mit der Musik. Ich höre in einem Zustand des Halbschlafs aus dem Kinderzimmer im Nebenzimmer, dass meine Mutter auf einem alten Tafelklavier eine Melodie aus Flotows Oper - oder Operette ist es, glaube ich - Regimentstochter spielt. Das ist für mich ein entscheidender Augenblick geworden für mein Dasein, weil ich Musik bis zum heutigen Tage als eine der wichtigsten Quellen meines Glücks betrachte.
    Götzke: Sind wir heute dabei, unsere Erinnerung und auch unser kulturelles Erbe im Netz zu verspielen?
    Osten: Ja. Ich denke, die Gefahr besteht zumindest. Das Problem besteht darin, dass auch für das Gedächtnis das Wort Nietzsches gilt: "Die Erde ist ein asketischer Stern." Nietzsche war ja Althistoriker, wusste, dass das Wort Askese aus dem griechischen Wort askeín kommt. Das heißt üben – üben, üben, üben. Auch für das Gedächtnis gilt, was wir für den Körper wissen: Ein Muskel, 24 Stunden nicht geübt, atrophiert um 20 Prozent. Das ist inzwischen das Problem, vor dem wir stehen, dass wir eigentlich heute auf einen falschen Trainer gesetzt haben, denn wir haben einen Trainer, der uns nicht sagt, zu üben, sondern der eher uns ermuntert, uns zu verlassen auf die digitalen Speicher, und das ist das Problem, vor dem wir heute stehen.
    Gedächtniskultur beruht auf Übung
    Götzke: Sie beklagen in Ihrem Buch – ich zitiere Sie da mal – ein "Vergessen im Zeichen eines, alle Lebensbereiche erfassenden radikalen Prozesses der Modernisierung". Warum sind für Sie ausgerechnet die digitalen Systeme, das Netz da so entscheidend für die Zerstörung auch unserer Erinnerungskultur?
    Osten: Ich denke, dass wir natürlich die großen Vorteile der digitalen Revolution im Auge behalten müssen. Aber das Problem ist, dass wir dort einen, wie ich schon sagte, falschen Trainer haben, was zumindest die Gedächtniskultur betrifft. Und wir brauchen diese Gedächtniskultur, die auf Übung beruht, weil wir im Grunde mit der kulturellen Evolution das brauchen, was man Identität nennt. Und Identität, das ist das, was Kierkegaard auf die Formel gebracht hat, das Leben wird eben nicht nur nach vorwärts gelebt, was wir ja ununterbrochen tun, sondern auch nach rückwärts verstanden. Und das ist das Problem, dass wir dafür Restbestände an Gedächtnis brauchen, und das ist das eigentliche Problem, vor dem wir heute stehen, dass wir auf dem Wege sind, auch in unserem gesamten Bildungssystem eigentlich so etwas zu betreiben wie Bologna-Prozess, beschleunigter Erwerb von Zukunftskompetenz ohne Herkunftskenntnisse. Das heißt, wir sind Historiker bereits, wenn wir die Tageszeitung von gestern gelesen haben.
    Götzke: Nun ist es aber gar nicht unbedingt ausgemacht, dass der Einzelne heute weniger erinnert, weniger weiß, als die Menschen vielleicht im 19. oder 20. Jahrhundert. Sehr wahrscheinlich ist aber, dass die Basis des geteilten Erinnerns, auch des Wissens schmaler geworden ist, oder?
    Osten: Ja. Das Problem ist ja längst neurowissenschaftlich untersucht worden. Vor allen Dingen in den USA hat man bereits festgestellt, dass wir enorme Defizite haben in der Kreativitätskompetenz, wenn wir nicht mehr uns erinnern an das, was eigentlich schon vorher geschaffen worden ist und darauf aufbauend, die Zukunft aus der Herkunft herleitend. Das gehört auch mit zu den Notwendigkeiten der kulturellen Evolution, dass wir ein Gedächtnis haben müssen, um den Fortschritt zu entwickeln. Ich denke, das ist das Problem, vor dem wir grundsätzlich heute stehen, dass wir letztlich auch Urteilskraft nur gewinnen können durch Gedächtnis. Das heißt, Qualitäts- und Selektionskompetenz gewinnen wir nur, wenn wir die Gedächtnisinhalte im Kopf haben. Wir können sie nicht herunterladen. Das ist das Problem, vor dem wir heute stehen.
    Wissensunterschied der Generationen wird größer
    Götzke: Aber ist das nicht ein bisschen auch Kulturpessimismus? Schon Platon hat ja gesagt, er hat der Schrift misstraut, weil sie das Vergessen befördere. Das ist ein altes Thema.
    Osten: Ja. Ich glaube, für diesen Kulturpessimismus gilt der Satz von Karl Kraus, der ja gesagt hat, "Optimismus ist nichts anderes als ein Mangel an Information". Und das Problem besteht ja heute tatsächlich darin, dass zunehmend Inhalte verloren gehen, bei denen wir auch im Gespräch zunehmend Alltagsprobleme haben zwischen den Generationen, dass Dinge noch gespeichert sind im Gedächtnis der älteren Generation, die die jüngere Generation nicht mehr versteht. Damit ist auch der Dialog der Generationen ein Problem geworden.
    Götzke: War der nicht immer ein Problem?
    Osten: Ich denke, das ist ein Problem, das sich grundsätzlich ergibt. Aber dieser Prozess beschleunigt sich. Das ist das Neue durch die digitale Revolution und das ist eine Beschleunigung, die enorm viel größer ist als in vergangenen Generationen, vermute ich.
    Götzke: Sie beklagen ja den Mangel oder das Verschwinden einer gemeinsamen kulturellen Identität. Könnte man nicht auch sagen, es gibt heute in Deutschland oder auch in Europa in unserer Gesellschaft einfach viele kulturelle Identitäten, die nebeneinander her existieren?
    Osten: Oh ja! Ich denke schon, dass wir heute vor allen Dingen durch die Migrationskrise, in der wir heute stehen, in einer Fülle von Identitäten leben und dass wir zunehmend die Frage überhaupt stellen, was ist eigentlich mit unserer eigenen Identität. Das heißt, woraus lässt sich die ableiten. Das Problem ist ja schon ganz früh erkannt worden. Diese Erosion der eigenen Identität beginnt ja im Grunde bereits mit der Französischen Revolution, wenn Sie daran denken, dass dort damals der gregorianische Kalender abgeschafft worden ist und damit die gesamte Gedächtniskultur des christlichen Abendlandes im Grunde abgeschafft worden ist. Ich glaube, das Problem ist dann weiter akut geblieben. Auch im 19. Jahrhundert hat bereits Nietzsche darauf hingewiesen, dass wir auf dem Wege sind, praktisch uns nur noch zu statuieren als gedächtnislose Legionäre des Augenblicks.
    Mit Urteilskraft gegen Informations-Überforderung
    Götzke: Ist dieses Problem nicht umso größer geworden, nicht nur wegen der digitalen Revolution, sondern auch, weil wir heute viel mehr wissen müssen, weil viel mehr Neues in jedem Jahr entsteht?
    Osten: Ich glaube, das ist das zentrale Problem, dass wir immer mehr wissen müssen. Das hängt mit der digitalen Revolution zusammen. Aber wir stehen andererseits vor dem enormen Problem einer informativen Überforderung, und der können wir nur begegnen, indem wir Urteilskraft entwickeln durch Gedächtnis und dann aus dem Gedächtnis im Grunde Qualitäts- und Selektionskompetenz gewinnen.
    Götzke: Nun könnte man das Netz genau anders herum als kollektives Gedächtnis unserer Zeit interpretieren. Alles ist für alle vorhanden jederzeit abrufbar und nicht nur für diejenigen, die eine Bibliothek oder ein Museum besuchen – also eigentlich eine Demokratisierung des kollektiven Gedächtnisses.
    Osten: Das ist ganz zweifellos der Fall. Aber das Problem besteht darin, wie man damit umzugehen hat, denn wir müssen im Grunde Selektionskriterien in uns selber entwickeln, um damit umgehen zu können, und das sind ja die eigentlichen Probleme. Es geht ja nicht darum, nur Schulen ans Netz zu fordern, sondern auch Kompetenzen auf Seiten der Lehrkräfte zu entwickeln, die für den Umgang mit dieser Überfülle der Informationen und vor allen Dingen auch der Kontrolle der Informationen wichtig sind. Denn wir stehen ja vor dem Problem, dass diese Inhalte zum Teil einfach zentral gesteuert werden und vorgegeben werden können, ohne dass wir sie im Einzelnen überprüfen. Das heißt, die Fähigkeit, die dargereichten Memorabilien zu prüfen, das ist nur möglich, wenn wir selber Qualitäts- und Selektionskriterien und eine wirkliche Urteilskraft entwickeln auf der Basis von Gedächtnis.
    Götzke: Und das findet nicht statt in der Schule, in den Bildungssystemen?
    Osten: In einem zunehmenden Maße. Sie haben das vielleicht gelesen, den Bericht über die Lesekompetenz. Jeder fünfte von uns, von den Kindern, hat keine Lesekompetenz. Auch das muss man ernst nehmen und darf das nicht einfach unter den Tisch bügeln.
    Götzke: Ihr Buch, das die Basis unseres Gespräches ist, ist von 2004, einer Zeit, in der es weder Social Media, soziale Medien gab, noch das Phänomen der Filterblasen, dass Menschen in den sozialen Medien nur die Informationen wahrnehmen, die ihrem Weltbild entsprechen. Hat das Problem, über das wir reden, jetzt vielleicht sogar noch eine größere, eine andere Dimension, weder kollektives Gedächtnis, weder kollektives Erinnern, noch ein kollektives Wahrnehmen der Realitäten in unserer Gesellschaft?
    "Dort, wo das Interesse ist, ist auch das Gedächtnis"
    Osten: Ich glaube, das Problem besteht darin, dass wir heute konfrontiert sind mit Formen, die wir in dieser Weise überhaupt noch gar nicht überblicken. Die digitale Revolution hat es geschafft, dass im Grunde die sogenannten Anschauungsformen, wie Kant sie formuliert hat, nämlich die Anschauungsformen des Raumes und der Zeit, vollständig entgrenzt worden sind, und zwar in die Grenzenlosigkeit einerseits und in die Simultanität, in die Gleichzeitigkeit. Das sind Dimensionen, für die wir in unserer neuronalen Architektur gar keine Kategorien haben.
    Das Problem besteht auch emotional. Wir sind im Grunde eingerichtet, wie die Neurowissenschaften herausbekommen haben, auf Empathiegrenzen, die etwa bei 150 Personen liegen. Das heißt, wir sind konfrontiert mit einem Medium, wo wir möglicherweise durch epigenetische Formungen genetisch nach uns nach uns irgendwie kompetenter erweisen. Aber im Augenblick stehen wir vor dem Problem, dass neuronal hier die Kompetenz nicht vorhanden ist, die kognitive Kompetenz, vor allen Dingen mit den hoch komplexen, nicht linearen Prozessen umzugehen, die seit der digitalen Revolution möglich sind.
    Götzke: Sehen Sie noch eine Chance für die Erinnerungskultur?
    Osten: Die Erinnerungskultur hat drei große Möglichkeiten, um gestärkt zu werden. Das eine ist das uralte Gesetz der Wiederholung. Das andere ist das Gesetz des Interesses, dass wir durch die Neurowissenschaften wissen: Dort, wo das Interesse ist, ist auch das Gedächtnis. Und da unsere gesamte Bildungspolitik nicht auf dem Interesse aufbaut, sondern auf der Vermittlung abstrakten Wissens, müssten wir hier umdenken, dass wir viel stärker interessebezogen lernen, weil damit wiederum Langzeit-Engramme geschaffen werden, Gedächtnis-Engramme. Und wir sollten vor allen Dingen die Handschrift wieder ein bisschen einführen. Wir wissen heute durch die Neurowissenschaften, dass durch die Bewegung der Hand das Bewegungszentrum aktiviert wird und darüber allein erst Langzeit-Gedächtnis-Engramme entstehen.
    Götzke: Herr Osten, ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch.
    Osten: Ich danke Ihnen auch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.