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Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal
"Die Supermarkt-Verkäuferin fühlt sich vom Mainstream-Feminismus nicht repräsentiert"

Die Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal warnt vor einer zu eingeschränkten Definition von Feminismus. Es sei gefährlich, bestimmte Themen zu übersehen - dann hätten rechte Politiker wie Marine Le Pen die Möglichkeit, "viele Frauenstimmen abzugreifen", sagte Sanyal im DLF.

Mithu Sanyal im Gespräch mit Mascha Drost |
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    Die Kulturwissenschaftlerin, Journalistin und Autorin Mithu Sanyal auf dem Blauen Sofa auf der Frankfurter Buchmesse 2016 (imago / Manfred Segerer)
    Mascha Drost: Es war ein Vorschlag zu einem brisanten Thema mit großem Widerspruchspotenzial, aber es war dennoch nur ein Vorschlag. Der Vorschlag, den die Autorin und Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal mittels eines Artikels in der "taz" in die Öffentlichkeit gebracht hat, ist, das Wort "Vergewaltigungsopfer" zu ersetzen mit "Erlebende sexualisierter Gewalt". Und bevor jetzt die Emotionen hochkochen: Mithu Sanyal hat keine grundsätzliche Umbenennung gefordert, sondern eine Alternative aufzeigen wollen in Fällen, in denen Frauen oder Männer das Wort "Opfer" für sich ablehnen.
    "Erlebende" – diese Konstruktion ist allerdings nicht nur grammatikalisch fragwürdig, sondern auch im Hinblick dessen, ob es nicht verharmlosend wirkt. Der Vorschlag bietet reichlich Stoff für Diskussionen und Widerspruch, und die gab es auch konstruktiv in Form von Repliken oder Artikeln in Zeitungen, und es gab ihn in Form von offen zur Schau getragener Gegnerschaft. Ganz abgesehen von üblen justiziablen Beschimpfungen und Drohbriefen waren es aber auch feministische Netzwerke, die sich massiv gegen Sanyal positionierten. Und wer hier gegen wen kämpft und wer auf welcher Seite steht, ist in diesem feministischen Kampfgetümmel kaum mehr auszumachen.
    Nicht alle für eine, sondern jede gegen jede – ist das etwas, was den Feminismus von heute leider kennzeichnet? Das habe ich vor der Sendung Mithu Sanyal gefragt.
    "Neben dem Shitstorm gab es auch wirklich mal einen Lovestorm"
    Mithu Sanyal: Ich habe eher das Gefühl, es ist umgekehrt, weil, was bei diesem Shitstorm ja sehr auffällig war, dass sofort Unterstützerinnen, die ich zum größten Teil gar nicht kannte, Menschen, mit denen ich nie gesprochen habe, sich für mich positioniert haben, dass es neben dem Shitstorm auch wirklich noch mal einen Lovestorm gab. Wir sagen immer, alle linken Bewegungen zerstreiten sich und das erste, das sie machen, ist, sich zu spalten, und dieses Mal habe ich das Gefühl, dass die Solidarität aber eigentlich die wichtigere Macht darin war.
    Drost: Aber trotzdem ist es doch auffällig, dass viel zu wenig an einem Strang gezogen wird und viel Energie in Kämpfe untereinander gesteckt wird. Da kämpfen die jungen gegen die alten, die Netzfeministinnen gegen vielleicht die Althergebrachten. Ist der Kampf um die Deutungshoheit ebenso wichtig wie der Kampf um bessere Bedingungen?
    "Sprache ist kein Nebenschauplatz"
    Sanyal: Ich glaube, das Stichwort ist wirklich Deutungshoheit. Ich habe ja über Sprache geredet und plötzlich merken wir alle, es geht ans Eingemachte. Es geht natürlich um erkämpfte Werte, und ein Wort wie Opfer ist benutzt worden, um auch Inhalte durchzubringen, um wirklich politische Forderungen zu rechtfertigen. Deshalb merken wir, Sprache ist kein Nebenschauplatz, sondern Sprache ist ein ganz wichtiger Schauplatz.
    Was mich immer ein bisschen traurig macht, ist, bloß weil mich Menschen, die unter anderem auch Feministinnen sind, angreifen. Unser Streitpunkt ist nicht, dass die auch Feministinnen sind, sondern dass die einen Strang des Feminismus vertreten, womit ich manchmal Schwierigkeiten habe, weil es kam viel Kritik aus der Seite der "Emma". Die "Emma" hat ganz große Probleme zum Beispiel mit muslimischen Frauen und so weiter, mit dem Kopftuch. Und, dass mir dann auch zum Beispiel vorgeworfen wurde, ich würde die Übergriffe an Silvester nicht ernst nehmen, was ich total mache. Ich nehme das extrem ernst, aber deshalb möchte ich es differenziert betrachten.
    Der andere Vorwurf war immer, ich bin nicht radikal genug den Männern gegenüber, weil ich zum Beispiel auch sage, natürlich werden auch Männer Opfer von Vergewaltigungen. Das wissen wir inzwischen. Das ist ein ganz großer Kritikpunkt. Müssen wir jetzt sagen, wir sind die einzigen Opfer, um Hilfe zu bekommen? Ich würde sagen, nein! Allianzen sind ganz, ganz wichtig und Zusammenarbeit ist ganz wichtig.
    Drost: Kann man das jetzt ein bisschen zugespitzt sagen, dass der Feminismus heutzutage auch Opfer einer immer stärkeren Individualisierung geworden ist, oder Spezifizierung?
    "Es gab schon immer viele Feminismen"
    Sanyal: Ich glaube, das war immer so, und wir merken es durch die sozialen Medien und so weiter.
    Drost: Aber war das tatsächlich immer so? Sagen wir mal, der Feminismus in den 60er-, 70er-Jahren.
    Sanyal: Ja, ja! Es fing wirklich damit an, dass die zweite Welle der Frauenbewegung in den 60er-Jahren gesagt hat, Geschlecht ist die erste Unterdrückungskategorie, und dann haben schwarze Frauen in Amerika gesagt, was ist denn mit "Race". Und da gab es dann große Auseinandersetzungen. Ich glaube, Ellis Vogue hat gesagt, lasst es uns Womanismus nennen, lasst uns einen zweiten Feminismus machen, das ist der schwarze Feminismus, und das übersehen wir heute ein bisschen aus der historischen Perspektive. Aber es gab schon immer viele Feminismen und das ist wichtig, denn ich glaube, es ist auch wichtig in einer Demokratie, dass wir unterschiedliche Positionen haben. Nur was daran schwierig ist, dass eine Position sagt, das ist die einzig richtige, und das kann nicht sein.
    Drost: Die Vielfältigkeit des Feminismus, das könnte natürlich auch eine ungeheure Stärke sein, denn eine Frau, die, sagen wir mal, in der Chefetage an die gläserne Decke stößt, und ein Mädchen, das von den Eltern vom Schwimmunterricht abgehalten wird, das sind ja ganz verschiedene Sachen, für die Sie sich einsetzen könnten. Warum wird diese Stärke nicht mehr betont?
    "Es wird übersehen, wie häufig es gut läuft"
    Sanyal: Wird sie ja auch. Das wird ja immer ein bisschen übersehen, wenn es irgendwo Konflikte gibt, wie häufig es gut läuft, wie häufig es auch wirklich intersektional läuft, und dass die Feminismen im Moment zum Beispiel auch im Kampf gegen Trump die ersten waren, die es geschafft haben, diese Massenorganisationen, diese Massendemonstrationen auch zu organisieren, auch über die politischen Lager hinweg. All das gibt es. Streitkultur ist wichtig, aber wir müssen alle konstruktiv miteinander streiten lernen, und da ist das Internet ein ganz schwieriger Platz. Wir wissen ja, die Hemmschwelle sinkt. Ich habe ja gemerkt, die Leute, die auf Facebook oder auf Twitter Kommentare geschrieben haben, waren verletzend. Die Leute, die mich angerufen haben, waren noch mal ein bisschen unverschämter. Und die Leute, die mir E-Mails geschrieben haben, die waren dann wirklich justiziabel: Du sollst von zehn ungewaschenen Migranten vergewaltigt werden und ich erkläre ihnen auch genau, wie das aussehen soll. Das machen Leute am Telefon nicht. Die Hemmschwellen liegen anders.
    Drost: Den Diskurs in der feministischen Szene konstruktiver zu gestalten, wie könnte das aussehen? Wie könnte eine mögliche Lösung aussehen?
    "In gewisser Form danke an alle Hate-Mailer"
    Sanyal: Die Sonja Dolinsek hat einen wunderbaren Vorschlag dafür gemacht. Die hat den Brief, den die Störenfridas geschrieben haben, so geschrieben, wie er hätte konstruktiv laufen sollen. Die ist inhaltlich nicht mit denen in irgendeiner Form d'accord, aber die sagt okay, wenn die die und die Inhalte haben, wie können wir das kommunizieren. Und die hat auch irgendwie das dann unterschrieben mit "die Solidaritätsfridas". Sie hat einen eigenen Twitter-Account, glaube ich, dafür angemeldet, was ich hervorragend finde. Die sagt: Ja, wir nutzen es füreinander. Was man positiverweise aber sagen muss ist, dass der Artikel in der "taz", der ursprüngliche Artikel, überhaupt nicht so breit debattiert wurde. Dadurch, dass es in der Öffentlichkeit ist, reden alle darüber. Ich wäre auch nicht hier, wenn es diesen Shitstorm nicht gegeben hätte. Wir nehmen die Themen jetzt dadurch auch ernst. In gewisser Form danke an alle Hate-Mailer. Ihr habt eine wichtige Debatte in die Öffentlichkeit gebracht. Aber die hören wahrscheinlich gar nicht Deutschlandfunk.
    Drost: Was ist eigentlich gefährlicher für den Feminismus, zum Schluss, die Selbstzerfleischung, oder die Frauen, die meinten, sie bräuchten ihn gar nicht?
    "Wir müssen uns gegenseitig Kraft geben"
    Sanyal: Ich glaube, was richtig, richtig gefährlich ist, das ist, dass wir bestimmte Themen übersehen oder nicht genügend berücksichtigen, weshalb dann rechte Leute wie Marine Le Pen die Möglichkeit haben, ganz viele Frauenstimmen abzugreifen, weil sich die Verkäuferin an der Kasse im Supermarkt häufig vom Mainstream-Feminismus nicht repräsentiert fühlt. Ich glaube, da ist es ganz wichtig: Wir müssen intersektional denken, wir müssen Rassismus - ganz wichtig - mit reinnehmen. Es wird ja gerade Frauenrechte und Migrationsrechte gegeneinander ausgespielt. Wir dürfen es nicht gegeneinander ausspielen lassen, um unsere Stärken, nämlich uns für die Menschen, die benachteiligt sind, einzusetzen und uns gegenseitig Kraft zu geben, um die auszubauen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.