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Kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung

Aleida Assmann plädiert dafür, dass aus der europäischen Schicksalsgemeinschaft eine Erinnerungsgemeinschaft wird. In "Der lange Schatten der Vergangenheit" geht es um die verschiedenen Formen der individuellen und kollektiven Erinnerung, der psychischen und gesellschaftlichen Dynamik dieser Prozesse und um die Systematisierung zu einer internationalen kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung.

Von Hans-Jürgen Heinrichs |
    "Wir spüren nichts. Die Zeit des emotionalen 'Gedenkens' [der Opfer des Nationalsozialismus] ist unwiderruflich vorbei."

    Die in Konstanz lehrende Literaturwissenschaftlerin und Anglistin Aleida Assmann setzt sich mit solchen Bekenntnissen der jüngeren Generation kritisch auseinander und skizziert ein sehr differenziertes Gegenbild: In den letzten zwei Jahrzehnten, schreibt sie, ist eine Art "Erinnerungslandschaft” entstanden, die in den westlichen Staaten einen gemeinsamen historischen Bezugspunkt etabliert hat. Die Erinnerung an das politische Geschehen hängt heute nicht mehr nur vom individuellen Gedächtnis ab, sondern ist in ein langfristiges kulturelles Gedächtnis übergegangen. Hat sich dabei die Emotionalität, das Mit-Leiden aufgelöst und ist die singuläre Erinnerung in eine abstrakte Geschichtsschreibung und Geschichtspolitik übergegangen? Aleida Assmann teilt diese Sorge nicht. In ihrem Verständnis ist die "heiße Zone der Erinnerung” nicht erkaltet.

    "Indem diese Geschichte aus der ausschließlich professionellen Zuständigkeit der Historiker herausgetreten ist und zunehmend auch in Mediendebatten und Ausstellungen, Autobiographien und Familienromanen, Videozeugnissen und Installationen sowie Doku-Shows und Spielfilmen verhandelt wird, ist es zu einer ungekannten Emotionalisierung der Geschichte gekommen."

    Es ist allerdings die Frage, ob diese Emotionalisierung tatsächlich mit einer individuellen emotionalen Erinnerung zu vergleichen ist. Können der Zuschauer und der Leser solcher medial inszenierten Geschehnisse zu den traumatischen Erfahrungen der Holocaust-Opfer einerseits und der deutschen Vertriebenen andererseits wirklich eine tiefe emotionale Beziehung herstellen?

    Von Aleida Assmann werden alle Fragen der individuellen Erinnerung, des kulturellen Gedächtnisses und der "Mnemohistory” (oder Gedächtnisgeschichte) gerade auch auf die psychischen Prozesse hin gründlich erörtert, so dass sie sich der Fragwürdigkeit der heutigen medialen Emotionalisierung bewusst sein muss. Von ihrem Mann, dem bekannten Ägyptologen Jan Assmann, mit dem zusammen sie auch zu dieser Thematik geforscht hat, stammt der in dieser Hinsicht äußerst aufschlussreiche Vergleich der geschichtlichen Erinnerung mit der Archäologie. Als Archäologen müssen wir uns betätigen, wenn wir uns an das erinnern wollen, was aus dem aktuellen "Speicher” herausgefallen ist. Vieles ist im kulturellen Gedächtnis nicht gelöscht, ist aber gleichsam verworfen und muss erst wieder zugänglich gemacht werden. So erschließt man sich, zum Beispiel in Bezug auf die deutsche Vergangenheit, Verschüttetes, Verdrängtes: das Unbewusste einer ganzen Kultur und Nation kann Schritt für Schritt dem Vergessen entrissen werden.

    In seinem letzten Buch (""Thomas Mann und Ägypten"") zitiert er Thomas Manns metaphorische Umschreibung der Vergangenheit als eines tiefen, ja unergründlichen Brunnens, und Aleida Assmann verweist in ihrer grundlegenden Arbeit von 1999 ("Erinnerungsräume") auf die unterschiedlichsten Deutungen der Vergangenheit als einer freien Konstruktion aus der Sicht der jeweiligen Gegenwart oder aber, gerade gegenteilig, auf die Macht der Vergangenheit, die unsere Gegenwart (jenseits subjektiver Verfügbarkeit) prägt: In ihrem neuen Buch wird deutlich, wie stark sie das Prozesshafte der Erinnerung betont. Dies zeigen zum Beispiel ihre Überlegungen zur Schwierigkeit des Erinnerns, wenn dieses traumatisch dominiert und nicht heldisch überhöht ist.

    "So leicht es ist, sich der Gewalt und der Verluste im Modus des heroischen Opfers zu erinnern, so unmöglich ist dies im Modus des traumatischen Opfers. [...] Traumatische Erfahrungen von Leid und Scham finden nur schwer Einlaß ins Gedächtnis, weil diese nicht in ein positives individuelles oder kollektives Selbstbild integriert werden können."

    Nach Aleida Assmann befinden wir uns in einem "posttraumatischen Zeitalter”, in dem das Erinnern mehr und mehr von seiner Spontaneität verliert und Teil eines sozialen und kulturellen Verhaltens geworden ist. Der Begriff des "posttraumatischen Zeitalters” ist indes etwas irreführend, da die augenblicklichen weltweiten Traumatisierungen durch die großen Kriegsherde etwa im Nahen und Mittleren Osten, durch die Folgen der gewaltigen Migrationsbewegungen, der ökologischen Katastrophen, der Völkermorde und alltäglicher Gewalt nicht hoch genug einzuschätzen sind.

    "Das Thema dieses Buches ist [...] die Dynamik individueller und kollektiver Erinnerung 'im Schatten' einer traumatischen Vergangenheit. Erinnerungen existieren nicht als geschlossene Systeme, sondern berühren, verstärken, kreuzen, modifizieren, polarisieren sich in der gesellschaftlichen Realität immer schon mit anderen Erinnerungen und Impulsen des Vergessens."

    Wie auch schon in ihren früheren Arbeiten - vor allem in der jetzt neu aufgelegten, bereits angesprochenen Studie "Erinnerungsräume" - geht es Aleida Assmann um die verschiedenen Formen und Wandlungen der individuellen und kollektiven Erinnerung, der psychischen und gesellschaftlichen Dynamik dieser Prozesse und um die Systematisierung zu einer internationalen kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung. Dabei gelingen ihr grundsätzliche Bestimmungen von Begriffen, die wir oft nur klischeehaft verwenden, zum Beispiel Opfer, Täter und Kollektivschuld. Und sie differenziert neue richtungsweisende Begriffe wie individuelles, soziales, kulturelles und kollektives Gedächtnis, Speichergedächtnis und Funktionsgedächtnis.

    "Was von einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt ausgeblendet, abgewiesen, ausgemustert oder verworfen ist, muss noch nicht gänzlich verloren/vergessen sein: es kann in materiellen Spuren gesammelt, aufbewahrt und einer späteren Epoche zugeführt werden, in der es neu entdeckt und gedeutet wird."

    Sich erinnernde Zeitzeugen des Holocaust wird es dabei schon in einigen Jahren nicht mehr geben. Das Ende dieses Erfahrungsgedächtnisses ist also absehbar. Fraglich ist, ob die gegenwärtig aktuellen Traumatisierungen in einer globalen Welt nicht auch Aleida Assmanns Grundthese von der normierenden Kraft des Holocaust in Frage stellen werden:

    "Die Norm des nationalen Gedächtnisses der Deutschen ist der Holocaust, die Anerkennung und Aufarbeitung der deutschen Schuld sowie die historische Verantwortung für die Greueltaten des NS-Regimes. Das ist der allgemeine Rahmen, in den alle Erinnerungsgeschichten einzugliedern sind."

    Aleida Assmann glaubt an die Stärkung eines gemeinsamen europäischen Erinnerungsraums und Wissens von uns selbst. Da sie ja selbst im Titel ihres Buches vom "Schatten der Vergangenheit” spricht, muss ihr auch klar sein, dass es sich bei der traumatisch besetzten Vergangenheit um ein Wissen und Fühlen handelt, das zumeist nur in individueller Trauerarbeit aus dem Schattendasein der von Leid erfüllten Lebensgeschichte befreit, erlöst werden kann. Sie bleibt in dieser Frage zu sehr in einem begriffsbestimmten Diskurs befangen und wählt zum Teil wenig hilfreiche metaphorische Umschreibungen wie zum Beispiel das "Zurückfluten der Erinnerung”. Es ist jedoch ein Fortschritt, dass sie in diese Bewusstseinsarbeit auch die Leidensgeschichte der deutschen Vertriebenen mit einbezieht.

    "Nachdem die jüdische Opfererfahrung im Gedächtnis der Deutschen verankert ist, können andere Leidensgeschichten in dieses Bild mit eingezeichnet werden, ohne das gesamte Gefüge zu verschieben. [...] Die Anerkennung der Deutschen als Opfer kann die Grundsituation der Deutschen als 'Volk der Täter' keineswegs schmälern oder gar außer Kraft setzen."

    Aleida Assmann versucht aus Sicht kulturwissenschaftlicher Gedächtnisforschung einen Weg zu beschreiten, der herausführt aus der Verdrängung des Leids deutscher Vertriebener einerseits oder dessen revisionistischer Geschichtsverzerrung andererseits.

    "Eine verbreitete und gänzlich unhaltbare Logik im Kampf der Erinnerungen ist die Aufrechnung. Man verwandelt dabei eine historische Situation in ein Nullsummenspiel, bei dem der Nachweis der Schuld des anderen die eigene Schuld automatisch mindert oder tilgt. In diesem argumentativen Wettstreit werden Erinnerungen zu Keulen, die man sich gegenseitig an den Kopf schlägt."

    Letztlich ist jedes Leid, das durch Vertreibung verursacht wird, für die Betroffenen unermesslich groß und einzigartig und lässt sich nie gegen anderes Leid und andere traumatische Erfahrungen aufrechnen. Gegen die Hierarchisierung von Opfern sollte sich die gegenseitige Anerkennung des erlittenen Leids durchsetzen. Aleida Assmann plädiert dafür, dass aus der europäischen Schicksalsgemeinschaft eine Erinnerungsgemeinschaft wird.